Wie deutsche Medien aus Russland berichten (können)

Nicht nur ARD, ZDF und das Deutschlandradio haben oder hatten ihre Berichterstattung aus dem Studio Moskau zeitweise eingestellt. Auch andere Medien haben ihre Korrespondenten teils abgezogen, teils nicht mehr arbeiten lassen. Im WDR5-Medienmagazin „Töne, Texte, Bilder“ habe ich einen Überblick gegeben.

Corona-Krise zwingt Medien zu mehr Transparenz

Lange hatten sich Medien gescheut, ihre eigene Arbeit transparent zu machen. Die Corona-Krise zwingt sie jetzt dazu, weil sie die Arbeitsbedingungen verändert, was auch Auswirkungen auf die Berichterstattung hat und in Radio und Fernsehen auch aufs Programm.

Im Deutschlandfunk hat Redakteur Mario Dobovisek schon vor Beginn der Ausgangsbeschränkungen erzählt, wie sich das Haus vorbereitet – in Kurzfassung bei @mediasres (Audiothek), in Langfassung im Podcast „Der Tag“ (Audiothek). Seit Montag sendet der Deutschlandfunk ein leicht verändertes Programm, um Ressourcen für bevorstehende Zeiten zu schonen.

Dass Journalist*innen mittlerweile anders arbeiten, lässt sich ja auch kaum noch verheimlichen. Immer öfter werden Interviews nicht persönlich geführt, sondern über Messenger und Video-Chats im Netz. Im Radio hört man das an anderer O-Ton-Qualität, im Fernsehen an schlechten Bildern bzw. daran, dass gleich eingeblendet wird, dass die O-Ton-Geber nur zugeschaltet sind, etwa indem auch der Bildschirm zu sehen ist, auf dem die Gesprächspartner sind.

Im NDR-Medienmagazin „Zapp“ macht Autorin Caroline Schmidt transparent, wie sie über einen „Spiegel“-Redakteur im Homeoffice zu berichten versucht, ohne dass sie selbst ins Haus darf.

Zapp berichtet in den kommenden Wochen über die Arbeitsbedingungen von Journalist*innen in der Corona-Krise. In der zweiten Folge darf Schmidt auch nicht ins ARD-Hauptstadtstudio, was sie ebenfalls transparent macht.

Dass Medienmagazine das machen, ist natürlich nicht neu. Aber auch andere Redaktionen tun das jetzt verstärkt – und informieren auch in eigenen Artikeln über ihre neuen Arbeitsbedingungen.

So schreibt ARD-Fernsehkorrespondentin Tamara Anthony über ihr Leben in der Quarantäne in Peking:

Arbeiten von unterschiedlichen Orten ist das geringste Problem. Wir machen Konferenzen per Video-Schalte und haben “remote” – ich in Quarantäne, Katrin im Schnitt – zwei Tagesschauen aus Agenturmaterial produziert. So zum Beispiel unseren Bericht aus Anlass des Abebbens der Krise und über den Versuch der chinesischen Regierung, Zweifel zu säen über den Ursprungsort des Virus.

Die „Süddeutsche Zeitung“ erlebt redaktionelle „Veränderungen im Zeitraffer“:

Eine Redaktion ist ein lebendiger Organismus. Die SZ-Redaktion, so würden Wohlmeinende vielleicht sagen, ist ein besonders lebendiger. Das Leben dieses Organismus musste sich nun sehr schnell neu sortieren, so schnell wie noch nie in der 75-jährigen Geschichte dieser Zeitung. Die Vorbereitungen darauf begannen vor Wochen, als die ersten Meldungen über abgesperrte Gebiete in Italien die Runde machten. Notfallpläne wurden geschrieben, zusätzliche Notebooks mit Lieferwagen aus Lagern in das Verlagsgebäude gebracht. Die IT-Abteilung stockte die Zugänge zu den gesicherten Leitungen und die Bandbreite auf.

Der „Stern“ gibt Einblicke, wo seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerade zu Hause arbeiten, weist aber auch auf ein Privileg von Journalist*innen hin:

Natürlich haben wir trotz allem Glück. Im Gegensatz zu vielen anderen Berufsgruppen lässt sich die Arbeit einer Redaktion leicht – und Dank einer Meisterleistung der technischen Abteilungen auch recht problemlos – ins Homeoffice verlagern.

„Die Zeit“ berichtet, wie groß der Bedarf an journalistischer Arbeit ist, während diese gleichzeitig schwieriger wird, was auch Auswirkungen aufs Schreiben hat:

Auch deshalb hat sich unsere meinungsfreudige Onlineredaktion in diesen Zeiten etwas Zurückhaltung verordnet und sucht weniger nach originellen Standpunkten als nach Erkenntnis und Evidenz. Alle Beiträge unseres Wissen-Ressorts etwa sind trotz des erheblich höheren Zeitdrucks, wie sonst auch, durch zahlreiche Gespräche mit den führenden Experten, durch wissenschaftliche Quellen (die wir stets nennen) und mehrfache interne Prüfungen abgesichert.

Die Tageszeitung „taz“ beklagt, dass persönliche Gespräche schwer zu ersetzen seien:

Wie geht das ohne persönliches Gespräch? Nur am Telefon? Schon jetzt arbeiten wir mit einer Teamsoftware, durch die man in virtuellen Räumen chatten kann, dort haben wir vergangene Woche der Raum „Corona-Themen“ eröffnet. Doch das persönliche Gespräch ist nicht so leicht zu ersetzen wie Händeschütteln. Corona bedeutet, dass wir uns einschränken, aber zugleich alternativ denken müssen.

Das ist eine positive Entwicklung. Inwiefern sie von Nutzerinnen und Nutzern honoriert wird, ist natürlich schlecht zu sagen. Der Mainzer Journalismusprofessor Tanjev Schultz findet allerdings – unabhängig von der aktuellen Entwicklung – dass Transparenz ein Grund dafür sein, das Medienvertrauen zu stärken. Im Interview mit dem Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres (Audiolink) sagte er mir am 26. Februar, als er seine neue Studie zum Medienvertrauen vorstellte:

Ich habe den Eindruck und wir in unserer Forschungsgruppe, dass es damit zusammenhängt, dass die Medien sehr viel mehr jetzt auch über sich selber diskutieren, auch Dinge transparent machen. Und dass auch diese Angriffe seit den vergangenen drei, vier, fünf Jahren, die es gegen Medien gibt, gegen das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder überhaupt gegen die Presse, dass das die Leute dazu eigentlich fast zwingt, Stellung zu beziehen. Was früher eher so latent im Kopf war, da hat man nicht unbedingt drüber nachgedacht so sehr, das ist jetzt doch sehr bewusst geworden. Und die Menschen müssen sich irgendwie dazu verhalten, und sie erleben ja auch, dass permanent irgendwelche Gerüchte und Falschnachrichten auch über Social-Media-Kanäle reinkommen, und vielen Menschen dadurch auch wiederum klar wird: Ach, es ist vielleicht doch nicht so ganz verkehrt, seriöse Journalisten zu haben.

Es wäre eine gute Entwicklung, würden Medien nicht nur in der Corona-Krise an ihrer neuen Transparenz festhalten, sondern auch danach. Das Vertrauen in Medien kann das nur stärken.

 

Nachtrag (29. März 2020, 14.15 Uhr): Auch der Bayerische Rundfunk legt offen, wie seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten – im Studio und zu Hause.

Nachtrag (4. April 2020, 13.00 Uhr): Wie es der Südwestrundfunk macht, erkärt er hier. Danke an Kollegin Sandra Müller für den Hinweis.

Auch die Freie Presse Chemnitz informiert seit knapp zwei Wochen immer wieder in Youtube-Interviews mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen über ihre Arbeit.

Gute Zusammenarbeit: Wie Medien Maaßens Framing vom „Rückzug aus dem Wahlkampf“ übernehmen

Welchen Einfluss bestimmte Personen auf die öffentliche Debatte haben, hängt auch davon ab, wie Medien mit ihnen umgehen. Ein gutes Beispiel dafür ist in diesen Wochen der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen. Was immer er sagt oder twittert, wo er auftritt oder wo er angesprochen wird – Medien machen was draus.

Das ist an sich schon problematisch, hat Maaßen doch keinerlei Amt mehr inne, ist kein Mitglied irgendeines Parlaments, hat innerhalb der CDU keine bestimmte Aufgabe. Dafür sorgt er mit krawalligen Statements für Aufmerksamkeit, von denen Medien profitieren wollen. Politisch relevant ist das selten.

Ein schlechtes Beispiel dafür haben Maaßen und Medien gestern gegeben. Maaßen hatte getwittert, er ziehe sich aus dem Wahlkampf in Sachsen zurück.

Nach Recherchen der Deutschen Presse-Agentur waren aber gar keine Wahlkampfauftritte Maaßens in Sachen geplant – wovon könnte sich Maaßen also zurückziehen? Dennoch hatte die Agentur diesen Dreh übernommen. Sie schrieb:

Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen zieht sich aus dem Landtagswahlkampf der sächsischen CDU zurück. Er schrieb am Sonntagabend auf Twitter (…).

Dem Vernehmen nach waren in Sachsen jedoch sowieso keine Auftritte mit Maaßen mehr vereinbart.

In der Meldung wird also richtigerweise dementiert, was in der Überschrift noch behauptet wurde. Inhaltlich ergibt das aber keinerlei Sinn – man kann sich nicht von etwas zurückziehen, von dem man ohnehin kein Teil (mehr) war. Mit derselben Logik könnte ich mich aus dem sächsischen Wahlkampf zurückziehen.

Unter anderem die Süddeutsche Zeitung hat gestern in diesem Artikel diesen Dreh übernommen. Mittlerweile hat die Redaktion die Überschrift geändert und den Artikel überarbeitet und durch weitere Informationen ergänzt. Die alte Fassung lässt sich aber noch in der Artikelvorschau bei Twitter sehen.

Wie so oft hat die Redaktion den dpa-Wortlaut inklusive Überschrift größtenteils übernommen. Die Süddeutsche hatte ihrer Meldung aber einen weiteren Absatz hinzugefügt, der nicht von der dpa stammte, es gab also eine redaktionelle Befassung.

Gleichlautend hatte am Abend auch ZEIT online berichtet. Die Artikelvorschau bei Twitter von gestern zeigt diesen Dreh noch:

Auch sie hat den Artikel inzwischen überarbeitet und ihm auch eine neue Überschrift gegeben.

Auch der Tagesspiegel hatte den Artikel von der dpa so übernommen. Er steht (Stand: 26.8.19, 10.45 Uhr) immer noch so online.

Spiegel online hat die Meldung nicht eins zu eins übernommen, sondern sie für einen längeren Artikel mit mehr Kontext verwendet. Aber auch hier hat es Maaßens Spin in die Überschrift geschafft.

Allein die „Welt“ hat noch eine Quelle aufgetan, derzufolge durchaus weitere Auftritte Maaßens in Sachsen hätten geplant sein können. Sie schreibt unter ausdrücklicher Berufung:

Laut Nachrichtenagentur dpa waren in Sachsen keine Auftritte mit Maaßen mehr vereinbart. Der Sprecher der Werteunion, Ralf Höcker, erklärte, es habe „kurzfristige Anfragen“ gegeben. Maaßen werde auch keine Stellungnahmen mehr zum Wahlkampf in Sachsen abgeben. Der Rückzug sei ein echter Rückzug.

Folgerichtig hat sie Maaßens Spin (in der aktuellen Online-Fassung, 26.8.19., 10.50 Uhr) auch nicht in Überschrift und Teaser gepackt.

Erneut hat es Maaßen damit mit Unterstützung von Medien geschafft, seine Botschaft zu transportieren. Mag schon die Werte-Union, die sich für den konservativen Flügel der CDU hält, die aber keine offizielle Gliederung der CDU ist und der Maaßen angehört, in der öffentlichen Darstellung überrepräsentiert sein, so ist es auch Maaßen.

Wie schon bei Trump scheint mittlerweile jedem Tweet eine umfangreiche Berichterstattung zu folgen. Mal davon abgesehen, dass die Relevanz zweifelhaft ist, sollten Redaktionen sich zumindest Maaßens Framing verweigern.

 

Nachrichten aus der Zukunft (1): „Bundeskanzler Kretschmann kommt aus dem Trudeln nicht mehr heraus“

Viel zu selten werden Vorhersagen für die Zukunft überprüft – vor allem dann, wenn der vorausgesagte Termin erreicht wurde. Heute stoße ich zufällig auf so eine, aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. April 2011. Zwei Tage zuvor war Guido Westerwelle als … und … zurückgetreten, und die FAZ beginnt ihr Märchen aus der Zukunft mit diesen Worten:

Wir schreiben das Jahr 2015. Die grün-schwarz-gelbe Regierung unter Bundeskanzler Kretschmann kommt aus dem Trudeln nicht mehr heraus. Der bayerische Ministerpräsident Guttenberg hat einen Stromausfall auf seinem fränkischen Schloss genutzt, um den sofortigen Wiedereinstieg in die Atomenergienutzung zu fordern. Bundestagspräsidentin Claudia Roth befindet sich im Redestreik, weil der Papst auch bei seinem vierten Berlin-Besuch keine Christopherusplaketten an die Prunkwagenfahrer vom Christopher Street Day ausgeben will.

Damals fanden sie das wahrscheinlich absurd lustig. Dabei ist einiges tatsächlich fast wahr geworden. Nur zwei Jahre später, 2017, wurde über eine grün-schwarz-gelbe Regierung verhandelt – wenn auch ohne Kretschmann. Von Guttenbergs plagiierter Doktorarbeit war noch keine Rede. Und Claudia Roth ist tatsächlich inzwischen Bundestagspräsidentin, wenn auch nur Vize.

Hätte der FAZ-Autor damals so richtig übertreiben wollen, hätte er offenbar noch eins drauflegen müssen.

SZ lässt Angriffe auf öffentlich-rechtlichen Rundfunk einordnen

Ich verstehe es nicht ganz. Die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht löblicherweise einen Gastbeitrag des Historikers Norbert Frei, der ausführlich darlegt, warum sich das Mediensystem in Deutschland so entwickelt hat wie es heute ist: mit dem Nebeneinander von öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunksendern sowie privaten Zeitungen. Frei äußert darin deutlich Kritik daran, wie BDZV-Präsident Mathias Döpfner die Begriffe Staatspresse und Staatsfunk benutzt

Mit Begriffen, die an das Vokabular der AfD erinnern, hat er der ARD den Krieg erklärt, weil sich deren Nachrichtenangebot im Netz nicht allein auf bewegte Bilder beschränkt. Die „Flut textbasierter Gratis-Angebote“ der Öffentlich-Rechtlichen sei nichts anderes als „gebührenfinanzierte Staats-Presse“.

Und dann überschreibt die SZ ihren Artikel aber genau mit einem solchen Begriff.

bildschirmfoto-2017-11-11-um-10-22-19Der hat offenbar schon genug Hinguckerpotential, auch wenn der ganze Artikel eigentlich das Gegenteil behauptet. Das zeigt, wie notwendig es war, dass mein Kollege Udo Stiehl neulich noch vor dem Framing solcher Begriffe gewarnt hat.

Der Gegenangriff von Döpfner gegen die öffentlich-rechtlichen Redakteursausschüsse hat übrigens funktioniert. Auch Frei ist auf Döpfners falsche Behauptung reingefallen, er habe doch immer nur im Irrealis gesprochen. Hat er nicht.

Journalisten auf der schiefen Bahn – eine kleine Presseschau

Der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG hat kein grünes Licht für eine Vertragsverlängerung für Bahnchef Grube gegeben. Das hat in vielen Redaktionen die Weichen gestellt: Vorsicht an der Bahnsteigkante und Bahn frei für einen ganzen Zug an Floskeln.

Spiegel online

(Screenshot: spiegel.de)
(Screenshot: spiegel.de)

Tagesschau um 20 Uhr

„Nun also Bahn frei für die Nachfolgersuche…“

„Die SPD betonte heute, sie wolle auf jeden Fall mitentscheiden, wer künftig die Weichen bei der Bahn stellt.“

Süddeutsche.de

„Am Donnerstagmorgen vergangener Woche liegt Rüdiger Grubes Leben Leben noch voll im Plan.“

„Draußen geht gerade die Sonne auf, drinnen ist Grube nur schwer zu bremsen.“

FAZ.net

(Screenshot: faz.net)
(Screenshot: faz.net)

(Die FAZ reagierte im Übrigens mit dem Artikel „Wie das Netz auf Rücktritt von Bahnchef Rüdiger Grube reagiert“ und spricht von einem „gefundenen Fressen“. Da kannte der Autor aber seine eigenen Kollegen nicht.)

ZEIT online

(Screenshot: zeit.de)
(Screenshot: zeit.de)

Berliner Morgenpost

(Screenshot: morgenpost.de)
(Screenshot: morgenpost.de)

Deutschlandfunk, Kommentar

(Screenshot: deutschlandfunk.de)
(Screenshot: deutschlandfunk.de)

„Auch an der Spitze des Unternehmens Deutsche Bahn gibt es keine reservierten Vertragsverlängerungen und keine ungestörten Betriebsabläufe beim Übergang von einem Chef zum anderen.“

„Hatte er den Bahn-Konzern nach der Ära Hartmut Mehdorn doch wieder auf die Spur gesetzt…“

„…die Verantwortung für die Weichenstellungen der Zukunft“

„Streiterei um die Konzernführung braucht die Bahn aber nicht, sondern einen entschlossenen Lokführer an der Spitze.“

Tagesspiegel

„Grube musste die S-Bahn wieder aufs Gleis stellen…“

Wirtschaftswoche

(Screenshot: wiwo.de)
(Screenshot: wiwo.de)

Handelsblatt

(Screenshot: handelsblatt.com)
(Screenshot: handelsblatt.com)

Die Entwertung der Eilmeldung

Die Deutsche Presse-Agentur hat im Jahr 2016 insgesamt etwa 1.200 Breaking News in den dpa-Basisdienst verschickt. Es sei ein außergewöhnliches Jahr gewesen, schreibt Nachrichtenchef Froben Homburger bei kress.de.

Grund dafür waren vor allem die Terroranschläge in Nizza, Ansbach und Berlin, der Amoklauf in München und der Putschversuch in der Türkei.

Selbst nach Abzug aller Medaillen-EILs der Olympischen Spiele in Rio entspricht das noch einer Steigerung um 180 Kurzmeldungen der zweithöchsten Priorität. 2016 war also tatsächlich ein außergewöhnliches Jahr. Oder gingen etwa den Redakteuren die Eilmeldungen schlicht zu locker von der Hand?

Eine gute Frage, die Homburger am Ende implizit mit einem „Nein“ beantwortet. Zumal die dpa ihm zufolge die Schwellen für Eilmeldungen angehoben habe und die Kriterien schärfer gefasst.

Oberstes Credo: Eine Nachrichtenagentur sollte sich keinem Alarmismus hingeben, sondern Ereignisse immer besonnen priorisieren – erst recht dann, wenn die Aufregung in den sozialen Medien besonders groß ist.

Nun ist die Arbeit einer Nachrichtenagentur die eine Sache. Ihre Kunden sind nämlich nicht die Leser, Hörer und Zuschauer, sondern Redaktionen, also Journalisten. Dass diese so schnell wie möglich über Ereignisse von hoher Relevanz und Eilbedürftigkeit informiert werden wollen, halte ich für plausibel. Sie brauchen Zeit, um sich auf eine entsprechende Berichterstattung vorzubereiten, den Personalbedarf zu planen und weitergehende Recherchen einzuleiten.

Meinem Eindruck nach bedeutet so eine Eilmeldung für viele Redaktionen allerdings eher, sie sofort und ungeprüft an ihre Nutzer weiterzureichen. Beobachten lässt sich das etwa daran, wie n-tv Eilmeldungen direkt an ihr Laufband durchreicht. Andere eilen in ihren Apps jede kleine Weiterentwicklung einer solchen Breaking News, so dass man innerhalb von wenigen Stunden eine Liste an Eilmeldungen vorfindet.

Natürlich war der Sommer ungewöhnlich; vor allem die zwölf Tage vom 14. bis 25. Juli, wie Homburger schreibt: Terroranschlag von Nizza, Putschversuch in der Türkei, Schießerei in Baton Rouge, Angriff in Zug bei Würzburg, Amoklauf von München, Angriff in Reutlingen, Anschlag in Ansbach, Anschlag in Orlando.

Genau zu jener Zeit habe ich untersucht, was Redaktionen einiger ausgewählter Apps per Eilmeldung an ihre Nutzer weitergeben. Eine statistische Auswertung dieser Untersuchung hat sich gerade wegen der ungewöhnlichen Ereignisse im Erhebungszeitraum nicht angeboten und blieb deshalb liegen; mit dem Abstand von heute und dem Blick auf die Jahresbilanz der dpa will ich aber einige Beispiele herausgreifen, bei denen ich das Instrument der Eilmeldung als wenig sinnvoll erachte.

Eins kann man schon mal vorwegnehmen: Viele Eilmeldungen von Redaktionen halfen Nutzern gerade nicht dabei, Ereignisse besonnen zu priorisieren. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es um terminierte Ereignisse geht – und erst recht, wenn das Ergebnis das erwartete ist. So war sowohl der Termin des Misstrauensvotums gegen die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer am 14. Juli bekannt als auch die Tatsache, dass Dreyers Koalition über eine Mehrheit verfügte. Trotzdem eilte die Tagesschau:

(Screenshot: tagesschau-App)
(Screenshot: tagesschau-App)

Interessant auch, wenn ein Nicht-Ereignis Thema einer Eilmeldung wird, wie etwa am 30. Juni, als Brexit-Befürworter Boris Johnson verkündete, was er nicht tun werde, wie etwa die App der Süddeutschen Zeitung eilig vermeldete.

(Screenshot: SZ-App)
(Screenshot: SZ-App)

Was wäre geschehen, wenn der Nutzer das nicht sofort erfahren hätte? Sein Wissensstand wäre unverändert geblieben, nämlich dass Johnson nicht Premierminister werden will. Das war bis dahin Stand der Dinge; die Eilmeldung änderte daran nichts. Auch die Apps von Tagesschau und Spiegel online meldeten das, die Tagesschau immerhin mit dem Zusatz „überraschend“. Eine Angewohnheit von Journalisten, einer Nachricht etwas mehr Pepp zu geben: oft hilfreich zur Einordnung, nicht immer falsch, manchmal übertrieben.

Keine Frage, dass beide bisher genannten Beispiele berichtenswert sind. Entscheidend ist jedoch, ob sie eine Eilmeldung wert sind, ob es wichtig ist, dass der nachrichteninteressierte Nutzer unverzüglich darüber informiert werden muss.

Manche Redaktionen finden manchmal besonders eilig, was sie exklusiv haben – ganz gleich, wie eilbedürftig ihr Inhalt ist.

(Screenshot: tagesschau-App)
(Screenshot: tagesschau-App)

So bietet etwa die Information, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble an seiner „schwarzen Null“ weiter festhält und das auch mit dem nächsten Haushaltsentwurf so festschreiben will, meiner Meinung nach wenig Eilbedürftigkeit.

Auch, wer Nachfolger des umstrittenen Limburger Bischofs Franz-Peter Tebartz-van Elst wird, halte ich nur für von regionaler Bedeutung. Schließlich war es nicht das Amt selbst, dessen Besetzung interessiert, sondern die Person. Mit ihrem Abgang ist die Nachfolgefrage meines Erachtens für eine Eilmeldung weit überschätzt.

(Screenshot: SZ-App)
(Screenshot: SZ-App)

Es liegt im Wesen von Eilmeldungen, dass sie über herausgehobene Ereignisse möglichst schnell informieren. Wer einmal weiß, was passiert ist, hat somit die Möglichkeit, live an der Entwicklung dranzubleiben. Wenig sinnvoll ist es meines Erachtens dagegen, wenn zu einem bekannten Ereignis im Stundentakt Details nachgereicht werden, die keine eigene Eilmeldung mehr hergeben sollten.

Eilmeldungen sollten meiner Meinung nach eine relativ hohe Relevanzschwelle überspringen müssen, geleitet von der Frage, welche Ereignisse es wirklich wert sind, den Nutzer innerhalb kurzer Zeit und damit zwischen den Momenten, in denen er sich ohnehin über das Nachrichtengeschehen informiert, auf dem Laufenden zu halten.

Da hilft es dann auch nicht, wenn Spiegel online über seinen Twitter-Account @SPIEGEL_EIL nicht nur Eilmeldungen raushaut, sondern auch Kommentare, die der Einordnung und dem Hintergrund dienen.

Nachrichtenredakteur Udo Stiehl hat die Sache schon vor drei Jahren auf den Punkt gebracht:

Der inzwischen weit verbreitete Reflex in Redaktionen, nahezu jede Eilmeldung unverzüglich als wichtiges und weltbewegendes Ereignis weiterzureichen, dürfte auf Dauer aber zu einem Bumerang werden. Eilmeldungen, die ihren Namen nicht verdienen, werden Leser, Zuschauer und Hörer noch gleichgültiger werden lassen. Das kann niemand ernsthaft wollen. Die Aufgabe einer Redaktion ist es auch heute noch, vorzusortieren nach journalistischen Kriterien. Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Insbesondere in Zeiten, in denen Informationen und solche die es gerne wären, in nie da gewesenen Mengen kursieren.

Seitdem hat sich die Situation angesichts noch mehr Nachrichten-Apps meiner Meinung nach allerdings eher verschlimmert. Wie Udo schreibt, freuen sich manche Redaktionen über jedes Thema, das auch nur annähernd dazu geeignet ist, ein rotes Laufband oder eine rote Binde ins Fernsehbild, auf die Webseite oder in die App einzubinden. Die Orientierung der Nutzer geht damit verloren, wenn die Meldung tatsächlich wenig hergibt.

Freilich haben Nutzer auch ein Problem mit Orientierung, wenn Meldungen über Gewalttaten ohne Einordnung daherkommen, wie Margarethe Stokowski im Sommer schrieb.

Eilmeldungen über Gewalttaten erzeugen selten Sicherheit, aber fast immer Eilgefühle. Unsicherheit. Verwirrung. Genervtheit. Trotzdem wollen wir sie lesen. (…) Wir wollen schnelle Infos und bedachte Analysen, sofort und mit Abstand, wir wollen alles gleichzeitig. Es geht nicht.

Sie bezog sich auf Eilmeldungen über Nizza, Würzburg, Ansbach, München. Das sind Nachrichten, die auch in meinen Augen eine besondere Eilbedürftigkeit haben, auch wenn wir die Nutzer damit zunächst ratlos zurücklassen. Aber zugleich Einordnung liefern, wie sie sofort gefordert wird, können wir nicht. Ein Dilemma.

Trotzdem wäre es gut, würden Journalisten, wenn eine Eilmeldung von Nachrichtenagenturen kommt, zunächst mal durchatmen würden und überlegen: Ist die Meldung wichtig? Ist die Quellenlage gut genug? Ist die Meldung eilig? Und wenn ja, wie eilig? Und erst dann entscheiden, ob sie wirklich den Nutzern dient oder doch eher dem geforderten Ausstoß an Eilmeldungen, ganz gleich, was passiert?

Ein Hoeneß muss nicht gewählt werden

Gut, gut, offenbar gibt es wenige Zweifel daran, dass Uli Hoeneß demnächst wieder Präsident des FC Bayern München sein wird. Allerdings haben sich manche Journalisten heute dermaßen überschlagen, dass ganz durcheinander ging, wie das eigentlich ablaufen soll. Kandidatur? Wahl? Offenbar nicht nötig.

So war sich die Sportschau etwa schon sehr sicher, dass Hoeneß zurückkehrt – laut Tweet und Überschrift des Artikels in jedem Fall. Sogar der ersten Satz im Text lautete „Honeß wird sich (…) wählen lassen.“ Das ist kühn. Auch MDR Aktuell formulierte das so, als sei Hoeneß soeben gewählt worden.

ZDF heute schrieb zwar zuerst richtig, dass Hoeneß kandidiere, rutschte dann aber später wieder teilweise in den Indikativ ab.

Während die Süddeutsche Zeitung sich zumindest sprachlich ein wenig distanzierte.

Vielleicht haben sich einige Journalisten auch zu sehr auf die Formulierung der Nachrichtenagentur SID verlassen. Der Sport-Informationsdienst etwa meldete die Kandidatur ebenfalls als praktisch unnötig.

SIDSehr schön hat die ganze Geschichte SPIEGEL online zusammengefasst.

Am Ende gilt aber in jedem Fall: