Es läuft gut beim Express. Lukas Podolski hat der Boulevardzeitung aus Köln neue Aufmerksamkeit verschafft. Weil er auf einen irreführenden Tweet reagiert hat. Der auf einen irreführenden Beitrag des Express verlinkt. Weil der wiederum ein Interview im Kölner Stadt-Anzeiger (aus demselben Verlag) sinnentstellend wiedergegeben hat. Peinlich ist das beim Express offenbar niemandem, stattdessen genießt man die Aufmerksamkeit und dreht die Geschichte weiter.
Am Anfang stand das Interview des Stadt-Anzeigers mit Bettina Böttinger, in dem sie über Köln und Düsseldorf sprach und beide Städte für einiges lobte und für einiges kritisierte. Insgesamt aber überwog das Lob für Köln, denn:
Ich habe mich ja als gebürtige Düsseldorferin nicht zufällig für Köln entschieden – und auch nicht nur, weil hier meine Arbeitsstätte ist. (…) Ich bin eine Frau, die gerne hier lebt, gerne hier arbeitet und gerne mit den Leuten zu tun hat. Die Atmosphäre macht’s.
Dem Express war das offenbar zu wenig krawallig – und er sorgte selbst dafür. In seiner Zusammenfassung des Interviews ließ er kurzerhand das Lob für Köln ebenso weg wie die Kritik an Düsseldorf und strickte daraus einen Beitrag mit folgender Überschrift:
Ich habe gestern schon gezeigt, dass die Grundaussage des Interviews damit schon ziemlich verfälscht wurde. Entsprechend war auch der dazu passende Tweet:
Fußballnationalspieler Lukas Podolski, überzeugter Kölner, las den Tweet, vielleicht noch das Stück im Express, aber wahrscheinlich nicht das Originalinterview – und twitterte:
Anstatt das selbst ausgelöste Missverständnis aufzuklären, dreht der Express die Geschichte einfach weiter – und fragt bei Bettina Böttinger nach. Die muss jetzt also richtigstellen, was sie nie falsch gemacht hat – und führt noch einmal sehr ähnlich das Interview auf, das am Samstag im Stadt-Anzeiger erschienen war.
Wenn ich mir etwa die öffentlichen Verkehrsmittel angucke – da will mir manches nicht in den Kopf. Ich kann auch nicht begreifen, dass man keinen Plan B für die Oper hat. Es nervt mich wahnsinnig, dass Köln relativ dreckig ist. Da ist Düsseldorf nun wirklich mal weit voraus.
Dass die Stadt so dreckig ist. Wenn ich in der Südstadt aus dem Haus rauskomme, ärgere ich mich jedes Mal, wie es in und an manchen Ecken aussieht. Das müsste die Stadt mal in Griff bekommen, anderswo ist es ja auch nicht so.
Und mich nervt sehr, dass die KVB vieles nicht auf die Reihe bekommt. In Berlin zum Beispiel komme ich mit S-Bahn und U-Bahn super zurecht, hier ist es oft die reinste Katastrophe.
Am Ende steht also im Express genau jene differenzierte Meinung Böttingers über Köln, die ihr die Zeitung am Samstag abgesprochen hat. Und mit allem zusammen verarschen die beiden Zeitungen aus der Kölner DuMont-Mediengruppe ihre Leser.
Den Kölner Stadt-Anzeiger hat das alles übrigens nicht davon abgehalten, den künstlich angefachten Streit wiederum in einem eigenen Beitrag zu würdigen, ohne die Verfälschung der Kollegen zu thematisieren.
Liebe @BoettingerB, der @express24 verfälscht ihr Interview aus @ksta_news und Sie stellen dann dort richtig, was nie falsch war?
Aha, Fernsehmoderatorin Bettina Böttinger mag also Köln nicht. Soso.
„Harte Worte von WDR-Moderatorin Bettina Böttinger: Sie findet #Koeln dreckig und #Duesseldorf viel schöner.“
Obwohl sie hier lebt.
„In einem Interview (…) spricht sie sich klar für Düsseldorf und gegen Köln aus.“
Ja gut. So hat der Express offenbar das Interview im Kölner Stadt-Anzeiger (der aus demselben Haus kommt wie der Express) gelesen. Im Text über das Interview wird schön allein das zusammengestellt, was der These entspricht.
Also sehen wir mal, was sie so sagt über Köln:
Ich habe mich ja als gebürtige Düsseldorferin nicht zufällig für Köln entschieden – und auch nicht nur, weil hier meine Arbeitsstätte ist. Der Kölner an sich ist ja gerne besoffen von sich selber. Das geht mir ein bisschen auf die Nerven. Aber nur ein bisschen. Gelegentlich saufe ich auch mit. Ich bin eine Frau, die gerne hier lebt, gerne hier arbeitet und gerne mit den Leuten zu tun hat. Die Atmosphäre macht’s.
Stimmt, das klingt sehr danach aus, als sei Böttinger für Düsseldorf.
Köln ist die viertgrößte Stadt Deutschlands, eine wunderbare Stadt mit unglaublich vielen Möglichkeiten und einer tollen Bevölkerung.
Oh ja, Düsseldorf.
Es mag unter Marketing-Gesichtspunkten sinnvoll sein, Eislaufen auf der Kö zu veranstalten. Das finde ich allerdings lächerlich.
Klar, sie ist für Düsseldorf, eindeutig und klar gegen Köln.
In der Tat kritisiert Böttinger auch Köln für Schludrigkeit etwa bei den öffentlichen Verkehrsmitteln, bei der Oper, beim Schmutz und der Architektur. Bezogen darauf sagt sie auch:
Düsseldorf ist – sorry, liebe Kölner – einfach schöner.
Aber findet sich ihre durchaus differenzierte Meinung im Tweet oder Text des Express wieder? Weder noch. Und auch die Schlussfolgerung, dass Böttinger sich für Düsseldorf und gegen Köln ausspreche, ist falsch. Ganz einfach falsch.
Die Kritik mag kleinlich sein, weil es beim Interview mit Böttinger um wenig geht. Aber der Bericht im Express ist ein gutes Beispiel dafür, wie man sich Aussagen so zurechtschnitzen kann, wie sie einem passen. Und das ist auch irgendwie gelogen.
Unter der Überschrift „Seid demütig“ (kostenpflichtig über Blendle) hat sich Frank A. Meyer im Cicero mit der Rolle von Journalisten beschäftigt. Ein durchaus lesenswerter Kommentar, weil er einige strukturelle Probleme im Journalismus anspricht.
Allerdings lässt er mich an einigen Stellen etwas ratlos zurück, weil Meyer sich Pauschalisierungen und Parolen zu eigen macht („Lügenpresse“), die nicht gerade dabei helfen, die Debatte zu versachlichen. So schreibt er zum Beispiel:
Die Medien – die Journalisten – müssen sich mit dem Begriff „Lügenpresse“ selbstkritisch auseinandersetzen: Ist da etwas dran, oder ist da nichts dran?
Es ist etwas dran. Die Debatte um Angela Merkels autoritär verordnete Flüchtlingspolitik hat es gezeigt: indem die Debatte von den Medien monatelang unterdrückt, weggedrückt und manipuliert wurde.
Belege dafür liefert Meyer nicht. Vor allem nicht für seine Behauptung, dass dies absichtlich und planvoll getan wurde. Wer von „unterdrückt, weggedrückt und manipuliert“ spricht, unterstellt, dass Journalisten die Realität nicht so dargestellt haben wie Meyer sie wahrnimmt. Es wäre hilfreich, würde er dafür Belege liefern.
Auch andere Verallgemeinerungen lassen mich ratlos zurück. Wenn er etwas polemisch schreibt, dass Journalisten sich befugt sähen,
Politik, Wirtschaft, Kultur, neuerdings auch den Sport zu observieren, also über die ganze Gesellschaft zu wachen – fürwahr ein elitärer Anspruch. Vor allem ein völlig unzulässiger.
Natürlich sind die Medien keine vierte Gewalt im Staat. Allerdings gibt es in Staaten mehr Akteure als die drei klassischen Gewalten, also Legislative, Exekutive und Judikative. Also nicht nur (zum Beispiel) Bundestag, Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht. Vor allem sie gestalten maßgeblich den politischen und gesellschaftlichen Rahmen für das Leben in Deutschland. „Die Medien“ gestalten diesen Rahmen nicht, aber natürlich prägen sie dessen Wahrnehmung. Dennoch ist das ein Unterschied und der Vergleich damit nicht treffend.
Aufgabe von Journalisten ist es, Missstände offenzulegen. Insofern kommt ihnen durchaus eine Wächterfunktion zu – das ist kein unzulässiger Anspruch, sondern immanenter Bestandteil ihrer Arbeit. Die immer wieder beschworene neutrale Darstellung von Ereignissen und Meinungsäußerungen kann schon allein deswegen nicht gelingen, weil immer eine Auswahl getroffen werden muss. Wer als Journalist ein Stück über eine Bundestagsdebatte anfertigt, muss auswählen, welche Meinungen er darstellt. Dafür gibt es journalistische Kriterien. Journalistische. Es sind freilich keine staatlichen. Denn, wie Frank Meyer selbst schreibt:
Die Medien (…) sind frei. Niemand wählt sie, niemand darf ihnen Aufträge erteilen.
Und zweitens ist es für demokratische Medien entscheidend, dass sie ihrer Arbeit unabhängig vom Staat nachgehen können, eingeordnet in die Rechtsordnung, aber ungebunden in Auftrag, Interesse und Haltung.
Doch was folgt daraus? Diese Frage beantwortet Meyer nicht.
Dabei stimme ich durchaus einigen seiner Schlussfolgerungen zu. Tatsächlich spiegelt sich die Gesellschaft nicht in den Lebensläufen der Medienarbeiter. Ein Problem, dass Medien mit dem Bundestag und anderen Vertretungen gemein haben. Auch die Schwarmmentalität ist ein durchaus bekannter Bias im journalistischen Betrieb.
Dass die Nähe zu Politik und Wirtschaft, „zu den Mächtigen der Gesellschaft“, wie Meyer schreibt (und dabei plötzlich ebenfalls unbemerkt einen mächtigen Akteur einbringt, den er weiter oben unterschlägt), wie ein Aphrodisiakum wirke, mag zutreffen; beurteilen kann ich es nicht, da ich selten im entsprechenden Dunstkreis gearbeitet habe. So geht es allerdings auch vielen anderen Journalisten, die nicht diese Nähe haben. Schließlich kommt nur ein Teil von ihnen mit „Politik und Wirtschaft“ in dem Maße in Kontakt, den Meyer suggeriert.
Viele Journalisten verarbeiten Wissen und Rechercheergebnisse, die an anderen Stellen gewonnen werden. Redakteure in Nachrichtenredaktionen von Radiosendern texten aus Agenturmeldungen und den Rechercheergebnissen eigener Korrespondenten radiogerechte Stücke und gehen dabei durchaus noch mal kritisch an das angelieferte Material heran. Dies ist eine interne Kontrollinstanz, die die Wahrnehmung und Fakten eben jener Journalisten überprüfen soll, die laut Meyer nah dran sind. Wer täglich in einem Funkhaus in Köln oder Leipzig arbeitet, ist nicht in Gefahr, sich von einer Nähe korrumpieren zu lassen, weil es die eben nicht gibt.
Wer nur auf die schnelle Erstberichterstattung in Form von Radio- oder Fernsehnachrichten schaut, mag in der Tat Meyers Eindruck haben. Allerdings sorgen Dutzende Radio- und Fernsehredaktionen dafür, tagesaktuelle Themen „weiterzudrehen“, also Fragen nachzugehen, die sich ausgehend von neuen Ereignissen stellen. Damit erfüllen sie das, was Meyer sich wünscht:
Sie sind eine Institution des Fragens. Journalisten haben die Aufgabe, ihrem Publikum Wissen zu liefern und Verstehen zu ermöglichen. (…) Die Journalisten stellen die Fragen, welche die Bürger in die Lage versetzen, ihrerseits Fragen zu stellen (…).
Wie soll das aber gehen, wenn sie es eben nicht als ihre Aufgabe verstehen, zu „wachen“, wie Meyer weiter oben schreibt?
Meyer vertritt gute Ansätze; ich würde mir aber noch weitere Ausführungen wünschen. Sie könnten dabei helfen, den Journalismus im Ganzen wirklich zu kritisieren. Vielleicht kann sich Meyer damit auch einen Preis verdienen, den er sich wünscht, den es aber tatsächlich schon gibt: den Günther-Wallraf-Preis für Journalismuskritik.
Die Medien sind in einer Vertrauenskrise – so empfinden es viele Journalisten, seit sie mit Kritik an ihrer Arbeit konfrontiert sind, vor allem aus dem Netz. Entsprechende Umfragen seitdem werden immer wieder so interpretiert, dass diese Kritik bei den Bürgern tatsächlich zu einer Vertrauenskrise geführt hat. Auch ein Grund dafür, dass nun schon zum zweiten Mal beim Kölner Forum für Journalismuskritik diskutiert wurde. Journalismusprofessor Kim Otto von der Universität Würzburg teilte dabei allerdings schon gleich die zugrunde liegende Annahme nicht.
Otto sagte, es gebe keine empirische Evidenz dafür, dass sich das Vertrauen in die Medien innerhalb der letzten Jahre systematisch verschlechtert habe. Schon im März hatte er zusammen mit seinem Kollegen Andreas Köhler bei meedia.de Umfragen aus vergangenen Jahren ausgewertet, dabei zwar einen leichten Vertrauensverlust festgestellt, aber dennoch konstatiert:
Das Misstrauen war in den Jahren von 2000 bis 2003 und im Zeitraum von 2006 bis 2008 (…) schon einmal größer als heute.
Otto und Köhler schreiben, anhand der verfügbaren Langzeitdaten zeige sich, dass das Vertrauen in die Presse in Deutschland im Allgemeinen nicht dramatisch eingebrochen sei. Sie stellen aber auch fest:
Allerdings ist das Vertrauen in die Presse bei Menschen, die sich im politischen Spektrum als sehr links und sehr rechts einordnen, gering. Dass dieser Personenkreis von „Lügenpresse“ spricht, ist ein weit bekanntes Muster: Gerade Populisten und Extremisten am rechten wie linken Rand des politischen Spektrums sehen in der Presse oft „Systemmedien“, welche das gegenwärtige „kapitalistische politische System“ stützen.
In Köln sagte Otto, gestützt auf die Umfragen: Würden die Menschen allgemein nach ihrem Vertrauen in die „Medien“ gefragt, kämen dabei geringere Vertrauenswerte heraus als wenn sie konkret nach Fernsehen, Radio und Zeitung gefragt würden. Das heißt, sie fassen den Begriff „Medien“ offenbar sehr viel weiter als wir Journalisten es für diese Umfrage vermuten lassen. Für sie fallen darunter möglicherweise auch soziale Medien und vielleicht sogar Veröffentlichungen im Netz allgemein, inklusive Unternehmenswebseiten, Shoppingportale und Werbung.
Was viele Nutzer unter „Medien“ und „Journalismus“ verstehen
Eine Ansicht, die Frank Überall teilt, Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV). Er sagte, heute werde vieles im Netz für Journalismus gehalten, das es gar nicht sei, und er verwies darauf, wie leicht sich heutzutage professionell aussehende Blogs anlegen ließen, ohne dass sich dahinter ein journalistischer Anspruch verberge.
Das, was online läuft, kommt ja zum Teil so professionell daher. (…) Und das wird dann für ein Medium gehalten, ohne zu differenzieren, dass da kein Journalist, keine Journalistin hinter steckt, noch nicht mal jemand mit journalistischem Anspruch, und dann wird alles in einen Topf geworfen. Dann gibt es die aberwitzigsten Behauptungen, und wenn man dann nachfragt: Hab ich im Internet gelesen.
Otto fügte hinzu, die Menschen, die den Medien tatsächlich misstrauten, seien in den Meinungsforen überrepräsentiert. Wir sollten ihre Meinung nicht für die aller Menschen halten. Deutschlandfunk-Chefredakteurin Birgit Wentzien unterstrich, dass deren Kritik dennoch jetzt eine andere Kraft habe, etwa durch die AfD. Das heißt, die Kritik wird lauter durch solche Verstärker.
RTL- und n-tv-Reporter Carsten Lueb wies aus dem Publikum darauf hin, dass seiner Ansicht nach Journalisten ein Ventil seien für eine Unzufriedenheit mit anderen Zuständen. Kim Otto und Frank Überall stimmten dem zu. Überall verwies darauf, dass Kritik oft aus dem rechts- und linksextremen Spektrum komme – eine Kritik, die ganz grundsätzlich sei.
Wir werden in einen Topf geworfen, und in der Tat, seien wir mal ehrlich, natürlich: Die meisten von uns stehen auf dem Boden des demokratischen Systems. Das wiederum wird von den Extremisten abgelehnt, rundweg abgelehnt, dieses System, und in dem Zusammenhang sind wir in dieser ideologischen Logik natürlich Systempresse. Und dass wir da angegriffen werden, von welcher Seite auch immer, muss uns doch an der Stelle nicht verwundern.
Es gibt Überall zufolge eine diffuse Unzufriedenheit mit dem aktuellen demokratischen System, aus dem Extremisten versuchten, Kapital zu schlagen.
Die Medienkompetenz der Nutzer
Beim Forum wurde auch die eine mangelnde Medienkompetenz der Nutzer beklagt. Eine Radiojournalistin aus dem Publikum führte als Beispiel an, dass zum Beispiel bei einem eindeutig als Kommentar gekennzeichnetem Stück die fehlende Objektivität bemängelt wurde. Und sie wies darauf hin, dass sie bei einer Umfrage, bei der sie nur mit dem Mikrofon unterwegs sei, danach gefragt worden sei, wann das denn im Fernsehen komme. Eine Erfahrung, die ich auch bereits gemacht habe.
DJV-Chef Frank Überall ergänzte, dass vielen Menschen nicht klar sei, dass es im Journalismus unterschiedliche Stilformen gebe. Kommentiere ein Journalist ein Thema, werde gleich unterstellt, dass auch seine Berichterstattung nicht objektiv sein könne. Dass es dabei eine professionelle Trennung gebe, werde vielen nicht mehr bewusst.
Fazit
Am Ende blieb die Frage offen, ob es tatsächlich eine Vertrauenskrise gibt. Dabei gibt es möglicherweise gar keinen Widerspruch zwischen den in Umfragen erhobenen Zahlen und der subjektiven Wahrnehmung der Journalisten. Angenommen, dass ein gewisser Prozentsatz der jeweils Befragten immer schon Medien gegenüber skeptisch war, so artikulieren sich diese Menschen heutzutage einfach deutlicher und werden so wahrnehmbar, möglicherweise sogar überrepräsentiert. Die Kritik gab es also immer schon. Aber jetzt müssen wir uns ihr stellen.
„Ihr berichtet doch alle nur dasselbe“ – hinter diesem gängigen Vorwurf steckt zunächst augenscheinlich ein Paradox. Denn natürlich berichten alle dasselbe, wenn es um Fakten geht. Wenn ein Flugzeug abgestürzt ist, ist nun mal ein Flugzeug abgestürzt. Dass dann alle dieselbe Fluglinie nennen, die selbe Anzahl von Passagieren, die selbe Anzahl von Toten – gegen diese Form von gleichförmiger Berichterstattung kann man zunächst mal nichts sagen.
Gleiches gilt für die Themenauswahl. Dass viele Journalisten über dieselben Themen eines Tages berichten, hat auch damit zu tun, dass sie nach denselben oder ähnlichen Kriterien auswählen, was sie für wichtig halten. Wenn es dann heißt „Ihr berichtet ja nur noch über die Türkei“, mag es stimmen, dass dieses Thema breiten Raum einnimmt. Aber „nur noch“ ist freilich falsch.
Dahinter steckt meiner Meinung nach ein anderer Vorwurf, auch wenn der so nicht formuliert wird.
„Die Menschen fühlen das richtige – aber sie benutzen die falschen Argumente.“
Als Beispiel für das, was viele Kritiker eigentlich beklagen, ohne dass viele in der Lage sind, das richtig zu benennen, nannte Gaschke im Funkhaus des Deutschlandfunks in Köln etwa eine Themenkonjunktur, bei der wochenlang in allen Medien nur ein Thema bestimmend sei.
„Es gibt eine freiwillige Gleichrichtung in den Medien. Ein paar Monate nur Wulff, ein paar Monate nur Griechenland, ein paar Monate nur Flüchtlinge – so läuft das Leben nicht, das weiß man und das ärgert die Leute.“
Themen mit Konjunktur
Tatsächlich sind solche Themenkonjunkturen zu beobachten. Dass sie entstehen, liegt nicht an einer strukturellen Gleichschaltung von Journalisten, sondern zunächst einmal an der Ereignisorientierung von Nachrichten. Dabei geht es vor allem um öffentliche Ereignisse, also eine Bundestagsdebatte, eine Pressekonferenz, eine Demonstration.
Was exklusive Geschichten angeht, wenn also ein Journalist für sein Medium einen Sachverhalt recherchiert und unabhängig von einem sogenannten Aufhänger veröffentlicht, haben sich meiner Wahrnehmung nach die Maßstäbe verschoben. Blieb die Geschichte zunächst exklusiv beim jeweilen Medium, wird sie heute bei einer gewissen Relevanz in Kürze von vielen anderen Medien aufgegriffen und weiterverbreitet. Entweder ohne eigene Recherche, indem die Rechercheergebnisse des anderen Mediums weitergegeben werden. Oder durch unterstützende Recherche, bei der im Grunde die bereits bekannten Informationen noch mal überprüft werden. Oder durch einen Weiterdreh, also eine Berichterstattung, die weitere offen gebliebene Fragen aufgreift.
So schafft es beispielsweise ein Interview von SPD-Chef Sigmar Gabriel in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, etwa der Berliner Morgenpost, in dem er sich über die politische Einstellung von AfD-Anhängern äußert, innerhalb kürzester Zeit auch auf viele andere Internetseiten.
Das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass alle Seiten das Interview jeweils selbständig ausgewertet haben. Das übernehmen Nachrichtenagenturen. Sie fassen das Interview zusammen, greifen einzelne Aussagen auf und werten das Interview auf bestimmte Aspekte hin aus, etwa: Was sagt Gabriel zu einem aktuellen Thema? Was sagt er, was er so bisher nicht gesagt hat? Wo hat er seine Meinung geändert? Welche Pläne verkündet er? Wie äußert er sich zu Konflikthemen? Dementsprechend entstehen in den Agenturmeldungen auch verschiedene „Drehs“ ein und desselben Interviews. So stellten andere Meldungen Gabriels Meinung zur Nachfolge von Bundespräsident Joachim Gauck in den Mittelpunkt.
Gerade an Wochenenden, an denen nicht besonders viel passiert, wie im Fall des Gabriel-Interviews, stürzen sich dann auch viele Seiten im Netz entweder auf das Originalinterview oder auf die Auswertung von Nachrichtenagenturen – im Fall von Gabriel waren es Reuters, dpa, EPD, KNA und AFP. Mindestens eine dieser Agenturen hat jede professionelle Redaktion im Land abonniert. So landet die Nachricht in kürzester Zeit im Netz. Eine eigenständige Beschäftigung mit den Äußerungen Gabriels ist damit oft erst mal nicht verbunden.
Was sich verändert hat
Susanne Gaschke, die die Berichterstattung auch aus der Perspektive der Politikerin kennt, die sie als Kieler Oberbürgermeisterin vorübergehend war, erzählte beim Forum ausführlich, was sich ihrer Beobachtung nach verändert hat. Themenkonjunkturen griffen in die Berichterstattung ein – und zwar, wenn es so viel gleichgerichtete Berichterstattung gebe wie in der Affäre um den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff oder der Medientenor, die SPD komme nicht mehr hoch aus den Trümmern.
„Vor zwanzig Jahren, wenn ich mich recht erinnere, als ich anfing, Journalistin zu sein, da war es so: Wenn man ne super Geschichte in der Süddeutschen Zeitung gelesen hatte und damit zum Ressortleiter ging und sagte: Ah, da würde ich auch gerne was drüber machen, das ist ja toll. Dann sagte der: Ja, wenn sie einen gänzlich neuen Aspekt entdecken können, also wirklich etwas, ansonsten ist das ja die Geschichte der Süddeutschen Zeitung. Und heute werden Sie in der Redaktionskonferenz eher ein erbostes ‚Warum haben wir das nicht?‘ erleben.
Dadurch ergebe sich eine freiwillige gleiche Richtung der Berichterstattung. Lügenpresse sei der falsche Vorwurf, aber das Gefühl einer sehr starken Gleichgerichtetheit bei den Themen.
Panel-Moderatorin Bettina Klein warf ein, dass sich auch das Mediennutzungsverhalten geändert habe, also nicht jeder Bürger mehrere Tageszeitungen lesen würde (um auch wie von Susanne Gaschke als Beispiel genannt in der Süddeutschen Zeitung auf eine interessante Geschichte zu stoßen). Stattdessen werde Journalismus in Häppchen konsumiert.
Tatsächlich ermöglicht es die Art und Weise, wie Journalisten gegenseitig Recherchen weiterverbreiten, sich nicht mehr breit und bei mehreren Medien informieren zu müssen. Nach dem Motto: Wenn etwas passiert in der Welt, kann ich es bei SPIEGEL online finden. Schließlich aggregiert die Seite auch Nachrichten von anderen Medien. Und nicht nur die, auch bei Mailadressenanbietern wie Webmail und GMX finde ich heute etwas, das man als Nachricht ansehen kann. Und die Interessen von Nutzern geben den Portalbetreibern recht. Geklickt wird nicht mehr nur das, was exklusiv ist. Geklickt wird auch das, was bei allen anderen geklickt wird. Dementsprechend wird es oft gemacht.
Im US-Spielfilm „Moment der Wahrheit“ („Truth“) gibt es eine Szene, die das in einem Schlaglicht veranschaulicht. Der Film beschäftigt sich mit den Recherchen der Journalistin Mary Mapes, die 2004 nachzuweisen versuchte, dass sich der amtierende US-Präsident George W. Bush in den 70er Jahren ein Jahr lang unerlaubt von der Armee ferngehalten und versucht habe, einen Einsatz im Vietnamkrieg zu vermeiden. Mapes und ihr Rechercheteam sitzen zusammen und verfolgen einen Fernsehbericht, der sich mit ihrem eigenen Fernsehbericht beschäftigt. Charles sagt (laut Drehbuch):
„This is what our business is now. Reporting on reporting. Why break news when you can just talk about other news? Thirty minutes from now, someone’s gonna do a story on this guy doing a story on us. And then they’ll all win Peabodies.“
Passiver vs. aktiver Journalismus
Der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV), Frank Überall, sagte in einer anderen Diskussionsrunde beim Kölner Forum, dass das auch mit Arbeitsbedingungen zu tun habe. Es gebe zu wenig Journalisten, deswegen würden diejenigen, die in der Redaktion säßen, nur noch schnell die Agenturmeldungen übernehmen; damit klinge es überall gleich.
Der Medienwissenschaftler Uwe Krüger von der Universität Leipzig sprach von einem „normalen, passiven Journalismus“, der das Handeln von Institutionen abbildet. Am jeweiligen Korrespondentenstandort sei das das „Umschaufeln des Materials“, das anfalle. Das sei zwangsläufig eher passiv, man verlasse sich eher auf die Quellen, die Konstellationen der Meinungen der Akteure vor Ort. In bestimmtem Maße gilt das sicherlich für Auslandskorrespondenten.
„Das Gegenstück dazu ist der investigative Journalismus, der sich Zeit nimmt, der alles umgräbt, der zweifelt an Aussagen von Akteuren, an Prämissen von Diskursen, der dann eben mal einen großen Haufen macht. Aber dieser Haufen wird häufig überspült von diesem täglichen Rapportieren dessen, was Eliten tun, zum Beispiel Politikeliten.“
Das sei ein Großteil dessen, was in Tagesschau und Heute vorkomme. Damit kaufe man sich ganz viele Sachen mit ein, die in der Politik mit drinliegen.
„Und wenn Politik zum Beispiel den Kontakt zur Bevölkerung verliert und wenn gegen die Interessen von großen Teilen der Bevölkerung Politik gemacht wird und Medien das abbilden und diese Politik erklären, dann ernten sie genau dasselbe Unverständnis wie die Politik erntet.“
Der eigentliche Frust, sagt Krüger, sei die Politik. Dies sei etwa deutlich geworden, als die ZDF-Journalistin Dunja Hayali eine AfD-Demonstration besucht und dort Stimmen eingefangen habe.
Und Susanne Gaschke ergänzt, dass Journalisten auch grundsätzlich mit einem Interesse an Konflikten an ein Thema herangehen würden und dann versuchten, das den Zuschauern zu vermitteln.
„Es gibt ganz viel Berichterstattung, die grundiert ist mit einem Misstrauen, mit Unverständnis oder Misstrauen für bestimte politische Vorgänge. Wenn ich den Leuten aber immer nur beschreibe, wie blöd das alles ist, dann finden sie es natürlich auch blöd. Auch deshalb finden sie auch die Medien nicht mehr so doll, denn die Leute, die einem immer nur negative Nachrichten bringen, die schlecht erklären, die mir auch nicht helfen, das zu verstehen, die muss ich auch nicht mehr kaufen, vor allem, weil ich ja das ein oder andere auch umsonst im hochgeschätzten Internet kriege.“
Nachtrag, 22. Juni: Vera Linß beschäftigt sich in der WDR5-Sendung „Politikum“ mit einem verwandten Aspekt: Sie kritisiert, dass Journalisten Ausschnitte aus Politiker-Podcasts für ihre Berichterstattung verwenden und damit ihre Kontrollfunktion vernachlässigen.
Update: Ich habe diesen Beitrag am 19. Juni durch die Szene aus dem Film „Moment der Wahrheit“ aktualisiert.
Update: Am 21. Juni habe ich noch die Meinungsäußerung von Frank Überall eingearbeitet.
Über Fehler von Journalisten wird an vielen Stellen gesprochen – nicht erst, seit bei Pegida von der „Lügenpresse“ die Rede ist und bei der AfD von der „Pinocchiopresse“. Auf Fachtagungen und Konferenzen kommt das Thema dagegen meiner Wahrnehmung nach zu kurz.
Diese Lücke will das Kölner Forum für Journalismuskritik schließen. Im vergangenen Jahr gab es die Premiere, am morgigen Freitag geht es in die zweite Runde. Veranstaltet wird sie vom Deutschlandfunk und der Initiative Nachrichtenaufklärung. Ein paar Erkenntnisse werde ich hier im Laufe der nächsten Tage bloggen.
Zum Auftakt stimmt Deutschlandradio-Intendant Willi Steul auf die Konferenz ein. Er fordert in seinem Grußwort von Journalisten mehr Selbstbewusstsein bei ihrer Arbeit ein. Das erfordere permanente Selbstkritik: „Guter Journalismus entsteht immer auch im Widerspruch zu gängigen Meinungen.“
Hey, das lief ja gut für den Bielefelder Rechtsanwalt Detlev Binder. Er vertritt Wilfried W., der in seinem Haus in Höxter zwei Frauen zu Tode gequält haben soll.
Binder macht seinen Job richtig: Er verteidigt seinen Mandanten. Es steht ihm frei, dessen Version in die Öffentlichkeit zu geben. Auch wenn es manch einem merkwürdig erscheinen mag, dass er einen Teil der Verantwortung auf die Polizei abwälzt, darf er das tun. Wahrscheinlich hätte er aber nicht gedacht, dass ihm viele Medien so willfährig folgen und seine Version fast ungefiltert weitergeben.
„Das Täterpaar wollte die Frau freilassen und fuhr mit ihr zur Polizeiwache“, heißt im Anreißer zum Link. Tat es das wirklich? Wollte es das wirklich? Die Indikative im Satz legen das nahe. Aber wir wissen es nicht; die einzige Quelle dafür ist parteilich.
Auch der Tagesspiegel erweckt mit seiner Überschrift den Eindruck von Tatsachenbehauptungen:
Der Stern versteckt immerhin den Urheber der Aussagen in der Dachzeile:
Sowohl Focus als auch Spiegel tun dann aber auch kaum anderes, als die Aussagen des Anwalts wiederzugeben. Zwar gibt es den Hinweis darauf, dass sich die Polizei wegen der laufenden Ermittlungen nicht dazu äußern möchte. Aber beide geben dem Tatverdächtigen breiten Raum, ohne den Vorwürfen eine zweite Meinung oder Fakten entgegenstellen zu können. Und rücken damit die Polizei in den Mittelpunkt des Falls.
Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt. Die Journalisten wissen es auch nicht. Was sich der Leser denkt: keine Ahnung.
Vorwürfe erheben kann jeder. Aber es liegt in der Verantwortung von Journalisten, diesen Vorwürfen entweder nachzugehen und sie zu erhärten – oder die Geschichte erst mal liegenzulassen.
Aber sie klang einfach zu spektakulär. Vielleicht wusste Detlev Binder das.
Wie können wir in Zukunft im Netz noch debattieren, wenn viele Diskussionen von Reichsbürgern, Trollen, Hatern, ewig Unzufrieden, Whataboutism-Nutzern und anderen zerschossen werden? Gibt es Ideen, diese Leute wieder für ernsthafte inhaltliche Diskussionen zu gewinnen oder – wenn nicht – sie zumindest von bestimmten Diskussionen fernzuhalten?
Auf der Republica und der Media Convention in Berlin ist Anfang Mai viel darüber diskutiert worden. Dabei wurden auch Perspektiven aufgezeigt für eine bessere Debattenkultur im Netz. Denn ein Netz ganz ohne Debatten – das geht nicht, findet Carline Mohr, die bis April das Social-Media-Team bei bild.de geleitet hat und ab Juni bei Spiegel online arbeitet.
Drei Punkte, denen in Berlin viele Social-Media-Redakteure zugestimmt haben.
1. Klar Kante zeigen
Klar Kante zeigen heißt: Beleidigungen, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Aufruf zu Gewalttaten und andere strafbare Inhalte konsequent ausblenden und gegebenenfalls auch juristisch verfolgen. Keine neue Idee, aber immer noch notwendig. Denn es gibt Nutzer, die sind auf anderem Wege nicht mehr für eine Debatte zurückzugewinnen, findet auch Carline Mohr.
Auch Jörg Heidrich, Justitiar beim Onlineportal Heise in Hannover, entdeckt in den Foren von heise.de immer wieder Einträge von Nutzern, die den Rahmen dessen überschreiten, was noch als erlaubte Meinung durchgehen kann. Diese Beiträge würden schnell gelöscht.
Volksverhetzung, Aufruf zu strafbaren Handlungen, Beleidigungen sollte man auch weiter nicht hinnehmen, sagt Heidrich.
2. Mit den Lesern sprechen
Viele Nutzer vertreten allerdings durchaus Meinungen, die zwar noch von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, aber die Diskussion vergiften können. Ihre Beteiligung beschränkt sich darauf, auf ihrer Meinung zu beharren, ohne sie argumentativ zu stützen. Ich habe dazu hier schon mal geschrieben:
…oft vermisse ich schon die Bereitschaft, überhaupt nur über die Meinung zu diskutieren. (…) Meistens (…) fehlt den Nutzern die kognitive Fähigkeit, sich über ein Thema auseinanderzusetzen. Selten wird ein sachliches Argument genannt, oft mit modernen Whataboutisms abgelenkt, wird mit Gefühlen, Klischees und Vorurteilen argumentiert, die sich niemand durch Fakten widerlegen lassen möchte.
Heike Gallery, bei ZEIT online zuständig für Social Media, sagte auf der Media Convention in Berlin, man müsse sich mit den Lesern und Nutzern austauschen. ZEIT online versuche, einen öffentlichen Raum herzustellen mit der Community, in dem Austausch möglichst sei, sachlich und konstruktiv.
Im Eröffnungspanel hat Frank Richter, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen, diese Gesprächsbereitschaft noch weiter gefasst. Zum Thema „Gesellschaft – it´s broken, let´s fix it!“ sagte er, vielen Menschen, die sich bei AfD und Pegida darüber beklagen würden, dass ihre Stimme nicht wichtig sei, würden sich wertgeschätzt fühlen, wenn sie endlich einmal öffentlich sagen könnten, was sie meinen, und dafür Zustimmung fänden (im Video ab Min. 8´24).
3. Die eigene Community stärken
Entsprechend versuchen seit einiger Zeit ZEIT online und sueddeutsche.de, ihre Community zu stärken.
Bei der Süddeutschen Zeitung können seit anderthalb Jahren nur noch ausgewählte Beiträge online kommentiert werden. Daniel Wüllner, Teamleiter Social Media und Leserdialog, findet das für eine gezielte und konstruktive Diskussion außerordentlich praktisch, denn gerade zu den am meisten diskutierten Themen eines Tages gebe es oft mehrere Beiträge – zum Beispiel ein aktuelles Stück, einen Hintergrund, Reaktionen und einen Kommentar. Würde man dort jeweils separat diskutieren, gäbe es gleich mehrere Diskussionsstränge zum selben Thema. Stattdessen bündelt sueddeutsche.de diese Beiträge zu einem einzigen Diskussionsstrang. Zieht sich ein Thema über mehrere Tage hin, könnten an jedem Tag verschiedene Aspekte diskutiert werden.
Heike Gallery von ZEIT online empfindet die Verengung der Themen, über die man bei sueddeutsche.de diskutieren kann, als nicht zeitgemäß. Es handle sich um das klassische Gatekeeper-Modell, weil Journalisten bestimmten, worum es gehen soll. Nutzer würden sich dann lieber andere Seiten suchen, um über die Themen zu diskutieren, die sie wichtig fänden, etwa bei Facebook. Gallery will die Leser aber lieber bei zeit.de halten, um die Hoheit über die Inhalte zu behalten und sich wie im Fall von Facebook nicht von einem US-Unternehmen abhängig zu machen.
Die ZEIT stärkt ihre Community, indem sie aus Kommentaren ihrer Nutzer kleine Boxen bastelt, die sie zum Beispiel per Twitter verbreitet.
Vorteil dieser Communitys: Jeder Kommentar wird gelesen, bevor er veröffentlicht wird.
4. Sich helfen lassen
Bei Facebook geht das nicht: Die Kommentarfunktion kann nicht abgeschaltet werden, und jeder Post geht direkt online. Je nach Medium, je nach Thema, je nach Mobilisierung der Nutzer ist es für die Redaktionen unmöglich, alle Kommentare zu lesen. Da wäre eine technische Hilfe wünschenswert, die Redakteuren kritische Kommentare zur Begutachtung vorlegt.
Ein Forschungsprojekt an der Universität Münster will da weiterhelfen. Der Wirtschaftsinformatiker Sebastian Köffer entwickelt einen Algorithmus, der Kommentare mit Hatespeech und Propaganda herausfiltern soll. Das ist gar nicht so leicht, denn Sprache ist längst nicht eindeutig, so dass ein Algorithmus direkt versteht, wie brisant ein Kommentar ist.
Schwierig wird es vor allem dadurch, dass Mehrdeutigkeit, Wortschöpfungen, Sarkasmus und Verneinungen schwer zu erkennen seien, sagt Köffer.
In solchen Fällen können auch Metadaten helfen. Die zeigen zum Beispiel, ob Profile gerade erst angelegt und Texte hineinkopiert wurden – und das bei vielen Profilen kurz nacheinander, was auf den Einsatz bezahlter Kommentatoren hindeutet.
Bis das Instrumentarium einsetzbar ist, kann es aber noch einige Zeit dauern. Und Köffer sagt, dass es nicht unbedingt auf allen Plattformen einsetzbar ist. Facebook zum Beispiel hat massenhaft Daten und Metadaten, um sich selbst ein solches Instrumentarium zu schaffen und anzuwenden. Was da passiert, wisse man aber nicht, so Köffer.
5. Mit Journalismuskritik umgehen
Eine besondere Herausforderung bei der Umgang mit Kommentaren stellt sich dann, wenn sich die Kritik von Nutzern gegen die eigene Arbeit richtet, man also in eigener Sache argumentieren muss. Journalisten geraten dann leicht in Erklärungsnot, weil Nutzer oft Dinge bemängeln, die entweder
nicht in der Verantwortung der Journalisten liegen (also wenn sie die Meinung maßgeblicher Protagonisten wiedergeben, die von Nutzern als unerwünscht angesehen werden – wenn also der Überbringer der Nachricht dafür geschlagen wird)
oder immanenter Bestandteil journalistischer Arbeit sind (schnelle Erstberichterstattung zunächst ohne Einordnung und Reaktionen)
oder vage Vorwürfe erheben (tendenzielle Berichterstattung zugunsten bestimmter Gruppen, ohne das zu belegen)
Es gibt freilich auch berechtigte Kritik. Die New York Times hat sich dafür vier Jahre lang eine Ombudsfrau geleistet. Margret Sullivan hat Fragen von Nutzern aufgegriffen, die Stichhaltigkeit der Anfragen und Vorwürfe geprüft und Redakteure weitergeleitet, die zur Antwort verpflichtet waren. Auch SZ-Redakteur Daniel Wüllner kann sich ein solches Amt vorstellen. Er sieht aber auch gewisse Probleme, dafür jemanden Vertrauenswürdigen zu finden, der sich sowohl bei Nutzern als auch bei den Journalistenkollegen unbeliebt macht.
Denn die gibt es. Geredet darüber wird aber immer noch viel zu wenig von Journalisten selbst. In gewisser Weise nicht verwunderlich, denn ausgerechnet dann, wenn Journalisten sich selbstkritisch zu dem äußern, was sie recherchiert, veröffentlicht und kommentiert haben, bekommen sie besonders harsche Kritik, wie sie etwa der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer im „Spiegel“ geäußert hat.
„Spiegel“: Warum sind in letzter Zeit bei Ihnen immer die Medien schuld, wenn etwas schiefläuft?
Seehofer: Weil es ein Problem bei den Medien gibt, vor allem bei den öffentlich-rechtlichen. Überspitzt gesagt: Wenn die nicht Livesendungen hätten, dann hätten sie wenige der Lebenswirklichkeit entsprechende Programminhalte. Das ZDF musste wegen der Berichterstattung über Köln sein Bedauern zum Ausdruck bringen. Die ARD hat erklärt, ja, es stimmt, wir haben viele flüchtende Frauen und Kinder gezeigt, aber nicht im selben Maße die Männer, die viel häufiger nach Deutschland kamen. Zum Teil gab es eine Berichterstattung, die wenig mit der Realität zu tun hatte.
Seehofer kritisierte damit ausgerechnet das, was in diesem Fall ARD und ZDF ohnehin schon selbstkritisch eingeräumt hatten. Stefan Niggemeier kommentierte das auf uebermedien.de so:
Denn eigentlich wollen wir doch, dass Medien sich endlich zu mehr Selbstkritik durchringen. Dass sie öffentlich einräumen, wenn sie Fehler gemacht haben; dass sie sich gegebenenfalls entschuldigen; dass sie zu ihren Versäumnissen stehen.
Was ist aber, wenn diese Eingeständnisse ausschließlich als Munition gegen diejenigen verwendet werden, die sie äußern? Wenn sie nicht als Indiz dafür genommen werden, dass sich die Verantwortlichen kritisch mit ihrer eigenen Arbeit auseinandersetzen, sondern als vermeintlichen Beleg dafür, dass die Situation so schlimm ist, dass selbst die Verantwortlichen nicht mehr alles leugnen können?
Im vorigen Jahr wurde das Kölner Forum für Journalismuskritik ins Leben gerufen. Einen Tag lang wurde darüber diskutiert, wie Journalisten mit Kritik an ihrer Arbeit umgehen können und was sie daraus lernen. In diesem Jahr geht die Veranstaltungsreihe in die zweite Runde. Am 10. Juni wird im Kölner Funkhaus des Deutschlandfunks darüber diskutiert – diesmal mit prominenten Gästen wie der ehemaligen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD), der Journalistin und ehemaligen Oberbürgermeisterin von Kiel, Susanne Gaschke, und dem DJV-Vorsitzenden Frank Überall.