Warum keine Krise trotzdem eine Chance sein kann

Die Vertrauenskrise der Medien existiert nicht. So lautet zugespitzt das Ergebnis einer Analyse der Kommunikationswissenschaftler Carsten Reinmann und Nayla Fawzi von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität im Berliner Tagesspiegel vom 24. Januar. Das spoilert schon der Titel ihres Artikels: „Eine vergebliche Suche nach der Lügenpresse“.

Auch wenn ich die Ergebnisse ihrer Analyse nachvollziehbar finde, teile ich doch ihre Schlussfolgerung nicht, dass die Lügenpresse-Rufer trotz ihres möglicherweise geringen Anteils an den Mediennutzern größtenteils ignoriert werden sollten.

Es gibt diese Vertrauenskrise, aber sie ist entgegen gängiger Annahmen im Großen und Ganzen ohne bewusstes Zutun entstanden, weder Nutzer noch Journalisten haben ihren Anteil daran, müssen aber mit den Konsequenzen leben. Denn als Folge der digitalen Revolution ist offensichtlich geworden, dass sich beide Seiten offenbar auch früher schon nicht verstanden, aber immerhin mehr oder weniger gegenseitig vertraut haben.

Lassen Sie mich zur Erklärung ein wenig ausholen – mit Hilfe der Analyse von Reinmann und Fawzi.

Sie beginnen mit der Frage, ab wann eine Krise eine Krise ist, und versuchen, anhand von Umfragen festzumachen, wie Mediennutzer zu Medien stehen. Umfragen des NDR-Medienmagazins „Zapp“ vom Dezember 2014 und aus der „Zeit“ vom Juni 2015 halten sie aus Gründen für nicht belastbar, unter anderem wegen der Art der Fragestellung. Zahlen der European-Values-Studie lieferten eher Belege für das Gegenteil.

Erstens steht ein Großteil der Deutschen der Presse und dem Fernsehen schon seit Jahrzehnten eher skeptisch gegenüber. Zweitens konnten Zeitungen und Rundfunk seit der Etablierung des Internets an Vertrauen gewinnen. Drittens hält sich der Anteil von Skeptikern und Vertrauenden etwa die Waage, wenn auch mit einem leichten Übergewicht für die Skeptiker.

In meiner zugegeben individuellen Auseinandersetzung mit Mediennutzern spiegelt sich auch wieder, was Reinmann und Fawzi unter anderem anhand dieser Umfragedaten konstatieren: dass die Befragten unter „den Medien“ längst nicht alle dasselbe verstehen. „Die Medien“ kommen so pauschal formuliert wesentlich schlechter weg als wenn nach einzelnen Zeitungen oder Sendungen gefragt wird.

Offenkundig lädt diese Formulierung eher zu Pauschalurteilen ein und die Befragten denken bei ihren Antworten unter Umständen an ganz unterschiedliche Medien, beispielsweise an Soziale Netzwerke, die die meisten Menschen für deutlich weniger glaubwürdig halten als die klassischen Nachrichtenmedien wie die Tagespresse und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Hierin sehe ich ein Indiz für fehlende Medienkompetenz der Nutzer, von denen viele offenbar nicht in der Lage sind, verschiedene Mediengattungen voneinander zu unterscheiden und ihre Informationsquellen im Hinblick auf Vertrauenswürdigkeit und Wahrheitsgehalt zu beurteilen. Es fehlt die Fähigkeit zur Quellenkritik, über die ich bereits früher geschrieben habe. Eine Fähigkeit, die sie früher nicht brauchten, weil sie zu bestimmten Medien und Sendungen Vertrauen hatten. Vertrauen ist in diesem Zusammenhang das Gegenteil von Kontrolle. Weil letztere heute möglich ist, schwindet das Vertrauen. Dazu gleich mehr.

Auch zwei weitere Thesen der beiden Forscher teile ich. Sie führen die erfragte Wahrnehmung der Nutzer auf die Intensität zurück, „mit der Medien mittlerweile im Internet attackiert werden“. Die Kommentare seien dagegen nicht repräsentativ, weder für Nutzer noch für die Bevölkerung.

Das glaube ich auch nicht. Aber eine Kritik an schlechter Berichterstattung muss nicht von vielen geteilt werden, wenn sie berechtigt ist. Und das ist sie in einem weitaus größeren Teil der Fälle als Journalisten es eingestehen. Viele ignorieren das aber. Das verstärkt die Aversionen der kritischen Nutzer – vor allem die, deren Meinung uns noch etwas wert sein sollte, eben weil sie fair und konstruktiv mit uns umgehen.

Auf der anderen Seite sorgt die anhaltende Medienkritik dieser nicht repräsentativen Gruppe aber meiner Meinung nach dafür, dass wir auch bei der sogenannten schweigenden Mehrheit an Glaubwürdigkeit einbüßen könnten. Wenn eine Gruppe lauthals immer wieder „Lügner“ brüllt, glauben schließlich alle, dass da was dran sein muss. Besonders, wenn unsere Verteidigung im Einzelfall schlecht ist. Dieser Diskussion sollten wir uns also stellen.

Deswegen glaube ich auch, dass aus der Kritikwelle neue Aufgaben für Journalisten erwachsen. Ich fürchte, dass wir uns der Skepsis auch von Minderheiten annehmen und auf sie eingehen müssen, um unsere Glaubwürdigkeit zu behalten bzw. zurückzugewinnen. Dabei geht es nicht nur darum, wie aktuell in der Flüchtlingspolitik Gerüchten nachzugehen und sie zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern ganz allgemein, unsere Arbeit stärker zu erläutern:

Von welchem Standpunkt aus berichten wir über ein Ereignis? Warum haben wir uns dafür entschieden, welche Informationen wir berichten und welche wir weglassen? Welche Meinungsäußerungen zum Ereignis halten wir für berichtenswert und warum? Welche nicht? Welchen Effekt haben journalistische Darstellungsformen auf die Wahrnehmung unserer Arbeit (Was ist ein Kommentar? Was ist die Rolle eines Interviewers)?

Wer glaubt, dass per se objektiv berichtet werden kann, missversteht die journalistische Notwendigkeit, auszuwählen und zu gewichten. Das gilt auch für den, der glaubt, dass es „die Wahrheit“ gibt, die unabhängig von einem Standpunkt existiert und zweifelsfrei festgestellt werden kann. Auch dies immer wieder deutlich zu machen und damit auf Dauer für mehr Medienkompetenz von Nutzern zu sorgen, wird in Zukunft zu unseren Aufgaben gehören. Denn die Fähigkeit zur seriösen Quellenkritik sollten nicht nur Journalisten haben.

Wenn unsere Arbeit insofern transparent wird, könnten wir die Stärken unserer Qualifikation ausspielen, wie ich es bereits in diesem Blog schon mal gefordert habe:

Der entscheidende Unterschied zwischen Journalisten und Nicht-Journalisten liegt meiner Meinung nach für einen Großteil dessen, worüber wir tagtäglich berichten, nicht mehr im Zugang zu Informationen, sondern in der Fähigkeit, diese zu interpretieren und in Zusammenhang zu setzen.

Wie das praktikabel im Alltag umgesetzt werden soll, dafür habe ich im Moment auch noch keine Lösung. Denn jede Erläuterung zu den Umständen der Berichterstattung geht auf Kosten des eigentlichen Themas.

Ich komme zu meiner Ausgangsthese zurück: Die digitale Revolution hat das Verhältnis zwischen Journalisten und Nutzern verändert. Während Nutzer glauben, selbst die Quellen von Journalisten beurteilen zu können, das auch tun und die Arbeit von Journalisten für bestenfalls überflüssig erklären, dabei aber oft nicht in der Lage sind, diese Quellen zu interpretieren und Zusammenhänge richtig herzustellen, ignorieren viele Journalisten und Medien den dadurch entstandenen Bedarf, ihre eigene Arbeit zu erklären, zu verteidigen oder eigene Fehler einzugestehen.

Dass es so nicht bleiben kann, sollte beiden Seiten klar sein. Vielen Nutzern ist es klarer als vielen Journalisten. Aber die Verpflichtung liegt eben auf beiden Seiten.

Was für die Seite der Journalisten gilt, habe ich bereits erläutert. Das konstatieren im Wesentlichen auch die Kommunikationswissenschaftler Carsten Reinmann und Nayla Fawzi von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, und zwar „um nicht im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung eine tatsächliche Vertrauenskrise auszulösen“.

Ihren Schlussworten, die an die Seite der Nutzer gerichtet ist, schließe ich mich an:

Und Mediennutzer sollten sich klarmachen, dass eine andere Meinung noch keinen schlechten Journalisten macht und jeder Nutzer, der sich in die öffentliche (Online-)Debatte einbringt, selbst Verantwortung dafür übernehmen muss, welche Qualität diese Debatte entwickelt.

Vertuschung – der perfide Vorwurf, der immer funktioniert

Dass sich viele Menschen von Politik, Polizei und Medien getäuscht und bevormundet fühlen, hat sich vor allem nach den Übergriffen in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof gezeigt. Weil die Berichterstattung schleppend anlief, stand schnell der Vorwurf im Raum, die Vorfälle hätten vertuscht werden sollen. Die Polizei hat zumindest die mögliche Herkunft der Täter einige Zeit lang nicht angegeben.

Auch im Fall eines 13-jährigen Mädchens in Berlin, das laut ersten Gerüchten von mehreren Männern vergewaltigt worden sein soll, wurden die Vorwürfe der Vertuschung erhoben. Auch befeuert vom russischen Staatsfernsehen. Die Polizei sprach zwar lange von möglichen Straftaten, sah aber keine Hinweise für die behaupteten Taten und hielt sich ansonsten aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes bedeckt.

+++ Information zum Vermisstenfall einer 13-Jährigen +++In den letzten Tagen ist uns aufgefallen, dass das Interesse…

Posted by Polizei Berlin on Montag, 18. Januar 2016

Mittlerweile hat die Polizei nach eigenen Angaben ermittelt, dass das Mädchen nicht einmal freiwillig Sex gehabt hat. Die Vorwürfe, die nach dem russischen Staatsfernsehen auch der russische Außenminister Sergej Lawrow geäußert hat, stimmen offenbar nicht. Lawrow hatte seinen Ausführungen hinzugefügt, Informationen seien verschwiegen worden.

Abgesehen von der Ermittlungslage ist der Vorwurf perfide. Denn Menschen, die ihn erheben, glauben in der Regel einerseits, dass alle Fakten ermittelbar und recherchierbar sind. Andererseits erwarten sie auch, dass diese Fakten unmittelbar veröffentlicht werden können – ohne Rücksicht etwa auf das Opfer, dessen Interessen sie zu vertreten behaupten, das sie aber scheinbar nur instrumentalisieren wollen.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen kommentierte diese Phänomen des „Sofortismus“ im Interview mit dem Tagesspiegel anlässlich der Ereignisse von Köln so:

Ich glaube, dass die beschämenden, furchtbaren Attacken auf Frauen in Köln und in anderen Städten den blitzschnellen Deutungszwang unserer Tage identifizierbar gemacht haben, den kommentierenden Sofortismus. Damit meine ich – im Angesicht oft unsicherer, aber sofort verfügbarer Informationen – die Ad-hoc-Interpretation mit maximalem Wahrheitsfuror.

„Sofortismus“ heißt: Die Menschen suchen sich scheinbare Informationen, um Erklärungen zu bekommen; Fakten sind das aber nicht. In genau diese Lücke stoßen Populisten, die sich vor allem in sozialen Netzwerken zu Wort melden und von Unterdrückung von Informationen sprechen. Mit maximalem Erfolg, denn:

Der Vorwurf einer Vertuschung ist nicht zu widerlegen.

Er ist perfekt für seine Urheber. Und er funktioniert fast immer. Meiner Meinung nach oft nach folgendem Muster:

1. Die Ankläger behaupten, es gebe Fakten, die der Öffentlichkeit absichtlich verschwiegen werden.

Angenommen wird, dass diese (im Zweifel: alle) Fakten bekannt sind und bewusst zurückgehalten werden. Dass Polizei, Politikern und Journalisten nicht alle Fakten vorliegen könnten, wird grundsätzlich verworfen: Was existiert, ist auch bekannt.

2. Die Ankläger glauben, diese Fakten zu kennen.

Sie stellen keine Fragen, sondern fordern eine Bestätigung dessen, was sie annehmen. Im Fall der Übergriffe in Köln wurde gefordert, die nach Zeugenangaben nordafrikanische oder arabische Herkunft der Täter zu nennen. Ein Fakt bleibt das bis zur Ermittlung und rechtskräftigen Verurteilung der Täter nicht. Gleiches gilt für den Aufenthaltsstatus der Täter.

3. Die Ankläger akzeptieren nur die Bestätigung der eigenen Annahmen.

Wenn sich Gerüchte durch polizeiliche Ermittlungen oder journalistische Recherchen als falsch herausstellen, fühlen sich die Ankläger erst recht darin bestätigt, dass etwas vertuscht wird.

4. Es gibt nie genug Wahrheiten.

Selbst wenn die eigenen Annahmen bestätigt wurden, reicht das oft nicht. Denn es kann ja immer noch Informationen geben, die vertuscht werden. Weil man nicht beweisen kann, dass es etwas nicht gibt, bleiben die Vorwürfe bestehen.

5. Der Fokus des Vorwurfs verschiebt sich.

Selbst wenn alle Fakten offenliegen und als wahr anerkannt werden, lässt sich im Zweifel immer noch das Tempo der Aufklärung kritisieren. Dann heißt es, es sei nicht schnell genug berichtet oder ermittelt worden. Das zeigt sich auch im Fall des 13-jährigen Mädchens aus Berlin. Russlands Außenminister verlangte, früh über die Ermittlungen informiert zu werden. Offen bleibt, wann. Jeden Zeitpunkt, an dem Lawrow tatsächlich hätte informiert werden können, kann er im Nachhinein als „zu spät“ bezeichnen und noch frühere Information fordern.

Der Vorwurf der Vertuschung ist somit ein perfides Mittel, um sich im politischen Meinungskampf unangreifbar zu machen und um nicht aus der Offensive in die Defensive zu geraten.

Aber steckt dahinter nicht eher der Wunsch, in unsicheren Zeiten sofortige Gewissheit zu erlangen, wie es Pörksen im Interview mit dem Berliner Tagesspiegel beschrieb?

Hier offenbart sich ein Dilemma, dem man gar nicht entkommen kann: Ungewissheit und Unsicherheit sind in der digitalen Gesellschaft der informationstechnisch produzierte Dauerzustand – und gleichzeitig eben doch kognitiv unaushaltbar. Das macht die Haltegriffe eingeschliffener Denkweisen so attraktiv.

Und die Denkweisen werden meiner Wahrnehmung nach oft von eigenen Vorurteilen und Gerüchten genährt. Weil wir auf der Suche nach Erklärungsmustern gar nicht anders können als auf das zurückzugreifen, was wir unmittelbar verfügbar haben. Ich nehme mich da nicht aus.

Fraglich ist, wie Journalisten damit umgehen sollten. Verweigert man sich einer weitergehenden Aufklärung, weil der Fall nach journalistischen Maßstäben aufgeklärt ist, bleibt der Vertuschungsvorwurf bestehen. Genausowenig kann man aber jeder neuen Anklage nachgehen, auch wenn Journalisten möglicherweise in Zeiten wie diesen vermehrt Gerüchten hinterherrecherchieren müssen, nur um sie zu widerlegen.

Was bleibt uns außer der Gegenrede?

Wer von Vertuschung spricht, den sollte man fragen: Was soll vorgeblich vertuscht werden? Woher weißt du, was vertuscht wird, wenn es doch nicht bekannt sein kann? Welche Informationen fehlen dir? Gibt es belastbare Belege für deine Version? Wenn ja, welche? Wenn nein, warum änderst du deine Meinung nicht?

Wenn an dem Fall wirklich nichts dran ist, überzeugen wir den Ankläger im besten Fall davon. Dazu muss er aber eine Fähigkeit zeigen, die es im Netz immer seltener zu geben scheint: die Fähigkeit, seine Meinung zu ändern.

Journalisten als Gerüchtberichterstatter

Aus Anlass des erfundenen Falls eines toten Flüchtlings vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin (Lageso) stellt sich die Frage, ob wir uns wieder stärker dem Zwei-Quellen-Prinzip zuwenden sollten. Das besagt, dass eine Information nur dann als gesichert oder überhaupt berichtet werden darf, wenn zwei voneinander unabhängige Quellen die Fakten bestätigen.

Ann-Kathrin Büüsker dröselt den Fall in Berlin noch mal auf und stellt dar, dass es durchaus Anlass gibt, die von einem Flüchtlingshelfer behauptete und von einer Hilfsorganisation gestützte Version für wahrscheinlich zu halten.

Wir kennen die Zustände dort aus den vergangenen Monaten zu Genüge. Die Vorstellung, dass dort ein Mann wegen mangelnder Versorgung erkrankt und an den Folgen stirbt, sie ist nicht völlig aus der Luft gegriffen.

Weil die Meldung zusätzlich intensiv in sozialen Netzwerken diskutiert wird, werden Journalisten darauf aufmerksam. Gesprächswert ist schließlich auch ein Relevanzkriterium, auch wenn fraglich ist, wie repräsentativ solche Themen in den Filterblasen des Netzes wirklich sind.

Die Berichterstattung beginnt, dem Vorwurf des Flüchtlingshelfers und seiner Organisation wird die Mitteilung der Behörden entgegengestellt, dass sie den Todesfall nicht bestätigen können.

Denn ja – alle Beteiligten haben versucht die Geschichte „hart“ zu kriegen, die Verwirrung aufzulösen. Doch es ging nicht. Über Stunden hinweg reine Verwirrung, Spekulation, keine Bestätigung.

So Ann-Kathrin Büüsker. Haben Journalisten hier gegen das Zwei-Quellen-Prinzip verstoßen? Oberflächlich schon, weil sie keine Bestätigung für die Vorwürfe haben finden können. Nach der reinen Lehre hätten sie also nicht über den Fall berichten dürfen.

Streng genommen gab es jedoch eine zweite Quelle, denn die Polizei kam ja zu Wort. Allerdings hatte die abweichende Informationen. Und es ist durchaus auch Aufgabe von Journalisten, über ungeklärte Faktenlagen und widersprüchliche Informationen zu berichten.

Ein zweiter Aspekt kommt hinzu: Wir weichen schon seit Jahren immer wieder vom Zwei-Quellen-Prinzip ab. Und zwar dann, wenn der Journalist Tatsachen selbst beobachtet hat und zweifelsfrei beschreiben kann. Das ist zum Beispiel bei Augenzeugenberichten der Fall, wozu ich beispielsweise auch Bundestagssitzungen zähle, die der Journalist selbst verfolgt hat.

Und drittens: Bei Meinungsäußerungen sind wir nicht so streng. Wenn CSU-Chef Horst Seehofer von „massenhaftem Asylmissbrauch“ spricht, ohne Beweise vorzulegen, geben wir das weiter, ohne die Stichhaltigkeit zu prüfen. Und auch wenn der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) den Medien vorwirft, ein „Schweigekartell“ zu bilden, wird das ohne konkrete Belege seinerseits berichtet.

Nichts anderes ist im Berliner Fall passiert, nur dass der Urheber des Gerüchts weniger prominent ist. Journalisten haben berichtet, gestern Abend kam dann nach polizeilichen Ermittlungen heraus, dass an den Vorwürfen nichts dran ist.

Eines lässt sich unter anderem daran jedoch ablesen: In Zukunft wird es verstärkt Aufgabe von Journalisten sein, Gerüchten nachzugehen. Diese in die Welt zu setzen ist über soziale Medien sehr leicht geworden; sie finden schnelle Verbreitung, besonders, wenn sie plausibel erscheinen (wie im Lageso-Fall) oder Vorurteile bedienen (wie in vielen Fällen, in denen es um Vorwürfe gegen Flüchtlinge geht).

Journalisten kommen zunehmend schwieriger an solchen Vorwürfen vorbei, zumal schnell die Rede von Vertuschung ist. Einige Lokalmedien haben bereits damit begonnen, in regelmäßig erscheinenden Rubriken konkrete Gerüchte zu recherchieren. Auch die Tagesschau als überregionales Medium hat Gerüchte aufgegriffen. In einigen Fällen stimmten sie, in mehr Fällen stimmten nur einige Details, in vielen weiteren gab es keinerlei Belege für die behaupteten Fakten.

Verantwortung dafür tragen nicht nur diejenigen, die die Gerüchte in die Welt setzen, sondern auch die, die sie ungeprüft weiterverbreiten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte das so:

Manche Fehler macht man, weil man etwas nicht weiß. Und andere, weil man etwas nicht wissen will. Von Letzterem ist hier die Rede, weil die Polizei in Deutschland derzeit viel zusätzliche Arbeit damit hat.

 Und eben zunehmend auch Journalisten. Das NDR-Medienmagazin „Zapp“ zitiert den Kommunikationswissenschaftler Matthias Kohring von der Universität Mannheim:

„Für diese Menschen bietet der klassische Journalismus keine einfachen Rezepte an. Die Welt ist halt komplex, es gibt keine einzig mögliche Deutung, man muss auch Widersprüche aushalten, es gibt nicht schwarz oder weiß, es gibt grau, und ich glaube, dass sehr viele Menschen damit nicht zurechtkommen.“

Erreicht man also diejenigen gar nicht, die Gerüchte in die Welt setzen, sie weiterverbreiten oder sie zumindest lesen? Zapp-Autor Bastian Berbner findet: Teilweise wohl schon.

Da das Publikum aber nicht nur aus Gerüchteverbreitern besteht, ist es journalistisch natürlich trotzdem sinnvoll, unwahre Behauptungen anhand von Fakten zu widerlegen, auch wenn man den harten Kern so nicht erreicht.

Vor allem für überregionale Medien bleibt die Frage, wann sie solche Gerüchte aufgreifen. Hier greifen neben den klassischen journalistischen Kriterien wie der Frage nach der Relevanz auch solche, die auf die Logik der sozialen Netzwerke eingehen: Wie stark sind die Gerüchte verbreitet und wo, welche überregionale Bedeutung haben sie, wie massiv sind die Vorwürfe oder wie absurd – vielleicht zu absurd, um ihnen nachzugehen. Wahrscheinlich werden es Einzelfallabwägungen sein – wie immer im Journalismus.

 

Nachtrag, 14.35 Uhr: Dennis Horn hat sich bei WDR Digitalistan damit beschäftigt, wie solchen Fakes im Netz wirksam begegnet werden kann. Er schlägt unter anderem eine Art Anti-Fake-Behörde vor.

Lasst uns reden – aber wirklich reden!

Nach den vagen Äußerungen der WDR-Kollegin Claudia Zimmermann, die Politik nehme direkten Einfluss auf die Berichterstattung zum Thema Flüchtlinge, haben freie WDR-Kollegen eine virtuelle Unterschriftenliste im Netz ins Leben gerufen.

Auf einer weiteren Seite kann über das Thema diskutiert werden. Dabei finden sich ganz unterschiedliche Meinungsäußerungen. Die meisten davon sind leider wieder voller Vorwürfe, allerdings ohne (konkrete) Belege oder Hinweise darauf, wieso man das annimmt.

„Niemand gibt Euch politische Vorgaben. Muss die Redaktion doch auch gar nicht, denn viele von Euch wissen was die Redaktion von euch erwartet“

„Wenn es nicht so wäre, dass die Journalisten eine politischen Vorgabe bekommen würden, wieso dann dieser Brief, um die Bestätigung des Gegenteils.Man muss einfach mal zwischen den Zeilen lesen.“

„Bei letzteren müssten wir davon ausgehen, dass beim WDR ausschließlich freie Mitarbeiter beauftragt werden, die nach einer Gesinnungsprüfung aus intrensischen Bedürfnissen Tatsachen verdrehen, Blickwinkel manipulierend ausrichten und häufiger mal die Unwahrheit sagen.“

„es gibt glaube ich einen Druck/Erwartungshaltung so zu berichten wie der Chef (Intendant) es gut findet. Nur so macht man Karriere oder bekommt schöne Aufträge.“

Man müsste dem bei den wenigen, die sich in diesem Forum an der Diskussion beteiligen, vielleicht keine große Aufmerksamkeit schenken, wenn die Kommentare nicht exemplarisch wären für das, was Journalisten immer wieder vorgeworfen wird.

Es wäre schön, wenn man sachlich darüber diskutieren könnte – genau das ist es doch eigentlich, was Leser/Hörer/Zuschauer/Nutzer wollen. Allerdings erschweren zwei Dinge eine sachliche Diskussion:

  1. Die Beleidigungen und Unterstellungen, die statt sachlicher Fragen oder der Schilderung von persönlichen Eindrücken den ernsthaften Willen zur Auseinandersetzung fraglich erscheinen lassen.
  2. Das Fehlen jedeweden Belegs. Es wird selten mal konkret dargelegt, wieso man glaubt, dass in diesem oder jenem Fall Politiker Einfluss auf einen bestimmten Beitrag genommen haben. Was soll man darauf antworten? Journalisten berichten über Fakten und Meinungen und brauchen dafür Belege. Vermutungen sind keine Fakten, mehr liefern auch Nutzer leider nicht – weder zu Sachthemen noch zu diesem Metathema.

Viele Journalisten – definitiv nicht alle – sind dialogbereit. Aber man muss ihnen auch eine Chance für den Dialog geben: nicht mit Vorwürfen beginnen, konkret sein, Fragen stellen, die eigene Position hinterfragen. Ich versuche das auch.

Meinungsfreiheit: Warum man nicht sagen darf, was man sagen will

Text mit geschwärzten Stellen. Die ungeschwärzten Wörter ergeben den Satz "Warum man nicht sagen darf, was man sagen will."
So kann Zensur aussehen.

Artikel 5
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Eine der häufigsten Klagen, die Anhänger von Pegida und AfD, aber auch andere, vor sich hertragen, lautet: Man darf nicht sagen, was man will. Und dann sagen sie anschließend meistens, was sie wollen. Was ich richtig finde, denn ich bin für Meinungsfreiheit. Allerdings finde ich nicht, dass sie eingeschränkt ist.

Wer das behauptet, übersieht, wie lange wir bereits über die angeblichen Tabuthemen wie Ausländerkriminalität, Parallelgesellschaften, Islamismus und angebliche Redeverbote sprechen (um nur Thilo Sarrazin als Beispiel zu nennen, der viel Platz und Sendezeit für seine angeblichen Tabuthemen bekam).

Ich finde allerdings, dass der Klage über mangelnde Meinungsfreiheit mehrere Missverständnisse zugrundeliegen.

Missverständnis Nr. 1:
Die Meinungsfreiheit gilt uneingeschränkt

Nein, das tut sie nicht. Wer den ersten Absatz des Artikels 5 des Grundgesetzes heranzieht, um sich zu rechtfertigen, muss auch den zweiten berücksichtigen.

(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

Bestimmte Äußerungen sind zum Schutz jedes einzelnen verboten, nicht zum Schutz des Staates. So darf niemand beleidigt werden (§ 185 Strafgesetzbuch) oder das Andenken eines Verstorbenen „verunglimpft“ werden (§ 189 StGB), wie es juristisch etwas gestelzt heißt.

Missverständnis Nr. 2:
Meinungsfreiheit gilt auch für Lügen

Seien wir froh, dass sie dafür nicht gilt. Wer Lügen über andere Verbreitung, kann wegen übler Nachrede (§ 186 StGB) oder Verleumdung (§§ 187 und 188 StGB) bestraft werden. Das Verbreiten von Lügen ist keine Meinungsäußerung – zurecht.

Missverständnis Nr. 3:
Ich bin für die Folgen meiner Meinungsäußerung nicht verantwortlich

Wenn ich dazu aufrufe, Politiker, Richter, Priester und Journalisten mit Mistgabeln außer Landes zu jagen, und jemand tut das tatsächlich, kann ich mich schön zurücklehnen. Ich habe das ja nicht getan.

Wenn allerdings immer wieder zu Gewalt gegen bestimmte Menschen aufgerufen wird, fühlt sich tatsächlich irgendwann irgendjemand dazu berufen. Das zeigen nicht nur die deutsche Geschichte, sondern aktuell auch die zahlreichen Anschläge auf Flüchtlingsheime und Angriffe auf Journalisten. Die Täter fühlen sich durch Aufrufe in ihrem Handeln legitimiert; diejenigen, die dazu aufgerufen haben, sprechen von Einzelfällen. Es ist eine perfide Arbeitsteilung ohne jedes Schuldbewusstsein.

Für solche Fälle gibt es § 130 StGB, der Volksverhetzung unter Strafe stellt. Dort wird bestraft, wer „den öffentlichen Frieden“ stört, indem er

1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder

2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet

Wer durch diese Regeln zum Schutz Einzelner oder von Gruppen eine Einschränkung seiner Meinungsfreiheit beklagt, dem ist nicht zu helfen. (Ob dagegen die im Gesetz weiter aufgeführten Sonderregeln für Nazis sinnvoll sind, behandelt Heinrich Schmitz bei „The European“.)

Missverständnis Nr. 4:
Meinungsfreiheit gilt nur für mich

Ich habe oft den Eindruck, dass es Menschen, die mangelnde Meinungsfreiheit beklagen, eigentlich um etwas anderes geht: Sie möchten ihre Meinung unwidersprochen sagen dürfen. Sie möchten ihre Meinung sagen dürfen, wollen sich Reaktionen aber nicht anhören, zum Beispiel, weil sie sich „in die rechte Ecke gestellt fühlen“.

Sie pochen auf das Recht, zum Beispiel sagen zu dürfen, dass alle Ausländer Verbrecher seien. Wenn ihr Gegenüber daraufhin sein Recht auf freie Meinungsäußerung nutzt und ihnen Rassismus vorwirft, weisen sie das als unzulässig zurück. Zur Meinungsfreiheit gehört aber, auch die Meinungen anderer zu tolerieren. Man muss sie nicht teilen, aber man darf anderen nicht das Recht absprechen, das man selbst nutzen möchte.

Beweise für diese weit verbreitete Haltung sind leicht zu finden. Kaum sagt irgendein Journalist in einer Zeitung, einem Fernseh- oder Radiosender seine Meinung (in der paradoxerweise zunehmend weniger akzeptierten Darstellungsform des Kommentars), schlägt ihm geballter Hass entgegen, wie er es überhaupt wagen könne, diese Meinung zu äußern. Leicht nachzulesen in den Kommentarspalten.

Geradezu mustergültig erlebte das die NDR-Redakteurin Anja Reschke, als sie am 5. August in den „Tagesthemen“ ihren Kommentar zur Hetze gegen Flüchtlinge sprach. Es lohnt sich, den Wortlaut noch einmal zitieren:

Wenn ich jetzt hier öffentlich sage: Ich finde, Deutschland soll auch Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen. Was glauben Sie, was dann passiert? Es ist nur eine Meinung; die darf man äußern. Schön wäre also, wenn darüber sachlich diskutiert würde. Aber so würde es nicht laufen. Ich bekäme eine Flut von Hasskommentaren.

Und sie kam. Dabei hatten viele Kommentatoren Reschkes Appell nicht einmal verstanden. Sascha Lobo fasste das bei Spiegel online so zusammen:

Die Aussage von Reschke richtete sich gegen Hetze und Gewalt, sie wurde in den negativen Kommentaren aber als Appell betrachtet, alle Flüchtlinge aufzunehmen.

Reschke wurde das Recht abgesprochen, ihre Meinung zu sagen.

Missverständnis Nr. 5:
Die freie Meinungsäußerung ist Selbstzweck

Die Freiheit, eine Meinung äußern zu dürfen, ist kein Zwang. Niemand muss seine Meinung öffentlich äußern, es muss sogar niemand eine haben. Wer jedoch damit in die Öffentlichkeit geht, sollte bereit sein, mit seiner Meinung umzugehen: Sie zu verteidigen oder sie zu ändern – und zwar mit Argumenten.

Doch oft vermisse ich schon die Bereitschaft, überhaupt nur über die Meinung zu diskutieren. Hin und wieder packt es mich und ich antworte auf zweifelhafte Tweets. Tatsächlich gelingt selten auch mal eine sachliche Diskussion, sofern die per Twitter in der Kürze des Formats möglich ist. Meistens aber fehlt den Nutzern die kognitive Fähigkeit, sich über ein Thema auseinanderzusetzen. Selten wird ein sachliches Argument genannt, oft mit modernen Whataboutisms abgelenkt, wird mit Gefühlen, Klischees und Vorurteilen argumentiert, die sich niemand durch Fakten widerlegen lassen möchte.

Neuestes Beispiel: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung soll in diesem Artikel die Nationalität des Täters zuerst genannt und später wieder gelöscht haben. Schwierig nachzuprüfen. Ich kann aus dem Artikel auf Grundlage des jetzigen Ermittlungsstandes nicht erkennen, wieso sie für die Tat eine Rolle gespielt haben sollte. Dabei teile ich die Haltung von Stefan Niggemeier:

Wer (…) darauf besteht, bei jeder Tat einen möglichen Migrationshintergrund des Täters zu nennen, will nicht die Wahrheit wissen und verbreiten. Er will die komplexe Realität auf eine einfache „Wahrheit“ reduzieren.

Und er will offenbar auch jedes individuelle Motiv des Täters verleugnen. Einigen Twitterern, mit denen ich daraufhin schrieb, war die Erwähnung der Nationalität aber extrem wichtig, ohne dass sie begründen konnten, warum. Regelmäßig das Ende der Argumente, leider auch das Ende der Auseinandersetzung.

Missverständnis Nr. 6:
Eine Zensur findet statt

Stellen Sie sich folgendes vor: Sie laden mich zu sich nach Hause ein. Plötzlich beginne ich, hasserfüllt über Frauen zu reden. Oder über Schwule. Oder über Lehrer. Ich werde laut, brülle rum. Vermutlich würden Sie mich rauswerfen. Darf ich mich jetzt über Zensur beklagen? Ich habe zwar das Recht auf meine Meinung, Sie aber auch das Recht, mich dafür rauszuwerfen; Sie müssen meine Meinung in Ihrem Haus nicht dulden.

Nichts anderes tun Medien, die Hasskommentare auf ihren Webseiten und ihren Social-Media-Präsenzen löschen. Sie üben ihr Hausrecht aus. Mit Zensur, die schon per Definition durch den Staat und bereits vor Veröffentlichung erfolgt, hat das nichts zu tun, schreibt auch der Jurist Heinrich Schmitz bei „The European“:

Genauso wenig hat es mit Zensur zu tun, wenn man z.B. einen beleidigenden Kommentar in einem sozialen Netzwerk von seiner eigenen Seite löscht. Das ist ja nicht der Staat, der da eingreift, sondern der Seiteninhaber. Niemand hat das Recht, andere zu beleidigen oder ihnen seine Sicht der Dinge aufzuzwingen. Und von niemandem kann verlangt werden, dass er sich von anderen beleidigen lässt.

Jeder hat einen Anspruch darauf, seine Meinung zu sagen – aber niemand den Anspruch, dass sie gehört wird.

Es gehört zur Pressefreiheit jedes Blattes, selbst zu entscheiden, wen es schreiben lässt und wen nicht. Gäbe es hier Eingriffe, dann wäre das übel. Wer die Pressefreiheit so verstehen will, dass jede Zeitung oder Zeitschrift verpflichtet wäre, seine eigene Meinung zu veröffentlichen, der hat schlicht ein Rad ab.

Demokratie ist ein Wettstreit der Meinungen. Wer mit seiner Meinung alleine bleibt, hat selten Anspruch darauf, weiter gehört zu werden.

Man wird ja wohl noch sagen dürfen…

…dass Zensur in Deutschland eine Tatsache ist. Auch das darf man (Art. 5 GG). Recht bekommt man damit aber nicht. Wer in einem Land wie Deutschland lebt, in dem man ungestraft sagen darf, dass es Zensur gibt, tritt den besten Beweis dafür an, dass dem nicht so ist. Man kann die Einschränkungen, die es gibt, kritisieren, auch wenn ich dazu wenig Anlass sehe. Aber ernsthaft behaupten, man dürfe nicht sagen, was man wolle, ist Unsinn. Zumal man in keiner Diktatur die Gelegenheit bekommt, so etwas ohne Konsequenzen zu behaupten. Heinrich Schmitz spricht von einer

Beleidigung all der Menschen auf der Welt, die wirklich unter staatlicher Zensur leiden. Die für die Meinungsfreiheit eingesperrt, gefoltert und getötet werden. Einzelne Politiker, die versuchen, unmittelbar auf die Medien einzuwirken, werden bei uns schnell geoutet und blamieren sich damit bis auf die Knochen. Dieses Herbeijammern der falschen Behauptung „Zensur“ zu einer Tatsache ist ein widerlicher Zynismus mit einem allzu durchsichtigen Werbekonzept.

Aber natürlich ist auch das in einem Land, das die Meinungsfreiheit schützt, erlaubt und wird nicht zensiert. Nachbeten muss man das trotzdem nicht.

Können wir aus #koelnhbf lernen? Müssen wir es überhaupt?

Wahrscheinlich liegt mein Fehler schon darin, dass ich glaube, dieser Text könne irgendetwas bei denen ändern, die sich ohnehin schon ihre Meinung gebildet haben. Die glauben, dass Medien heute tatsächlich in der Lage seien, Vorfälle wie die in Köln zu „vertuschen“. Also Ereignisse aus den Schlagzeilen zu halten, bei denen es wahrscheinlich mehr als hundert Opfer gegeben hat (von mehr als 90 Anzeigen wissen wir bisher), bei denen es noch mehr Zeugen gegeben haben muss, bei denen mehr als hundert Polizisten im Einsatz waren, die in sozialen Medien und in Videos dokumentiert wurden.Wer so etwas tatsächlich „vertuschen“ wollen würden, bräuchte deutlich andere Mittel als die, die Medien zur Verfügung stehen – der müsste staatliche Zensur ausüben und nicht nur Medienberichte unterbinden, sondern auch das Internet kontrollieren und in der Lage sein, die Meinungsäußerung von Bürgern zu unterbinden.Leider scheint es Menschen zu geben, die genau das annehmen und dabei Medien lieber bewusste „Manipulationen“ zu unterstellen als anzunehmen, dass es plausible Gründe dafür gibt, dass die Berichterstattung nur schleppend anlief.Eins noch vorweg: Die Diskussion hat sich in den vergangenen Tagen stärker um die Täter und die Rolle der Medien gedreht und zu wenig um die Opfer. Deswegen will ich kurz Sabine Henkel zu Wort kommen lassen, die u.a. bei hr-info, im WDR und im NDR kommentierte:

Die Übergriffe von Männerhorden auf Frauen in Köln haben auch etwas – Achtung – Gutes! Ja, richtig gehört. Gut ist, dass den Opfern geglaubt wird. Einfach so. Ohne Nachfrage, wie sonst so oft. Ob sie, die Frauen, denn nicht vielleicht auch irgendwie selbst Schuld haben könnten und so weiter und so fort. Nein, diesmal der Aufschrei durch Polizei und Politik: Frauen wurden sexuell belästigt! Unmöglich. Das ist ohne Zweifel ein Kollateralgewinn dieser abscheulichen Vorfälle.

Auch ich lehne die Taten ab und bin beunruhigt, dass so etwas passieren kann. Da es in diesem Blog aber um Medien gehen soll, konzentriere ich mich auf die Berichterstattung über die Vorfälle.

Was ist “die Wahrheit”?

Ich habe im Laufe des Dienstags u.a. die Facebook-Seite des Deutschlandfunks betreut. Dort erreichten uns Dutzendfach Vorwürfe, wir würden nicht über „die Wahrheit“ berichten und zum Beispiel nicht sagen, dass es sich bei den Tätern um Flüchtlinge handle.

Das ist bemerkenswert, denn offenbar werden an Medien Maßstäbe angelegt, an die sich viele Nutzer selbst nicht halten wollen. Wer glaubt, „die Wahrheit“ zu kennen, soll bei der Polizei Anzeige erstatten; viele Nutzer wissen offenbar mehr als Journalisten und Ermittler. Für viele Menschen stehen Tatsachen fest; sie akzeptieren nicht, dass Medien vorsichtig berichten, indem sie sich beispielsweise bei ihren Angaben auf die Polizei oder auf Zeugen berufen. Da bisher nachweislich keiner derjenigen Täter gefasst wurde, die bei den Übergriffen beteiligt gewesen sind (es gab zwar Festnahmen, allerdings zu anderen Zeitpunkten, so dass ein Zusammenhang möglich, aber eben nicht nachgewiesen ist), ist auch beispielsweise völlig offen, ob es sich um Flüchtlinge handelt.

Genau so hat auch der Deutschlandfunk berichtet: dass die Täter unbekannt seien. Dabei haben wir durchaus nicht verschwiegen, dass es sich bei den Tätern nach den Aussagen vieler Zeugen um nordafrikanisch oder arabisch aussehende Männer gehandelt habe. Dabei haben wir möglicherweise sogar den Pressekodex überstrapaziert, weil ein Zusammenhang zwischen der Herkunft der Täter und der Tat noch gar nicht nachgewiesen werden konnte.

In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.

Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.

Gerade der letzte Satz innerhalb dieser Richtlinie ist es, der Journalisten aus Erfahrung vorsichtig werden lässt. Denn, um nur einen von vielen Tweets zu zitieren, für die genannten Taten braucht es keinen Zusammenhang zur Nationalität der Täter.

Dass der Presskodex so strikt ist, hat seine Gründe. Wie man an den tatsächlichen Reaktionen sehen kann, seit Augenzeugenberichte über das Aussehen der Täter in der Welt sind, passierte genau das: Viele Kommentatoren im Netz machten aus „nordafrikanisch und arabisch aussehenden Männern“ gleich Flüchtlinge, stellten einen Zusammenhang zum anhaltenden Flüchtlingsstrom fest und forderten zum Teil Dinge, die strafbewehrt sind.

Doch die Standards des Pressekodex seien längst erodiert, schreibt Daniel Bax in der taz.

Denn in Zeiten von sozialen Medien und Internet ist es ohnehin eine Illusion zu glauben, bestimmte Informationen ließen sich außen vor lassen. Und unter dem Druck der rechten Gegenöffentlichkeit aus dem Netz, die schnell mit dem Vorwurf bei der Hand ist, „die Medien“ würden aus falsch verstandener Toleranz und „politischer Korrektheit“ die Verbrechen von Migranten verschweigen oder schönfärben, sind auch seriöse Medien im vorauseilendem Gehorsam dazu übergegangen, die Herkunft von Straftätern offensiv zu benennen – jedenfalls, so lange es sich um migrantische Straftäter handelt.

Dass seriöse Journalisten grundsätzlich zögern, Zusammenhänge herzustellen, wo sie nicht zutreffen, kommentierte das Prinzessinnenblog zutreffend:

Im Journalismus geht es nicht um Klicks, sondern um Fakten. (…)

Pro-Tipp: Fakten sind das, was gesichert feststeht. (…)

Einmal verbreitete Schlagzeilen können übrigens nicht ungeschrieben gemacht werden. Der Eindruck, dass 1000 Flüchtlinge in Köln Frauen mindestens belästigten, ist das, was bleibt. Für immer, egal, wie viele erklärende Artikel jetzt nachgeschoben werden.

Wieso hat es so lange gedauert?

Dass es drei Tage gedauert hat, bis die Ereignisse ihren Weg in die sogenannten überregionalen Medien gefunden haben, mag bedauerlich sein, hatte aber seine Gründe. Im Nachhinein zu sagen, dass es zu lange gedauert hat, ist verständlich, wird aber der Nachrichtenlage nicht gerecht.

“Die Welt“ hat die Informationspolitik der Polizei dokumentiert. In der ersten Pressemitteilung der Polizei am 1. Januar um 8.57 Uhr wurde noch von einer entspannten Einsatzlage gesprochen, auch wenn von einer Räumung des Bahnhofsvorplatzes die Rede war.

Kurz vor Mitternacht musste der Bahnhofsvorplatz im Bereich des Treppenaufgangs zum Dom durch Uniformierte geräumt werden. Um eine Massenpanik durch Zünden von pyrotechnischer Munition bei den circa 1000 Feiernden zu verhindern, begannen die Beamten kurzfristig die Platzfläche zu räumen.

Aus dieser Meldung lassen sich die Ereignisse nicht ablesen. Wer glaubt, dass Medien ständig und überall Journalisten im Einsatz haben, die hätten feststellen können, dass diese Informationen nicht stimmen, täuscht sich massiv über die finanziellen Mittel von Medien. Auch wer ihnen vorwirft, vermehrte Rückmeldungen von Frauen in sozialen Netzwerken ignoriert zu haben, verkennt die Möglichkeiten von Journalisten, den Überblick über die Flut von Postings zu haben, um daraus Zweifel an der oben genannten Darstellung zu haben.

Das Magazin “Cicero” hat sich mit einem Artikel zu Köln nicht mit Ruhm bekleckert, in einem anderen dagegen durchaus, in dem Petra Sorge die Abläufe zusammengefasst und einige Dinge richtig gestellt hat, die im Laufe der Zeit durcheinandergeraten sind:

Die Gruppe wuchs bis 23 Uhr auf 1000 Personen an. In keiner der drei bislang veröffentlichten Pressemitteilungen ging die Polizei auf diese große Zahl ein; die Aussage fiel lediglich mündlich auf der Pressekonferenz.

Vor und nach der Räumung des Bahnhofsplatzes durch die Polizei sei es aber zu den sexuellen Übergriffen gekommen, sagte ein Behördensprecher Cicero. „Ob diese Täter zu den 1000 Leuten gehören, wissen wir aber noch nicht“.

Tatsächlich taucht die Zahl von „1000 Feiernden“ in Pressemitteilungen der Polizei auf, auch in der oben zitierten. Es wurde aber nicht behauptet, dass nicht nur die Täter, sondern die gesamte Gruppe ein „nordafrikanisches oder arabisches Aussehen“ gehabt habe.

Diese Zahlen und Beschreibungen sind teilweise ineinander gerutscht, so dass zum Beispiel von “1000 Männern mit nordafrikanischem oder arabischem Aussehen” die Rede war. Das ist selbstverständlich nicht richtig. Auch handelte es sich nicht um 1000 Täter, sondern um Täter aus einer Gruppe von 1000 Menschen.

Der NDR-Nachrichtenkollege Michael Draeger hat in seinem Blog die Abfolge der Ereignisse dokumentiert. Auch er schreibt:

Wurde über die Angriffe nicht ausreichend berichtet? Die Medien bei solchen Themen immer auf die Informationen der Polizei angewiesen. Nur sie hat den Überblick, wie viele Anzeigen oder Vorkommnisse es gab. Die allgemeinen Lageberichte sind für die Presse dagegen nicht zugänglich.

Auch er verweist auf die Tatsache, dass Journalisten eben nicht alles wissen können. Einzelfälle, die es schon nach der reinen Zahlen nach den ersten Anzeigen in Köln waren, haben, so verabscheungswürdig das ist, aber zunächst einmal keine überregionale Bedeutung, die eine Berichterstattung auch in bundesweiten Medien rechtfertigen würde. Erst die Dimension der Vorfälle machte die Vorfälle auch überregional relevant. Michael Draeger:

Augenzeugenberichte bei Facebook sind zwar ein guter Anfang für eine Recherche, mehr aber auch nicht. Wenn mehrere Leute dort von vielen schlimmen Szenen berichten, die Polizei aber nur einzelne Fälle bestätigen kann, ist für die Medien Zurückhaltung geboten. Sie können von einzelnen Fällen berichten, von überregionaler Bedeutung ist das Thema dann aber nicht. Die bekommt es erst durch die Dimension der Übergriffe.

Und diese Dimension wurde erst nach und nach bekannt, je mehr Anzeigen eingingen. Da die Taten am Hauptbahnhof stattfanden, ist es nicht überraschend, dass die Opfer nicht nur aus Köln stammen; es dauerte offenbar einige Zeit, bis die Anzeigen, die bei anderen Polizeidienststellen erstattet wurden, auch nach Köln gemeldet und in die Statistik aufgenommen werden konnten.

Tatsächlich ist die Berichterstattung nur schleppend angelaufen; wir sollten darüber nachdenken, welche Gründe es dafür gibt. Es ist sicherlich nicht nur der Informationspolitik der Polizei anzulasten, sondern auch der durch Erfahrung genährten journalistischen Skrupeln, dass einzelne Taten von Ausländern als repräsentativ für ihr Herkunftsland genommen werden. Auch dass Zahlen und Begriffe durcheinander geraten sind, darf nicht passieren, auch wenn es wegen oft vager Bezeichnungen (“nordafrikanischer Herkunft”, “Migranten”, “Flüchtlinge”) verständlich ist.

Unzweifelhaft ist aber auch, dass heutzutage eine andere Art der Berichterstattung eingefordert wird. Die Nutzer wollen sich selbst ihre Meinung bilden, welche Rolle die Herkunft der mutmaßlichen Täter für ihre Tat spielt. Dabei lässt sich nicht vermeiden, dass viele ihr Weltbild bestätigt sehen.

Wie kritisieren wir Medien?

Die Kritik an den Medien ist jedoch oft sehr undifferenziert und macht es Journalisten nicht leicht, damit umzugehen. Pauschale Anwürfe wie “Lügenpresse” helfen überhaupt nicht, Fehler zu beheben und auf Vorwürfe zu antworten. Viele Nutzer sind nicht in der Lage, ihre Kritik so zu formulieren, dass sie produktiv umgesetzt werden kann. Auch sie werfen Zahlen und Formulierungen durcheinander, zitieren ganze Sätze, auch wenn sie nur einzelne Wörter bemängeln, erinnern sich falsch an das, was sie im Radio gehört haben und reagieren beleidigt, wenn man sie darauf hinweist. Ein produktiver Umgang ist so nur selten möglich, auch wenn ich ihn wünschenswert finde. Genauso wie einzelne Formulierungen, die Nutzern aufstoßen, dazu führen, dass sie den ganzen ansonsten seriösen Beitrag oder gar das Medium nicht mehr ernst nehmen, führt undifferenzierte Kritik von Hörern dazu, dass Journalisten ihre berechtigten Punkte nicht mehr wahrnehmen.

Allerdings machen es Medienkritiker durchaus nicht immer besser. So schrieb der Publizist David Berger auf der Meinungsseite von Roland Tichy unter der ursprünglichen Überschrift „Wie Massenvergewaltigungen in der Silvesternacht zum deutschen Medien-Supergau wurden“. Eine Medienkritik, die selbst mit diesem fulminant gelogenen Titel beginnt, kann man nicht ernst nehmen. Die Seite ist noch über den Link dieses ehemaligen Titels zu erreichen, auch wenn dieser inzwischen geändert wurde.

Stefan Niggemeier hat den ursprünglichen Antext des Artikels dokumentiert*:

Niemand hatte eine Massenvergewaltigung verschwiegen – weil es sie nicht gab. In einer späteren Fassung wurde daraus “Massengewalt”. Von Verschweigen war weiterhin die Rede. Womit sich der Zirkel schließt: Als wenn “Vertuschen”, was den Medien vorgeworfen wird, heute noch möglich wäre.

Was wir jetzt tun könnten – können wir?

Was können wir aus der Berichterstattung über Köln lernen?

1.   Wir sollten unsere Arbeit von Anfang an transparent machen. Wenn wir ein solches Thema erst nach drei Tagen aufgreifen, müssen wir begründen, warum. Sei es, dass Tatsachen erst dann bekannt wurden, sei es, dass die Dimension des Themas (wie in diesem Fall) erst dann klar wurde.

2.   Wir sollten stärker vermitteln, dass es “die Wahrheit” nicht gibt. Die Dinge sehen unterschiedlich aus, je nachdem, von wo aus man sie betrachtet. Und ein Journalist kann genauso wenig seinen eigenen Standpunkt mit seinem Wissen, seinen Erfahrungen, seinen Haltungen verlassen wie er seinen eigenen Schatten abschütteln kann. Und jeder Nutzer kann das ebensowenig.

3.   Wir sollten stärker einfordern, dass unsere Standards auch für Nutzer gelten müssen. Einerseits bemängeln sie, dass wir gegen journalistische Grundsätze und den Pressekodex verstoßen, etwa wenn wir in der Berichterstattung über den Germanwings-Absturz Grenzüberschreitungen begangen haben, andererseits zögern sie selbst nicht, Gerüchte zu Tatsachen umzudeuten. Ob die Forderung des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen, wir müssten zu einer “redaktionellen Gesellschaft” werden, wirklich eintrifft, wage ich dennoch zu bezweifeln.

4.   Wir sollten uns noch mal darüber klar werden, dass die Nennung der Herkunft von Tätern für viele Nutzer wichtig ist, auch wenn sie im Detail noch unklar ist und auch wenn sie nichts mit der Tat zu tun hat. Wie man trotzdem rassistischen Vorurteilen begegnet, weiß ich allerdings auch nicht. Wahrscheinlich kann man sie weder vermeiden, wenn man die Nationalität nennt, noch, wenn man sie nicht nennt.

5.   Wir sollten uns aus der Frontstellung zwischen Journalisten und Nutzern herausbringen und stattdessen einen partnerschaftlichen Dialog etablieren. Nur dann kann das verloren gegangene Vertrauen wiederhergestellt werden. Hinzu kommt, dass wir die Nutzer dazu anleiten sollten, differenzierte Kritik zu äußern. Wie das allerdings gehen soll – keine Ahnung.

Lasst uns weiter drüber reden.

* Im ursprünglichen Post auf stefanfries.tumblr.com war der Tweet nur als Bild eingefügt, hier jetzt eingebettet.

Die Vertrauenskrise der Medien: Versuche einer Therapie

Dass ein Teil der Leser, Hörer, Zuschauer das Vertrauen in die Arbeit von Medien verloren hat, lässt sich nicht abstreiten. Bei einer Konferenz in Berlin versuchten Journalisten und Wissenschaftler, die Ursachen zu ergründen und Auswege zu finden.
Dass ausgerechnet ein Politiker für den größten Lacher bei der Konferenz sorgte, mag ungewöhnlich sein. Dass es Bundestagspräsident Norbert Lammert war, weniger. Er erzählte davon, wie ein Fernsehsender im Sommer während der Wagner-Festspiele in Bayreuth berichtete, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe einen Schwächeanfall erlitten.

Minuten später steuerten andere Medien schnell angeblich Details aus Bayreuth teil. Die Kanzlerin sei in der Pause in einem Restaurant vom Stuhl gefallen, sie habe unter dem Tisch gelegen, sie sei – hieß es hier und da in einzelnen Meldungen – minutenlang bewusstlos gewesen. Von einem Kollapsdrama – Zitat – war die Rede, von einem Schockmoment. Mehrere Personen hätten sofort Erste Hilfe geleistet, darunter Bundestagspräsident Norbert Lammert. Usw. Also ich war dabei. Das ist das einzige, was an dieser Meldung zutrifft. Zusammengebrochen ist nicht die Kanzlerin, sondern der Stuhl. Und meine strenge Vermutung ist, wenn wir zwischen Kanzlerstühlen und Kanzlerstürzen wieder etwas sorgfältiger unterscheiden würden, wächst vielleicht auch das Vertrauen in die Veranstaltung.

Für Lammert illustriert diese Geschichte den Alarmismus, den er im Journalismus sieht. Der Bundestagspräsident war als einer von zwei Politikern Gast bei der Konferenz „Formate des Politischen. Medien und Politik im Wandel“, die vom Deutschlandfunk, der Bundespressekonferenz und der Bundeszentrale für politische Bildung ausgerichtet wurde. Die Vertrauenskrise ist in Lammerts Augen hausgemacht – und zwar von Journalisten wie auch von Politikern. Er sieht eine „Neigung, Probleme nicht nur zu entdecken, sondern als die jeweils größten zu behaupten“. Gerade Oppositionspolitiker, aber auch Journalisten sagen dann, die Probleme seien seit langem absehbar gewesen – ob es um die Ukraine gehe, Griechenland oder die Flüchtlinge. „Ich fürchte, das schafft kein Vertrauen, und zwar weder in der Politik noch in den Medien.“

Dabei ist Lammert jemand, der die Sache noch relativ differenziert betrachtet. Auf Pegida-Aufmärschen in Dresden, bei AfD-Demonstrationen in Erfurt und in Kommentarspalten im Internet gibt es deutlich mehr Gegenwind für Journalisten. Das Schlagwort lautet: Lügenpresse.

Woher kommt die Kritik?

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen spricht im Zusammenhang mit diesem Wandel vom Publikum als der „fünften Gewalt“; er spricht von „der neuen Macht des Publikums. Denn vor allem durch das Internet könnten sich Leser, Hörer, Zuschauer heute stärker selbst zu Wort melden und auch die Medien kritisieren. Gezeigt habe sich das etwa im Januar 2014, als ZDF-Talker Markus Lanz die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht befragte und nach Ansicht vieler in eine Ecke zu drängen versuchte. Daraufhin schlossen sich Tausende einer Petition an, die Lanz’ Absetzung forderte. Erfolglos zwar, für Pörksen zeigte sich darin aber „eine neue Macht in der Arena der Gegenwart“.

Auch Margreth Lünenborg, Professorin für Journalistik an der Freien Universität Berlin, beobachtet, dass inzwischen nicht nur die Politik öffentlich kritisiert wird, sondern auch Leistungen und Fehlleistungen im Journalismus. Die Blickwinkel der Redaktionen seien einer öffentlichen Diskussion ausgesetzt.

Medienwissenschaftler Pörksen sieht darin Vor- und Nachteile. Einerseits kreideten Nutzer zurecht falsche Symbolfotos, übertriebene Skandalisierung und Recherchefehler an, andererseits zöge das auch Verschwörungstheoretiker an, die hinter jedem Fehler gleich eine gewollte und womöglich von der Regierung gesteuerte Manipulation sehe. Pörksen sagt: „Es bildet sich eine fünfte Gewalt der vernetzten Vielen. Das mächtig gewordene Publikum.“

Was sind die Ursachen?

Bei der Konferenz waren sich die meisten Teilnehmer einig, dass sich der Journalismus an sich eigentlich wenig verändert habe, dafür aber die Rahmenbedingungen, unter denen Journalisten heute arbeiteten. Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, sagte, der Journalismus sei nicht schlechter, sondern die Leser kritischer geworden. Fehler fielen stärker auf und würden öffentlich gemacht. Roland Tichy, früherer Chefredakteur der Wirtschaftswoche und Vorsitzender der Ludwig-Erhardt-Stiftung, sagte, die einfache Tätigkeit von Journalisten, Nachrichten zusammenzuführen, machten Nutzer heute selbst. Sie würden dann die Arbeit von Journalisten überprüfen und Fehler entdecken.

All das führt dazu, dass Journalisten ihre Gatekeeper-Funktion weitgehend verloren haben, wie auch Ines Pohl konstatierte, frühere Chefredakteurin der Tageszeitung taz und künftige Korrespondentin der Deutschen Welle in Washington. Das Internet macht es heute allen möglich, sich noch mal selbst eine Bundestagssitzung oder eine Pressekonferenz anzuschauen, Pressemitteilungen zu lesen, direkt und schnell mit Abgeordneten in Kontakt zu kommen und die Informationen der Journalisten zu überprüfen. Roland Tichy sieht darin gar einen „Machtverlust im Journalismus“. Es gebe eine sinkende Reichweite durch Zersplitterung der Leserschaft und einen Kompetenzverlust: Denn jeder habe die Nachricht und viele Quellen inklusive Filmen etwa bei YouTube sofort verfügbar.

Bernhard Pörksen spricht von einer „radikalen Demokratisierung der Enthüllungs- und Empörungspraxis“ und nennt dafür drei Elemente:

1. Es gebe neue Enthüller, die für Nachrichten und Aufmerksamkeit sorgten. Neben Journalisten, die ihre Rechercheergebnisse präsentierten, seien das Menschen, die sich über ein Interview ärgerten, es seien Freiheitskämpfer des Arabischen Frühlings, Plagiatsjäger wie die, die die Doktorarbeit des damaligen Bundesverteidigungsministers Theodor zu Guttenberg untersuchten – oder auch einfach eine Schülerin, die Fotos von verkochtem Schulessen macht, ins Netz stellt und Empörung über Schulmensen auslöst.

2. Es gebe neue Tools, die heute allen zur Verfügung stünden. Fast jedes Handy hat heute eine Kamera, man hat Zugang zum Internet, dort gibt es soziale Medien, mit denen man sofort eine große Reichweite erreichen kann.

3. Es gebe neue Organisations- und Vernetzungsmuster. Man bildet Gruppen je nach Bedarf, die sich leicht übers Netz organisieren lassen bzw. sich sogar selbst organisieren. So entsteht zum Beispiel leicht ein gemeinsamer Protest gegen die Nominierung von Xavier Naidoo für den Eurovision Song Contest; der Protest ist nicht organisiert, keiner führt ihn an, aber es können sich viele ganz leicht beteiligen. Pörksen nennt das ein „Konnektiv“ – eine neue Form von Individualität und Gemeinschaft.

Was bedeutet das für die Öffentlichkeit?

Dass sich Nutzer zunehmend kritisch mit dem etablierten Journalismus beschäftigen und sich eigene Gegenöffentlichkeiten schaffen, hat auch Konsequenzen für die politische Diskussion. Pörksen stellte deshalb drei Diagnosen:

1. Im Übergang von Medien- zu Empörungsdemokratie werden zunehmend gespaltene Öffentlichkeiten sichtbar und manifest. Einer Medienempörung steht heute die Publikumsempörung gegenüber, die auseinanderklafften. Während etwa Thilo Sarrazin von Journalisten dämonisiert worden sei, sei er von vielen Bürgern glorifiziert worden. Ähnliches lasse sich beobachten bei der Skandalisierung von zu Guttenberg und Wulff. Beim Gedicht von Günther Grass zu Israel. Bei der Ukraine-Krise. Beim Germanwings-Absturz. Im Umgang mit Flüchtlingen.

2. Die Medienkritik, Medienschelte und Medienverdrossenheit habe gezeigt, dass die Fiktion, es gebe nur eine Öffentlichkeit, endgültig offenbar geworden sei. Früher wurde „die Öffentlichkeit“ durch den Meinungsdiskurs in relativ wenigen Massenmedien dargestellt; heute zeige sich durch die Diversifizierung der Kommunikation, dass es diese eine Öffentlichkeit nie gegeben habe.

3. Es bildet sich eine fünfte Gewalt der vernetzten Vielen. Das mächtig gewordene Publikum.

Welche Konsequenzen ziehen Journalisten?

Bisher offenbar noch keine. Kein Journalist, sei er Mitarbeiter oder Chefredakteur, konnte bei der Konferenz ein umfassendes Konzept anbieten, auf die neue Kritik einzugehen. Der Intendant von Radio Bremen, Jan Metzger, gestand zwar zu, dass Journalisten heute auch mit Hörern einen qualifizierten Dialog über das Programm führen müssten, sagte aber auch: „Das können wir bisher überhaupt nicht.“ Wir sendeten und warteten ab, ob Hörer und Zuschauer reagieren.

Journalistik-Professorin Margreth Lünenborg spricht von einem „emanzipatorischen Element“; sie fordert, Journalisten müssten die sichtbar werdende Skepsis als Form kompetenten Medienwandels begreifen und in journalistische Prozesse integrieren. Journalisten müssten die „spezifische Gemachtheit journalistischer Produktion“ sichtbar machen, auch um die Autorität von Journalismus zu dekonstruieren. Das sollte Bestandteil der Darstellung werden. Journalisten müssten sich vom Gestus des Objektiven und Authentischen abkehren, das reflexive Vermitteln des Making of zum Bestandteil der Berichterstattung machen. Kritik müsse aufgegriffen, ihr vielleicht sogar vorgebeugt werden, Recherchen transparent gemacht, die Quellen und auch die Interessen der Quellen offengelegt werden, unterstreicht auch Thomas Krüger von der Bundeszentrale für politische Bildung.

Eine Möglichkeit wäre es etwa, die Öffentlichkeit stärker einzubeziehen und auch ihre Kompetenzen zu nutzen. Schließlich findet sich bei jedem Thema außerhalb von Redaktionen ein Experte, der es besser weiß als der Journalist. So lasse sich die Kompetenz der Nutzer einbeziehen. Sie können nach Ansicht von Bernhard Pörksen kluge und wichtige Hinweise liefern, auch wenn man Nutzer in Kauf nehmen müsse, die diffamieren und attackieren. Pörksen spricht davon, dass sich die digitale Gesellschaft im besten Fall zu einer „redaktionellen Gesellschaft“ verändert, in der journalistisches Bewusstsein in gutem Sinne zu einem Element der Allgemeinbildung wird.

In der Auseinandersetzung mit Hörern und Lesern sahen viele Teilnehmer der Diskussion auch Grenzen. Nadine Lindner, Landeskorrespondentin des Deutschlandradios für Sachsen, findet ein Eingehen auf Hörer geboten, wenn sie ernsthaft das Interesse erkennen ließen, sich auf Argumente einzulassen. Es gebe aber „Grenzen der Responsivität“, wenn Hörer sich auf keinerlei Diskussion einlassen wollten. Lindner stellte die Frage, inwiefern solche Bürger überhaupt noch für eine echte politische Diskussion erreichbar seien.

Während der Anschläge von Paris wurde in sozialen Netzwerken sehr viel kommentiert, es wurden ungesicherte Informationen weiterverbreitet, etwa über die Zahl der Toten, über die Orte der Angriffe, auch über Solidaritätsbekundungen. Von dem war vieles nicht wahr. Lügen wurden hier also meistens nicht von Journalisten verbreitet, sondern von jedermann. Für Pörksen ist klar: Während sich früher Journalisten fragen mussten, was glaubwürdig ist, was relevant, was veröffentlichungsreif, müssten heute alle beantworten. Und danach handeln.

Der Theaterregisseur und Autor Hans-Werner Kroesinger, der als Beobachter von außen auf die Konferenz eingeladen wurde, sagte, offenbar glaubten Journalisten in solchen Fällen, den Menschen schnell etwas sagen zu müssen. Vielleicht müsse man die Verunsicherung aber aushalten, bis man etwas wisse.

Christina Holtz-Bacha, Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, findet aber auch, dass die Notwendigkeit des professionellen Journalismus vielen nicht klar sei und deutlich gemacht werden müsse. Schließlich nähmen Journalisten den Bürgern Arbeit ab, weil diese mit der Informationsflut nicht umgehen könnten.

Wie kann die Zukunft aussehen?

Einen Vorschlag hat Robert J. Rosenthal gemacht, der Direktor des gemeinnützigen Center for Investigative Reporting aus Kalifornien. Er glaubt nicht, dass etablierte Medien in der Lage sind, grundsätzliche Strukturen zu ändern, und arbeitet deswegen seit 2008 beim CIR. Das recherchiert erst mal unabhängig von Medien Geschichten und bietet sie dann Medien zur Veröffentlichung an. Es seien Recherchen, die aus einer etablierten Redaktion heraus nie angestellt wurden, sagte Rosenthal bei der Konferenz in Berlin.

Wichtig: Die Geschichten würden auf die Zielgruppen ausgerichtet. Weil es zum Beispiel für eine Reportage über einen jungen Gefängnisinsassen keine Bilder gab, wurde ein Comic gezeichnet, der das illustrieren sollte. Eine weitere Recherche wurde in einem Animationsfilm umgesetzt, die Musik steuerte ein Rapper bei und brachte damit diese Inhalte auch bei seinen Fans und Fans von Rapmusik unter.

Auch Rosenthal spricht sich für mehr Transparenz aus: Das CIR veröffentliche nicht nur die Ergebnisse von Recherchen, sondern auch zugrundeliegende Dokumente und Interviews. Das Internet sei dafür hervorragend geeignet.

Zusammenfassung

Dass ein Wandel in den Medien notwendig ist, haben viele Konferenzteilnehmer so gesehen. Über mögliche Fehler in der Berichterstattung der vergangenen Monate und Jahre, die von den Differenziertern unter den „Lügenpresse“-Rufern immer wieder angebracht werden, wurde kaum ein Wort verloren. Die Wissenschaftler waren in ihren Ansätzen radikaler, sie forderten einen stärkeren und schnelleren Wandel. Viele Journalisten taten sich aber im Allgemeinen recht schwer damit, mit der neuen Kritik umzugehen und ihr adäquat zu begegnen.

Fast alle Vorträge und Diskussionsrunden bei der Tagung können Sie hier nachhören, ergänzt durch Video-Interviews mit Teilnehmern.

Über die Konferenz habe ich auch im Gespräch mit der WDR3-Sendung „Resonanzen“ berichtet:Ergänzend die Darstellung von Christoph Sterz für „Markt und Medien“ im Deutschlandfunk.

Twitter-Hysterie um die #ParisAttacks: Warum Nutzer stärker wie Journalisten denken sollten

Jedem Großereignis mit exzeptioneller Medienberichterstattung folgt eine Phase der Medienschelte. Das war nach dem Amoklauf in Winnenden so, nach dem Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen, auch nach der Affäre um den schließlich zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff. Teils überlagert die Schelte bereits das Ereignis. Selten geht sie ihr voraus.So war es aber bei den Anschlägen von Paris.Über die Kritik ist vor allem kurz danach viel geschrieben worden (das Bildblog hat dazu eine ausführliche Linkliste veröffentlicht). Bemerkenswert an der Kritik finde ich vor allem zweierlei:1. Die Berichterstattung der klassischen, etablierten Medien wird nicht etwa von vorneherein für verzichtbar erklärt, sondern aktiv und vehement eingefordert.2. Entspricht diese allerdings nicht den Erwartungen (in Schnelligkeit, Umfang, Detailgenauigkeit, Erklärungsmustern, Hintergründen) wird auf alternative Quellen ausgewichen. Dabei offenbart sich aber eine verbreitete Unfähigkeit von Nutzern, diese Quellen adäquat einzuschätzen.Letzteres zeigte sich vor allen Dingen darin, welche angeblichen Informationen von Nutzern selbst in die Welt gesetzt und welche davon weitergetragen wurden. „The Independent“ hat einige davon zusammengetragen. Sie lassen sich grob drei Typen zurechnen: Typ 1 waren definitive Fehlinformationen wie die über Vereen Jubbal, der zu einem Terroristen erklärt wurde.

Eine Lüge. Typ 2 waren offensichtliche Fehldeutungen. So wurde ein Tweet, in dem die Anschläge angeblich zwei Tage zuvor vorausgesagt wurden, mehr als 9.500 mal retweetet und fast 6.000 mal geliked.

Dabei handelt es sich bei „PZbooks“ um einen automatisierten Twitter-Account, der wahllos und zufällig Sätze wie den obigen zusammensetzt.

Typ 3 sind Tweets, in denen keine Aktualität behauptet, aber suggeriert wird, wie etwa in diesem hier:

Ian Bremmer twitterte dieses Foto in der Nacht der Terroranschläge um 1.12 Uhr, ohne einen Hinweis darauf, dass das Foto nicht aus dieser Nacht stammt. Es wurde 30.000 mal retweetet und geliked.

Sebastian Horsch schreibt bei „OVB online“ über solche Hoaxes:

Einmal in der Welt, werden diese Lügen in den Sozialen Netzwerken rasend schnell weiterverbreitet – sie wieder einzufangen ist quasi unmöglich. Auch der Urheber – ob er die Fälschung nun absichtlich oder unabsichtlich veröffentlicht hat – hat keine Kontrolle mehr darüber.

Nutzer, die solche Tweets ungeprüft weiterverbreiten, sollten sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Wer auf der einen Seite begrüßt, dass er selbst in der Lage ist, an den früheren Gatekeepern vorbei selbst Informationen verbreiten zu können, sollte auf der anderen Seite seine Verantwortung wahrnehmen, keine Lügen zu streuen. Daniel Fiene schreibt dazu bei „RP online“:

Der gereizten Kommentarkultur im Netz wäre sehr geholfen, wenn jeder beim Weiterverbreiten einer Information kurz in sich ginge und fragte: Was ist die Quelle? Ist das wirklich bestätigt? Was bringt es, wenn ich eine Spekulation poste? Diese Fragen müssen sich heute nicht mehr nur Journalisten stellen, sondern die gesamte Netzgemeinde.

Wie ich fordert er auch implizit, deutlicher zu machen, woher die Informationen stammen, wie zuverlässig sie sind und welche Informationen noch fehlen.

Meine Hoffnung liegt in einer Gegenbewegung: Immer mehr Leser orientieren sich am transparenten Umgang mit Informationen. Wenn offen zwischen dem unterschieden wird, was wir wissen und was wir nicht wissen. Übersicht statt Echtzeitrausch – dadurch wird so mancher näher dran sein, als er glaubt.

Journalisten kommt in dieser Zeit, in der Nutzer ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, eine noch wichtigere Rolle zu: Ihre Aufgabe ist es, Gerüchte zu prüfen, bestätigte Informationen zu veröffentlichen, unbestätigte gar nicht erst zu melden oder zumindest als solche zu kennzeichnen – und leider heutzutage auch, in die Welt gesetzte Gerüchte offensiv zu dementieren, wie es inzwischen mehrere Medien teils sogar regelmäßig machen, etwa der ORF oder die Neue Württembergische Zeitung.

Ich habe schon mal darauf hingewiesen, dass der entscheidende Unterschied zwischen Journalisten und Nutzern meines Erachtens heute nicht mehr im Zugang zu Quellen liegt, sondern darin, diese zu interpretieren. Offenbar kommt ihnen noch stärker, als ich gedacht habe, die Aufgabe zu, der Verbreitung von Nicht-Informationen entgegenzuwirken:

Für viele Bürger stehen diese zwei Arten von Quellen heute gleichberechtigt nebeneinander: Informationen und Nicht-Informationen. Wenn letztere in sich einigermaßen schlüssig sind, wenn sie eigene Meinungen stützen und ins Weltbild passen, sprechen Nutzer ihnen dieselbe Plausibilität zu wie den Quellen, die Journalisten als seriös erachten. Sie haben den Eindruck, sie könnten eine Situation genauso gut einschätzen wie ein Journalist, und zweifeln daran, wenn sie ihre Einschätzung nicht wiederfinden. Konsequenz: der Vorwurf „Lügenpresse“.

Dass in der Nacht der Pariser Anschläge die Berichterstattung etablierter Medien eingefordert wurde, halte ich grundsätzlich für ein gutes Zeichen. Ob Journalisten aber in der Lage sind, ihrer Arbeit nachzugehen und sich gleichzeitig darum zu kümmern, gleichzeitig herumschwirrende Nicht-Informationen zu dementieren, möchte ich bezweifeln.