Heiterkeit im Hohen Hause: Welche Rolle das Lachen im Bundestag spielt

Die Süddeutsche Zeitung hat sich mit der AfD im Bundestag beschäftigt. Sie hat Zwischenrufe gezählt und bewertet und hat sich auch das Lachen der Abgeordneten angesehen – nicht nur das der AfD-Abgeordneten, sondern das aller. Wer lacht über wen und warum?

Dieser Frage, die nur einen Teil der Recherche ausmacht, bin ich schon vor zweieinhalb Jahren mal ausführlicher nachgegangen. Für SWR2 habe ich das Feature „Heiterkeit im Hohen Hause – Das Lachen in der Politik“ produziert.

Mein liebster Gesprächspartner dabei war Roger Willemsen, der sich im Jahr 2013 alle Bundestagssitzungen angeschaut hat und deshalb gut beurteilen konnte, welche Rolle das Lachen im Bundestag spielt. Er hat verschiedene Arten des Lachens erkannt und beurteilt. So sagte er zum Beispiel:

Wenn Volker Kauder am Pult steht und er muss beantworten, was die NSA alles abgehört hat nach den Edward-Snowden-Enthüllungen, und dann möchte ein Linksabgeordneter sagen, dass er hoch empört ist über das, was passiert, und dann antwortet Kauder: weil dem Gregor seins abgehört wird, und alles lacht. So mit den Rechten des Volkes umzugehen, das sich geschützt wissen will vor den Abhörinitiativen der Amerikaner, beweist eigentlich, dass man Schießübungen im Pantheon der Menschenrechte vornimmt, indem man mit solchen Rechten, solchen berechtigten Ansprüchen lachhaft umgeht, sie verlächerlicht, sie dem Lachen preisgibt, und dieses Lachen bliebe mir im Halse stecken.

Ich erkenne also Herrn Kauder in seinem Lachen in dem Augenblick besser als in seiner Rhetorik, und insofern muss ich das, was Sprache ist im Bundestag, weit über das, was gesagt wird, hinaus verlängern, und muss gucken: Welche Fraktionszugehörigkeit hat ein Applaus? Welche Vereinzelung haben bestimmte Applausgebärden? Was bedeutet ein Zwischenruf? Was bedeutet ein höhnisches Gelächter, ein Abwinken usf.

Grundsätzlich hat Willemsen damals beobachtet:

Das Lachen wird eingesetzt, um die Empörung des Gegenübers der Nichtigkeit zu überführen. Um zu sagen: Du beeindruckst mich nicht, deine Empörung bedeutet mir gar nichts. (…)

Es wird Humor im Bundestag auch eingesetzt als Zusatzstoff, sei es, um die Kollegen zu verlächerlichen, sei es, um Unterhalterqualitäten zu beweisen, und es gibt auch Reden, die fast nur noch von Humor zusammengehalten werden, wie zum Beispiel die Rede des Alterspräsidenten zur Eröffnung der neuen Legislaturperiode.

Das Schönste am Feature sind aber die vielen O-Töne aus sechs Jahrzehnten Bundestag, die ich habe finden können. Mit Franz Josef Strauß, Helmut Kohl, Herbert Wehner, Helmut Schmidt, Norbert Lammert, Gregor Gysi und vielen anderen.

„Die Welt“ nutzt Expertise von ARD-Experten, an deren Unabhängigkeit sie zweifelt

Es ist eine berechtigte Frage, die „Die Welt“ da heute stellt:

Die ARD hat ihre Experten für die Weltmeisterschaft in Russland vorgestellt. Drei von ihnen stehen auch beim Deutschen Fußball-Bund in Lohn und Brot. Können die wirklich objektiv sein?

Gemeint sind Philipp Lahm, Thomas Hitzlsperger und Stefan Kuntz, an deren unabhängigem Urteil zur deutschen Fußball-Nationalmannschaft Lars Wallrodt zweifelt:

Natürlich werden die drei nach bestem Wissen und Gewissen trennen zwischen ihren Verbandsverpflichtungen und ihrer Expertenexpertise. Doch die Frage muss schon gestattet sein, ob die drei tatsächlich mit der gebotenen Unabhängigkeit urteilen können – insbesondere, wenn es hart auf hart kommt und das deutsche Team wider Erwarten nicht brillieren sollte in Russland.

Andererseits ist sich „Die Welt“ aber auch nicht zu schade, die Expertise von zweien der drei zu nutzen. In einem Video auf der Seite  (gedreht vom Sport-Informations-Dienst SID) werden sie befragt.

Und was sagen sie so? Stefan Kuntz zum Beispiel:

Wir bekommen jetzt mit, wie akribisch das Team sich schon – nicht erst seit ein paar Monaten – schon über längere Zeit drauf vorbereitet; das ist schon beeindruckend. Insofern hab ich ein super Gefühl bei der deutschen Mannschaft

Total kritisch. Aber wenn es auf welt.de passiert statt in der ARD, ist das wohl okay.

 

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Freie bei den Öffentlich-Rechtlichen: Versteckte Opfer des Spardrucks

ARD, ZDF und das Deutschlandradio müssen neue Sparvorschläge machen. Die Ministerpräsidenten wollen den Rundfunkbeitrag möglichst nicht oder nur gering anheben. Sollte der Spardruck steigen, könnten vor allem die freien Mitarbeiter der Sender darunter leiden. Darüber berichte ich heute bei @mediasres im Deutschlandfunk.

Intendant von Radio Bremen wirft Verlagen Propaganda vor

Der Intendant von Radio Bremen, Jan Metzger, hat Verlagen vorgeworfen, ihre Zeitungen propagandistisch gegen die öffentlich-rechtlichen Sender zu nutzen. Bei einem Kongress freier Rundfunkmitarbeiter in Bremen sagte er, was auf deren Medienseiten passiere, habe streckenweise nichts mehr mit Journalismus zu tun, sondern sei Verlagspropaganda.

Metzger räumte ein, dass die öffentlich-rechtlichen Sender nicht gut darin seien, offensiv für sich zu werben – vor allem in den eigenen Prorgammen. „Versuchen Sie mal, auch nur eine bedeutende Unternehmensnachricht in der Tagesschau unterzubringen, da scheitern Sie am orthodoxen Verständnis der Kolleginnen und Kollegen, was den Nachrichtenwert von solchen Dingen angeht“, sagte Metzger. So wie die Verlage wolle man aber auch nicht arbeiten. „Wir haben nicht dieselbe propagandistische Power und Skrupellosigkeit, die die Verleger haben.“

Das Zitat im Wortlaut:

„Wir sind in der Selbstdarstellung nicht besonders gut, um es freundlich zu sagen. Wir sind gerade dabei, uns ein bisschen zusammenzuraufen, mal über uns selbst zu reden, aber versuchen Sie mal, auch nur eine bedeutende Unternehmensnachricht in der Tagesschau unterzubringen, da scheitern Sie am orthodoxen Verständnis der Kolleginnen und Kollegen, was den Nachrichtenwert von solchen Dingen angeht, also beschränkt sich die Sache am Ende auf Zapp.

Wir haben nicht dieselben Plattformen wie die Zeitungsverleger, die diese in der Tat propagandistisch nutzen. Das ist eine meiner größten Auseinandersetzungen auch mit befreundeten Kollegen in Zeitungsverlagen, dass ich der Ansicht bin, dass, was auf den Medienseiten passiert, streckenweise mit Journalismus nichts mehr zu tun hat, sondern das ist Verlagspropaganda. Da kann man sich toll drüber fetzen. Aber erstens wollen wir so nicht arbeiten, und zweitens können wir so nicht arbeiten.

Das, was wir gerade noch hinkriegen, das ist das, was Herr Wilhelm (Intendant des Bayerischen Rundfunks und ARD-Vorsitzender, SF) im Moment macht, zu sagen: Leute, die Teuerung ist so, und unsere Mehreinnahmen sind anders, und deswegen: Wir schrumpfen schon die ganze Zeit. Ich meine, wir in Bremen können seit 15 Jahren da ein Lied von singen, andere haben das Sparen gerade erst kürzlich entdeckt und jammern umso mehr. Das hört man schon, aber wir haben nicht dieselbe propagandistische Power und Skrupellosigkeit, die die Verleger haben. Das geht uns ab.

Wir werden jetzt im Sommer ne Public-Value-Kampagne machen, das kommt bei uns immer so vornehm daher, und ist der Versuch, dem was entgegenzusetzen. Ich würde mir auch manchmal wünschen, dass das anders wäre, aber Holzen im eigenen Interesse gehört nicht zu unseren großen Fähigkeiten.“

Den Interviewpartner hörbar ins Schwitzen gebracht – die Vorzüge eines Radiointerviews

Das Radio lebt vom gesprochenen Wort. Vor allem ist es lebendig – oft lebendiger als Gedrucktes, weil hier Menschen direkt miteinander sprechen und nicht nur rüberkommt, was sie sagen, sondern auch, wie.

Gestern konnte man gut beobachten, was der Unterschied ist, weil da gleich zwei Interviews mit demselben Interviewpartner veröffentlicht wurden. Das eine bei @mediasres im Deutschlandfunk, für das ich auch arbeite, das andere bei Übermedien. In beiden Fällen wurde Bernhard Holfeld befragt, der Programmdirektor von MDR Sachsen. Es ging um die als rassistisch kritisierte Ankündigung einer Gesprächssendung im MDR-Radio, die Holfeld teilweise verteidigte.

Als ich mir das Übermedien-Interview durchgelesen habe, habe ich einen relativ aufgeräumten Programmdirektor wahrgenommen. Er hat sich zwar gewunden, sich klar von dem Text und der Intention der Sendung zu distanzieren, aber auch durch wiederholte Nachfragen scheint er nicht aus der Ruhe gebracht worden zu sein. Das lag aber offenbar vor allem an der Textform, die fast alles ausblendet, was so ein Gespräch noch so mit sich bringt: Zögern, längere Pausen, eine unsichere Stimme, Ähms, abgebrochene Sätze, ungeschickte Formulierungen usw.

Das ist der immanente Nachteil solcher Interviews, die später nur im Wortlaut wiedergegeben werden (gedruckt bzw. online). Im schriftlichen Text kommen alle die genannten Elemente (u.a. Prosodie) nicht rüber oder können nur unzureichend wiedergegeben werden. Der fragende Journalist kann zwar „lacht“ reinschreiben, aber so etwas wie „lacht unsicher“, „zögert länger“ oder „Stimme zittert“ beruht auf der eigenen Wahrnehmung und Interpretation und kann daher nicht als so zuverlässig richtig notiert werden wie das, was gesagt worden ist.

Das kann man beim Hörfunkinterview aber glücklicherweise dem Zuhörer überlassen. Dieser erlebt Bernhard Holfeld im Deutschlandfunk-Interview möglicherweise anders. Um von mir zu sprechen: Ich höre ihn anfangs im Hintergrund rascheln, was ich als Nervosität oder Unruhe interpretiere. Ich höre, wie er immer wieder „Ähm“ sagt – nicht nur bei seinen Antworten, sondern auch während ihm Fragen gestellt werden. Ich höre, wie er versucht auszuweichen, woraufhin Moderator Sebastian Wellendorf immer wieder nachfasst. Ich höre, wie Holfeld Sätze neu beginnt, die er zunächst anders formulieren wollte. Wie er langsamer spricht, weil er offensichtlich nach Worten sucht. Wie ihn Wellendorf durch beständiges Nachfragen nicht entkommen lässt, auf die gestellten Fragen zu antworten.

Lorenz Meyer formuliert es im Bildblog-Linktipp heute so:

Das vierminütige Gespräch lohnt in zweierlei Hinsicht: Weil es einen Programmchef zeigt, der sich in alle Richtungen dreht und windet und nach Ausschlüpfen sucht, und mit Sebastian Wellendorf einen Journalisten, der ihm dies nicht durchgehen lässt.

Auch wenn schriftliche Interviews nicht per se die schlechtere Umsetzungsform sind – ein Radiointerview mit einem langweiligen Gesprächspartner kann ermüdender sein als nachzulesen, was er gesagt hat: Dies hier ist ein gutes Beispiel für die Vorzüge des Radios, und selten lässt es sich so anschaulich zeigen.

 

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Was wirklich nervt an Verlags-Podcasts, ist die Musik

Seit ein paar Monaten machen einige Verlage auch in Audio. Spiegel online, Zeit online, Süddeutsche Zeitung online und viele andere haben eigene Podcasts gestartet. Über die journalistische Inhalte, über die Aufbereitung fürs Hören und die technischen Qualität ist schon an einigen anderen Stellen gesprochen worden, darum geht es mir hier nicht.

Was mich aber auch heute noch nachhaltig verstört, ist die Musik, die dort eingesetzt wird. Wer etwa den „Debatten-Podcast“ von Spiegel online von und mit Sascha Lobo aufruft, wird mit einem elektronischen Loop aus zunächst drei Tönen empfangen, der in seiner Penetranz nervig ist – zumal er in diesem Fall am Anfang sehr lang unter den Zitaten steht. Angenehm anzuhören ist das nicht. So interessant Sascha Lobos Thema auch sein mag, über diese Schwelle muss ich erst mal hinwegkommen. Skippe ich den Teil mit der Musik, muss ich auf die Einleitung zum Thema verzichten.

Ich bin kein Musikwissenschaftler, deswegen kann ich keine professionelle Einschätzung abgeben, welche Wirkung die Musikauswahl im Einzelnen hat. Entscheidend ist für mich, mit welcher Stimmung ich in die Podcasts reingehe.

Bei „Stimmenfang“, ebenfalls von Spiegel online, wird – ebenfalls elektronisch – auf die Trommel geklopft. Die Musik vermittelt in ihrer Disharmonie – so wirkt es auf mich – etwas Dramatisches, ganz gleich um welches Thema es geht.

Die Süddeutsche Zeitung verzichtet in ihrem Podcast „Das Thema“ auf derartige Musik. Sie verwendet ein Jingle als Opener, auch wenn dieses als Bauchbinde eingesetzt wird – also zwischen dem Teaser fürs Thema und dem eigentlichen Gespräch. Ansonsten wird mit akustischen Trennelementen gearbeitet, die hier die Hinführung zum Thema strukturieren. Das ist besser gemacht; wem die Elemente nicht gefallen, der wird damit nicht lange behelligt.

Auch Zeit online setzt in ihrem Nachrichtenpodcast „Was jetzt“ auf zurückhaltende Musik. Ähnlich wie bei „Stimmenfang“ beginnt der Podcast allerdings mit einer disharmonischen Klangfolge. Ein ähnliches Motiv  verwendet die Redaktion auch beim Sexpodcast „Ist das normal?“ Auch hier geht es zum Glück schnell vorbei.

Nun setze ich nicht voraus, dass bei Podcasts alles so laufen muss wie im althergebrachten Radio. Vor allem erwarte ich nicht, dass Zeitungen genauso arbeiten wie Radiosender. Sicherlich ist es sinnvoll, mit anderen akustischen Elementen zu arbeiten, um sich von klassischen Audioproduzenten abzugrenzen.

Andererseits aber klingen viele Melodien, die ich gehört habe, nach Sparprogrammen. Nach vorgefertigter rechtefreier Musik oder solcher, die günstig selbst komponiert wurde. Bei mir hat das Rückwirkungen auf die Wahrnehmung der Inhalte. Genauso wie man etwa im Fernsehen in einer Pappkulisse mit schlechter Beleuchtung auch Rückschlüsse auf die Qualität der Nachrichten ziehen würde, führt eine schlechte akustische Aufbereitung dazu, entsprechende Rückschlüsse auf die Qualität der Podcast-Inhalte zu ziehen. Und bei mir hat es auch Auswirkungen auf die Lust, mir die Inhalte anzuhören. Zumal es auch bei der Wort-Präsentation teilweise an der Qualität hapert – man merkt den Zeitungsmachern an, dass ihnen die Routine vor dem Mikrofon fehlt.

Nun besteht die Gefahr, dass meine Kritik wohlfeil daherkommt. Ich hab gut reden, schließlich arbeite ich bei professionellen Radiosendern mit entsprechender Audio-Kompetenz und hab auch selbst mehr als 20 Jahre Erfahrung vor dem Mikrofon. Vielleicht ist es ja diese Haltung zu Audio-Produkten, die es für mich schwierig macht, den Zeitungskollegen zu folgen. Umgekehrt mag aber – dafür spricht ja der Erfolg einiger Produkte – genau diese Andersartigkeit der Grund dafür sein, warum sie so viele Hörer finden.

Weil es eben nicht das perfekte Audio-Produkt ist. Weil man noch Ecken und Kanten hört (im Gesprächs-Podcast gehört das ohnehin dazu). Weil eben alles ein wenig amateurhaft wirkt – aber vielleicht dadurch eine Besonderheit dieser Produkte ausmacht.

Es ist daher unnötig, die Podcasts zu kritisieren, wenn sie doch ihr Publikum finden. Mich selbst aber schreckt eben oft genug die Musik ab. So interessant die Inhalte auch sein mögen, die Musik versetzt mich in eine Stimmung, die mir das Weiterhören oft verleidet. Und das ist schade – für beide Seiten.

 

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Berichten, was nicht ist – so helfen Journalisten negativ beim „Framing“

In der vergangenen Woche sind mir zwei Schlagzeilen ins Auge gefallen, die aus dem Rahmen fallen – beide bei Zeitungen der Welt-Gruppe, also bei „Welt“ und „Welt am Sonntag“.

Die „Welt“ titelte am Montag nach der Amokfahrt von Münster:

Die Mordfahrt von Münster war kein islamistischer Terror

Und gestern hieß es in der „Welt am Sonntag“:

Das ist nicht der dritte Weltkrieg

Die „Welt am Sonntag“ vom 15. April 2018 (Foto: Stefan Fries)

Beide Schlagzeilen folgen einem interessanten Muster: Sie sagen nicht, was ist, sondern sie sagen, was nicht ist. Sie reagieren offenkundig auf unterstellte Erwartungen ihrer Leser: In Münster wurde über einen islamistischen Anschlag spekuliert, bei den Angriffen der USA, Großbritanniens und Frankreichs womöglich der Beginn einer militärischen Eskalation befürchtet, die zu einem Weltkrieg führen kann.

Dieses Muster kennen wir nicht von klassischen journalistischen Angeboten, sondern von Faktencheckern gegen Fake News, etwa den ARD-Faktenfindern bei tagesschau.de, dem Faktenfuchs beim Bayerischen Rundfunk und Echt Jetzt bei Correctiv. Auch dort finden sich Überschriften nach diesem Muster, zum Beispiel:

Kein Kurde namens „Jens R. Handeln“

Münster – YouTube-Video zeigt nicht die Täter

Nein, die Studie von Dr. Jones beweist nicht, dass Chemotherapie Krebspatienten früher sterben lässt

Gehen die Journalisten in diesen Fällen in der Regel davon aus, dass es sich um Fehlinformationen handelt, die richtiggestellt werden sollen, so folgen „Welt“ und „Welt am Sonntag“ mit ihren Überschriften auch in ihren Printausgaben abseits der Faktenchecks diesem Prinzip.

Ich halte das für gefährlich. Diese Haltung nimmt vorauseilend die Position derjenigen ein, die eine Fehlinformation und Lüge streuen, ein Gerücht ungeprüft weiterverbreiten, eine Angst artikulieren. Sie mag damit denjenigen entgegenkommen, die diese Haltung von sich aus oder verstärkt durch andere bereits selbst eingenommen haben. Sie trägt diese Haltung aber auch an diejenigen weiter, die von selbst nicht darauf gekommen wären.

Diese Haltung hilft den Urhebern beim Framing. Es werden Aspekte aktiviert, die tatsächlich nichts mit dem Thema zu tun haben. Wer „kein islamistischer Terror“ schreibt, aktiviert den Begriff „islamistischer Terror“. Wer schreibt „nicht der Dritte Weltkrieg“, der aktiviert den Begriff „Weltkrieg“. Mit Verneinungen kann unser Gehirn leider nicht gut umgehen. (Sie kennen ja das Beispiel „Denken Sie jetzt nicht an einen rosa Elefanten.“ Denken Sie wirklich nicht dran?)

Anstatt also zu berichten, was ist (positiv), wird damit begonnen, zu berichten, was nicht ist (negativ). Anstatt von Fakten auszugehen, wird von Gerüchten ausgegangen. Damit löscht man diese Falschinformationen nicht aus, sondern streut sie größtmöglich breiter. Und man trainiert seine Leser darin, mit dieser Haltung an jede weitere Berichterstattung heranzugehen: Dann müssten Journalisten künftig erst mal alle Spekulationen zerstreuen, bevor sie über die eigentlichen Fakten berichten. Das kann nicht unsere Aufgabe sein.

Die Amokfahrt von Münster: Was von der großen Aufregung übrig ist

Münster (2010)
Münster (2010) (Foto: Stefan Fries)

Man denkt ja, dass Journalisten lernen, wenn es um die Berichterstattung über plötzliche Großereignisse geht heute vor einer Woche bei der Amokfahrt in Münster. Dass sie nicht sofort von einem Anschlag reden – wie beim Amoklauf in München. Dass sie nicht sofort von Islamisten reden – wie beim rechtextremen Anschlag in Oslo und Ütöya. Dass sie einfach mal abwarten, was die Polizei ermittelt. Denkste.

Auch nach der Amokfahrt in Münster, bei der ein Mann zwei Menschen und dann sich selbst tötete, wurde wieder spekuliert – zu viel und zu sehr in eine Richtung, wie etwa mein Kollege Christoph Sterz für @mediasres im Deutschlandfunk kommentiert hat:

Wie über die Tat in Münster berichtet wurde, ist Teil eines grundsätzlichen Problems. Aus Angst, etwas falsch zu machen, sich durch das Verschweigen von Gerüchten angreifbar zu machen, werden journalistische Grundsätze missachtet.

Und weil die Tat von Münster traurigerweise sicher nicht die letzte ihrer Art war, sollten sich Journalisten jetzt dringend hinsetzen und ihre Berichte intern kritisch aufarbeiten – damit sie sich beim nächsten Mal nicht wieder von Hetzern, von Extremisten treiben lassen.

Boris Rosenkranz hat für Übermedien zusammengestellt, wie unseriös die Fernseh-Nachrichtensender n-tv und Welt (früher N24) berichtet haben, und schreibt:

Fährt derzeit irgendwo ein Auto in eine Menschenmenge, liegt natürlich der Verdacht nahe, dass es sich um einen Terroranschlag handelt. Weil das schon so oft passiert ist. Aber gerade Taten wie die in Münster zeigen, dass nicht alles ist, wie es scheint, und dass es angebracht wäre, mit allergrößter Vorsicht zu berichten. Es hat auch immer wieder Fälle gegeben, in denen zwar Autos in Menschenmengen gesteuert wurden, aber nicht aus terroristischen Motiven.

Eine Woche danach

Wir sind jetzt eine Woche weiter – welche Erkenntnisse ziehen wir aus der Berichterstattung vorige Woche? Heute gibt es kaum noch Berichte über die Tat und ihre Hintergründe. Was prinzipiell in Ordnung ist; solange sich nichts tut und während ermittelt wird, gibt es eben nichts zu berichten. Aber war im Hinblick darauf die Aufregung damals gerechtfertigt?

Auf den ersten Blick fällt es leicht, darauf die Antwort zu geben: Nein. Auf den zweiten Blick würden aber womöglich viele Journalisten, die vor einer Woche in den Rausch der Berichterstattung verfallen sind, darauf sagen: Natürlich war die Aufregung gerechtfertigt, wussten wir doch nicht, worum es sich handelt. Für mich wird aber umgekehrt ein Schuh draus: Gerade weil wir noch nicht wussten, was dahinter steckt, ist jede übertriebene Aufregung fehl am Platz – und zwar aus journalistischen Gründen.

Unsere Aufgabe ist es, zu berichten, was passiert ist – und nicht mehr. Natürlich gehört es auch dazu, Hintergründe zu liefern. Das Problem besteht aber in der unzulässigen Verknüpfung beider Aspekte. Es ist die eine Sache, zu berichten: „In Münster ist ein Auto in eine Menschenmenge gefahren. Dabei kamen zwei Menschen ums Leben.“ Oder zu schreiben: „In Münster hat es (offenbar) einen Anschlag gegeben. Dort ist ein Auto in eine Menschenmenge gefahren.“ Das eine ist bereits eine Interpretation, während das erste bei der reinen Beschreibung der Wirklichkeit bleibt. Darauf sollten sich Journalisten gerade dann immer zurückziehen, wenn sie nicht mehr wissen.

Gegen das Triggern

Freilich denkt womöglich jeder, der von dem Ereignis an sich hört, daran, dass bereits vorher Fahrzeuge in Menschenmengen gefahren sind, etwa in Nizza und London. In diesen Fällen handelte es sich um islamistischen Terror. Aber dieser automatischen Verknüpfung im Gehirn sollten Journalisten nicht folgen. Sie können in diese Richtung recherchieren, aber sie müssen auch Belege dafür liefern. Solange sie diese nicht finden, verbietet es sich, darüber öffentlich zu spekulieren.

Ich habe die Berichterstattung selbst am Samstag nicht verfolgt. Ich habe bei einem sonnigen Nachmittag mit Freunden nur kurz gehört, als eine Freundin eine erste Eilmeldung vorlas, nach der das Auto in die Menschenmenge gefahren war.

Ich habe mich an dem Nachmittag und Abend bewusst ferngehalten von Nachrichten. Ich wusste, dass mich das Thema ansonsten stundenlang nicht loslassen würde. Im Hunger nach immer mehr Informationen, nach immer mehr Details, nach Erklärungen, Analysen und Hintergründen würde ich nicht nur bei redaktionellen Medien nachschlagen, sondern auch bei Twitter suchen.

Und ich wusste, ich würde nicht nur bei den einschlägigen Twitter-Accounts schnelle Erklärungen, einfach Deutungen und klare Schuldzuweisungen finden. Ich wusste, dass auch eigentlich seriöse Medien, dass Kollegen sich nicht würden zurückhalten können, sich in ihrer Berichterstattung nicht nur auf Fakten zurückziehen, sondern auch spekulieren würden. All das hätte genau zu der Art Halbwissen oder sogar Nichtwissen geführt, die ich selbst als Journalist nicht vermitteln möchte. Eine Blase, die nicht nur aus Fakten, sondern auch aus Vermutungen und Befürchtungen besteht, und in der am Ende das eine nicht mehr vom anderen zu unterscheiden ist.

Genau das ist eben nicht die Aufgabe von Journalisten. Sie sollen über Fakten berichten und sich nicht an unbegründeten Spekulationen beteiligen. Es ist deprimierend zu sehen, wenn Kollegen gegen solche Grundregeln ihres Handwerks verstoßen. Und es hilft mir auch als Konsument solcher Halbnachrichten nicht weiter, zu verstehen, was wirklich passiert ist.

Keine Stadt im Schock

Zumal Maren Urner von Perspective Daily, die in Münster wohnt und arbeitet, dort einen ganz anderen Blick auf die Ereignisse hatte als sie medial vermittelt wurden. Sie schreibt:

Die Welt hängt an den Bildschirmen und lernt: »An diesem Frühlingsabend ist Münster eine Stadt im Schock.«

Falsch! Es scheint eher umgekehrt: Die Welt, die auf Münster schaut, ist im Schock, während für die meisten Menschen in Münster der Alltag in Parks, Cafés und Straßen (einmal abgesehen vom direkten Umkreis des Unglücksorts) weitergeht.

Wird die Aufregung also tatsächlich umso größer, je weiter man vom Ort des Geschehens weg ist? Nach dem Motto: Die größte Angst habe ich vor etwas, das ich nicht kenne? Bilden Journalisten die Lage vor Ort also wirklich so ab, wie sie ist?

Tatsächlich habe ich mich ablenken können und mich erst am Sonntagmorgen über den Stand der Dinge informiert. Ich konnte Fakten lesen, musste mich nicht an Gerüchten und Wahrscheinlichkeiten entlanghangeln. Ich erfuhr etwas über den Tathergang und das wenige, was man an Hintergründen wusste. Das aber waren greifbare Informationen, die ich einordnen konnte, die keine unnötige Sorge ausgelöst oder unnötige Angst verbreitet haben.

Ich habe den Kollegen Zeit gegeben, ihre Arbeit zu machen. Das klingt pathetischer als es ist. Was ich damit meine: Ich habe als Nutzer nicht sofort nach Informationen gefragt und gesucht, die keiner liefern konnte und sich stattdessen in Spekulationen ergoss. Ich habe den Journalisten Zeit gegeben, zutreffende Informationen zu besorgen, die mir helfen, die Situation zu verstehen. Anstatt nach etwas zu fragen, das man mir so schnell nicht liefern kann und stattdessen etwas anderes zu bekommen. (Das merkt natürlich kein Kollege direkt. Aber es soll ein Signal sein, sich die nötige Zeit zu geben.)

Dass ich allein das so halte, hilft nicht dabei, die Situation zu verändern. Ich fürchte, dass man das Rad in gewisser Weise nicht zurückdrehen kann. Es ist unrealistisch, dass Medien nicht über einen solchen Vorfall berichten. Sie sollten aber zu jedem Zeitpunkt nur das erzählen, was sie wissen. Das ist gar nicht so schwer: Sie können zum Beispiel einfach schildern, was sie sehen und was ihnen berichtet wurde, sollten aber nicht Vermutungen darüber anstehen, was sie nicht sehen. Das ist der Unterschied zwischen „Auto in Menschenmenge gefahren“ und „offenbar Anschlag“.

Es ist wichtig, dass die Kollegen nicht ständig auf Sendung gehen müssen, sondern Zeit bekommen, zu recherchieren. Wer alle paar Minuten immer und immer wieder über den Stand der Dinge berichten muss, kommt gar nicht dazu, sich auf denselben zu bringen – und wiederholt sich damit.

Relevanz statt Erregungspotenzial

Zudem sollte Relevanz entscheiden, nicht Erregungspotenzial. Bei der Auswahl der Meinungsäußerungen sollte man das bedenken. Eine Stellungnahme des Münsteraner Bürgermeisters ist berichtenswert, weil er die Bürger der betroffenen Stadt vertritt. Ein Statement des nordrhein-westfälischen Innenministers ist es, weil er die Arbeit der Polizei verantwortet. Die Tweets einer uninformierten AfD-Politikerin, die weder eine Verantwortung trägt noch selbst am Ort ist, ist es nicht. Arno Frank schreibt bei Spiegel online unter Berufung darauf:

Solange wir soziale Netzwerke für legitime Foren diskursiver Auseinandersetzung halten, werden wir ihrer suggestiven Illusion erliegen und noch das galligste gedankliche Bäuerchen als Beitrag zur Debatte wahrnehmen, vielleicht sogar fürchten – wo es doch in Wahrheit nur erfreulich erhellende Rückschlüsse auf Gemüt und Intellekt der Absender zulässt.

Wer nichts dazu beiträgt, die Ereignisse zu verstehen, hat in Berichten erst mal nichts verloren. Schnellschüsse unbeteiligter und machtloser Politiker (aus der Distanz, aus der Opposition) in Form von Forderungen, die nicht auf Fakten basieren, weil die noch gar nicht geklärt sind, sollten Journalisten erst mal zurückstellen – ob sie per Tweet kommen oder als Pressemitteilung.

Solche Nachrichten sind irrelevant – und sollten von Medien auch so behandelt werden. Später kann man darauf immer noch einsteigen, wenn die politische Diskussion beginnt. Die kann aber erst anfangen, wenn wir wissen, was passiert ist. Das ist kurz nach der Tat selten der Fall.

Diese Erregungsmaschine erregt mich zunehmend. Wenn ich selbst im Dienst und für solche Ereignisse zuständig bin, versuche ich auf die Bremse zu treten und die Regeln zu befolgen, die ich gerade skizziert habe. Ich versuche, mich nicht mitreißen zu lassen von der Wucht des Ereignisses selbst und der daraufhin losrollenden medialen Lawine. Nur so kann ich meine Arbeit vor mir selbst verantworten und auch vor dem Nutzer, für den ich berichte. Das schließt nicht aus, dass es auch mir mal so gehen kann, wie ich es jetzt Kollegen vorwerfe. Dann hoffe ich, dass es jemanden gibt, der mich darauf hinweist. Das geht aber nur, wenn wir uns alle zusammen bewusst sind, worauf es gerade in solchen Krisensituationen im Journalismus ankommt – gerade in Zeiten „großer Gereiztheit“.

Nachtrag (16. April, 21.45 Uhr): Uwe Schulz hat sich in seiner Medienschelte im WDR5-Medienmagazin „Töne, Texte, Bilder“ auch noch mal der Berichterstattung über Münster angenommen.

Polizeiprosa on stage

Diese Woche haben Sandra Müller, Katharina Thoms und Peter Binder ein paar der besten Texte aus Polizei-Pressestellen vorgelesen. Sie waren zu Gast im Musenstall in Wannweil. Hier findet sich ein Ausschnitt, hier ein anderer (jeweils bei Facebook).

Mehr Schönes aus Polizei-Pressestellen gibt es bei Twitter und auf unserer Homepage.

 

Anmerkung: In Vorbereitung auf die Datenschutzgrundverordnung habe ich Widgets, die sich ursprünglich im Text befanden, entfernt und sie teilweise durch Links ersetzt.

UKW-Abschaltung vorläufig abgewendet

Schon ab Mittwoch hätte es zu einer Funkstille bei mehreren UKW-Sendern kommen können. Grund ist ein Streit zwischen dem Betreiber des UKW-Sendernetzes und den Eigentümern der Sendeantennen. Darüber hat am Wochenende „Die Welt“ berichtet.

Dazu wird es nun aber bis mindestens Ende Juni nicht kommen. Heute haben sich beide Seiten vorläufig geeinigt. Rainer Kampmann, Verwaltungs- und Betriebsdirektor des Deutschlandradios, dringt aber auf eine dauerhafte Lösung. Ich habe mit ihm für @mediasres im Deutschlandfunk gesprochen.