Warum man Fakten unterschiedlich interpretieren kann

Eine Anmerkung des Twitter-Nutzers @sx200a hat mich nachdenklich gemacht. Kann man Fakten tatsächlich nicht falsch interpretieren?

Auf den ersten Blick hat der Gedanke etwas für sich. Ein Fakt ist per Definition ein u.a. nachweisbarer Sachverhalt, schreibt Wikipedia.

Eine Tatsache (lateinisch factum, res facti; griechisch πράγματα) ist je nach Auffassung ein wirklicher, nachweisbarer, bestehender, wahrer oder anerkannter Sachverhalt

Dass Nutzer (Leser/Hörer/Zuschauer) den Anspruch haben, über Fakten informiert zu werden, ohne diese zu interpretieren, ist nachvollziehbar. Allerdings gibt es einen institutionellen Widerspruch, in Berichterstattung allein Fakten vorzufinden. Denn schon die Auswahl der Fakten ist eine Interpretation.

Der Journalist entscheidet bereits darüber, worüber er berichtet. Er tut das meist nach den klassischen Kriterien des Nachrichtenwerts, auch wenn in vielen Einzelfällen davon abgewichen wird. Aber ein Journalist entscheidet innerhalb eines Themas auch darüber, wie er dessen Elemente gewichtet. Also zum Beispiel, welchen Ausschnitt er aus einer Rede von Kanzlerin Merkel wählt. Das ist eine weitgehend subjektive Entscheidung, wenngleich sie auf Kriterien beruht: Was sagt Merkel zur aktuell meistdiskutierten politischen Frage? Wie verhält sie sich zu Angriffen auf sie selbst? Über welche Probleme wurde nach ihrer Darstellung auf dem EU-Gipfel gesprochen? Welche Lösungsmöglichkeiten wurden diskutiert?

Von einem fünfminütigen Statement oder einer 30-minütigen Pressekonferenz werden selbst in einem längeren Beitrag in einer Magazinsendung nur wenige Sekunden gezeigt, weil auch sie nur ein Teil dessen sind, über das berichtet wird. Selbst eine fünfstündige Dokumentation würde keine kompletten Pressestatements in voller Länge zeigen, sondern nur eine Auswahl.

Und genau das ist die Aufgabe von Journalisten. Sie wählen aus. Aus den Ereignissen diejenigen, die berichtenswert erscheinen; aus den Tatsachen und Meinungsäußerungen zu diesen Ereignissen das, was berichtenswert erscheint. Auswahl ist ihr eigentlicher Job.

Journalisten kann man damit nicht so einfach eine Interpretation von Fakten vorwerfen, denn das ist ihr Job. Wenn Nutzer sich dessen bewusst sind, umso besser – es zeichnet sie als medienkompetent aus, denn dann können sie die Auswahl des Journalisten hinterfragen und kritisieren. Der Vorwurf ist also mindestens zu allgemein.

Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass es in der politischen Auseinandersetzung ständig um Meinungen geht und um eine Interpretation von Wirklichkeit. Wenn die Bundesregierung eine Entscheidung trifft, interpretiert die Opposition diese aus eigener Ansicht. Wenn Pegida-Demonstranten in Dresden vor dem Untergang des Abendlandes warnen, ist das eine Interpretation. Wenn sie von „Invasoren“ reden, ist das eine Interpretation.

Aufgabe von Journalisten ist es dann auch, diese Interpretationen als solche kenntlich zu machen und ihnen weitere entgegenzusetzen.

Wir sollten uns nicht davon freimachen, dass Interpretationen Teil des politischen Diskurses sind und auch von Medien abgebildet werden. Und da auch Medien Teil des politischen Diskurses sind, auch deren Interpretationen hinterfragt werden sollen und dürfen. Der Vorwurf, Fakten seien nicht interpretierbar, greift dabei aber zu kurz.

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