Können wir aus #koelnhbf lernen? Müssen wir es überhaupt?

Wahrscheinlich liegt mein Fehler schon darin, dass ich glaube, dieser Text könne irgendetwas bei denen ändern, die sich ohnehin schon ihre Meinung gebildet haben. Die glauben, dass Medien heute tatsächlich in der Lage seien, Vorfälle wie die in Köln zu „vertuschen“. Also Ereignisse aus den Schlagzeilen zu halten, bei denen es wahrscheinlich mehr als hundert Opfer gegeben hat (von mehr als 90 Anzeigen wissen wir bisher), bei denen es noch mehr Zeugen gegeben haben muss, bei denen mehr als hundert Polizisten im Einsatz waren, die in sozialen Medien und in Videos dokumentiert wurden.Wer so etwas tatsächlich „vertuschen“ wollen würden, bräuchte deutlich andere Mittel als die, die Medien zur Verfügung stehen – der müsste staatliche Zensur ausüben und nicht nur Medienberichte unterbinden, sondern auch das Internet kontrollieren und in der Lage sein, die Meinungsäußerung von Bürgern zu unterbinden.Leider scheint es Menschen zu geben, die genau das annehmen und dabei Medien lieber bewusste „Manipulationen“ zu unterstellen als anzunehmen, dass es plausible Gründe dafür gibt, dass die Berichterstattung nur schleppend anlief.Eins noch vorweg: Die Diskussion hat sich in den vergangenen Tagen stärker um die Täter und die Rolle der Medien gedreht und zu wenig um die Opfer. Deswegen will ich kurz Sabine Henkel zu Wort kommen lassen, die u.a. bei hr-info, im WDR und im NDR kommentierte:

Die Übergriffe von Männerhorden auf Frauen in Köln haben auch etwas – Achtung – Gutes! Ja, richtig gehört. Gut ist, dass den Opfern geglaubt wird. Einfach so. Ohne Nachfrage, wie sonst so oft. Ob sie, die Frauen, denn nicht vielleicht auch irgendwie selbst Schuld haben könnten und so weiter und so fort. Nein, diesmal der Aufschrei durch Polizei und Politik: Frauen wurden sexuell belästigt! Unmöglich. Das ist ohne Zweifel ein Kollateralgewinn dieser abscheulichen Vorfälle.

Auch ich lehne die Taten ab und bin beunruhigt, dass so etwas passieren kann. Da es in diesem Blog aber um Medien gehen soll, konzentriere ich mich auf die Berichterstattung über die Vorfälle.

Was ist “die Wahrheit”?

Ich habe im Laufe des Dienstags u.a. die Facebook-Seite des Deutschlandfunks betreut. Dort erreichten uns Dutzendfach Vorwürfe, wir würden nicht über „die Wahrheit“ berichten und zum Beispiel nicht sagen, dass es sich bei den Tätern um Flüchtlinge handle.

Das ist bemerkenswert, denn offenbar werden an Medien Maßstäbe angelegt, an die sich viele Nutzer selbst nicht halten wollen. Wer glaubt, „die Wahrheit“ zu kennen, soll bei der Polizei Anzeige erstatten; viele Nutzer wissen offenbar mehr als Journalisten und Ermittler. Für viele Menschen stehen Tatsachen fest; sie akzeptieren nicht, dass Medien vorsichtig berichten, indem sie sich beispielsweise bei ihren Angaben auf die Polizei oder auf Zeugen berufen. Da bisher nachweislich keiner derjenigen Täter gefasst wurde, die bei den Übergriffen beteiligt gewesen sind (es gab zwar Festnahmen, allerdings zu anderen Zeitpunkten, so dass ein Zusammenhang möglich, aber eben nicht nachgewiesen ist), ist auch beispielsweise völlig offen, ob es sich um Flüchtlinge handelt.

Genau so hat auch der Deutschlandfunk berichtet: dass die Täter unbekannt seien. Dabei haben wir durchaus nicht verschwiegen, dass es sich bei den Tätern nach den Aussagen vieler Zeugen um nordafrikanisch oder arabisch aussehende Männer gehandelt habe. Dabei haben wir möglicherweise sogar den Pressekodex überstrapaziert, weil ein Zusammenhang zwischen der Herkunft der Täter und der Tat noch gar nicht nachgewiesen werden konnte.

In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.

Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.

Gerade der letzte Satz innerhalb dieser Richtlinie ist es, der Journalisten aus Erfahrung vorsichtig werden lässt. Denn, um nur einen von vielen Tweets zu zitieren, für die genannten Taten braucht es keinen Zusammenhang zur Nationalität der Täter.

Dass der Presskodex so strikt ist, hat seine Gründe. Wie man an den tatsächlichen Reaktionen sehen kann, seit Augenzeugenberichte über das Aussehen der Täter in der Welt sind, passierte genau das: Viele Kommentatoren im Netz machten aus „nordafrikanisch und arabisch aussehenden Männern“ gleich Flüchtlinge, stellten einen Zusammenhang zum anhaltenden Flüchtlingsstrom fest und forderten zum Teil Dinge, die strafbewehrt sind.

Doch die Standards des Pressekodex seien längst erodiert, schreibt Daniel Bax in der taz.

Denn in Zeiten von sozialen Medien und Internet ist es ohnehin eine Illusion zu glauben, bestimmte Informationen ließen sich außen vor lassen. Und unter dem Druck der rechten Gegenöffentlichkeit aus dem Netz, die schnell mit dem Vorwurf bei der Hand ist, „die Medien“ würden aus falsch verstandener Toleranz und „politischer Korrektheit“ die Verbrechen von Migranten verschweigen oder schönfärben, sind auch seriöse Medien im vorauseilendem Gehorsam dazu übergegangen, die Herkunft von Straftätern offensiv zu benennen – jedenfalls, so lange es sich um migrantische Straftäter handelt.

Dass seriöse Journalisten grundsätzlich zögern, Zusammenhänge herzustellen, wo sie nicht zutreffen, kommentierte das Prinzessinnenblog zutreffend:

Im Journalismus geht es nicht um Klicks, sondern um Fakten. (…)

Pro-Tipp: Fakten sind das, was gesichert feststeht. (…)

Einmal verbreitete Schlagzeilen können übrigens nicht ungeschrieben gemacht werden. Der Eindruck, dass 1000 Flüchtlinge in Köln Frauen mindestens belästigten, ist das, was bleibt. Für immer, egal, wie viele erklärende Artikel jetzt nachgeschoben werden.

Wieso hat es so lange gedauert?

Dass es drei Tage gedauert hat, bis die Ereignisse ihren Weg in die sogenannten überregionalen Medien gefunden haben, mag bedauerlich sein, hatte aber seine Gründe. Im Nachhinein zu sagen, dass es zu lange gedauert hat, ist verständlich, wird aber der Nachrichtenlage nicht gerecht.

“Die Welt“ hat die Informationspolitik der Polizei dokumentiert. In der ersten Pressemitteilung der Polizei am 1. Januar um 8.57 Uhr wurde noch von einer entspannten Einsatzlage gesprochen, auch wenn von einer Räumung des Bahnhofsvorplatzes die Rede war.

Kurz vor Mitternacht musste der Bahnhofsvorplatz im Bereich des Treppenaufgangs zum Dom durch Uniformierte geräumt werden. Um eine Massenpanik durch Zünden von pyrotechnischer Munition bei den circa 1000 Feiernden zu verhindern, begannen die Beamten kurzfristig die Platzfläche zu räumen.

Aus dieser Meldung lassen sich die Ereignisse nicht ablesen. Wer glaubt, dass Medien ständig und überall Journalisten im Einsatz haben, die hätten feststellen können, dass diese Informationen nicht stimmen, täuscht sich massiv über die finanziellen Mittel von Medien. Auch wer ihnen vorwirft, vermehrte Rückmeldungen von Frauen in sozialen Netzwerken ignoriert zu haben, verkennt die Möglichkeiten von Journalisten, den Überblick über die Flut von Postings zu haben, um daraus Zweifel an der oben genannten Darstellung zu haben.

Das Magazin “Cicero” hat sich mit einem Artikel zu Köln nicht mit Ruhm bekleckert, in einem anderen dagegen durchaus, in dem Petra Sorge die Abläufe zusammengefasst und einige Dinge richtig gestellt hat, die im Laufe der Zeit durcheinandergeraten sind:

Die Gruppe wuchs bis 23 Uhr auf 1000 Personen an. In keiner der drei bislang veröffentlichten Pressemitteilungen ging die Polizei auf diese große Zahl ein; die Aussage fiel lediglich mündlich auf der Pressekonferenz.

Vor und nach der Räumung des Bahnhofsplatzes durch die Polizei sei es aber zu den sexuellen Übergriffen gekommen, sagte ein Behördensprecher Cicero. „Ob diese Täter zu den 1000 Leuten gehören, wissen wir aber noch nicht“.

Tatsächlich taucht die Zahl von „1000 Feiernden“ in Pressemitteilungen der Polizei auf, auch in der oben zitierten. Es wurde aber nicht behauptet, dass nicht nur die Täter, sondern die gesamte Gruppe ein „nordafrikanisches oder arabisches Aussehen“ gehabt habe.

Diese Zahlen und Beschreibungen sind teilweise ineinander gerutscht, so dass zum Beispiel von “1000 Männern mit nordafrikanischem oder arabischem Aussehen” die Rede war. Das ist selbstverständlich nicht richtig. Auch handelte es sich nicht um 1000 Täter, sondern um Täter aus einer Gruppe von 1000 Menschen.

Der NDR-Nachrichtenkollege Michael Draeger hat in seinem Blog die Abfolge der Ereignisse dokumentiert. Auch er schreibt:

Wurde über die Angriffe nicht ausreichend berichtet? Die Medien bei solchen Themen immer auf die Informationen der Polizei angewiesen. Nur sie hat den Überblick, wie viele Anzeigen oder Vorkommnisse es gab. Die allgemeinen Lageberichte sind für die Presse dagegen nicht zugänglich.

Auch er verweist auf die Tatsache, dass Journalisten eben nicht alles wissen können. Einzelfälle, die es schon nach der reinen Zahlen nach den ersten Anzeigen in Köln waren, haben, so verabscheungswürdig das ist, aber zunächst einmal keine überregionale Bedeutung, die eine Berichterstattung auch in bundesweiten Medien rechtfertigen würde. Erst die Dimension der Vorfälle machte die Vorfälle auch überregional relevant. Michael Draeger:

Augenzeugenberichte bei Facebook sind zwar ein guter Anfang für eine Recherche, mehr aber auch nicht. Wenn mehrere Leute dort von vielen schlimmen Szenen berichten, die Polizei aber nur einzelne Fälle bestätigen kann, ist für die Medien Zurückhaltung geboten. Sie können von einzelnen Fällen berichten, von überregionaler Bedeutung ist das Thema dann aber nicht. Die bekommt es erst durch die Dimension der Übergriffe.

Und diese Dimension wurde erst nach und nach bekannt, je mehr Anzeigen eingingen. Da die Taten am Hauptbahnhof stattfanden, ist es nicht überraschend, dass die Opfer nicht nur aus Köln stammen; es dauerte offenbar einige Zeit, bis die Anzeigen, die bei anderen Polizeidienststellen erstattet wurden, auch nach Köln gemeldet und in die Statistik aufgenommen werden konnten.

Tatsächlich ist die Berichterstattung nur schleppend angelaufen; wir sollten darüber nachdenken, welche Gründe es dafür gibt. Es ist sicherlich nicht nur der Informationspolitik der Polizei anzulasten, sondern auch der durch Erfahrung genährten journalistischen Skrupeln, dass einzelne Taten von Ausländern als repräsentativ für ihr Herkunftsland genommen werden. Auch dass Zahlen und Begriffe durcheinander geraten sind, darf nicht passieren, auch wenn es wegen oft vager Bezeichnungen (“nordafrikanischer Herkunft”, “Migranten”, “Flüchtlinge”) verständlich ist.

Unzweifelhaft ist aber auch, dass heutzutage eine andere Art der Berichterstattung eingefordert wird. Die Nutzer wollen sich selbst ihre Meinung bilden, welche Rolle die Herkunft der mutmaßlichen Täter für ihre Tat spielt. Dabei lässt sich nicht vermeiden, dass viele ihr Weltbild bestätigt sehen.

Wie kritisieren wir Medien?

Die Kritik an den Medien ist jedoch oft sehr undifferenziert und macht es Journalisten nicht leicht, damit umzugehen. Pauschale Anwürfe wie “Lügenpresse” helfen überhaupt nicht, Fehler zu beheben und auf Vorwürfe zu antworten. Viele Nutzer sind nicht in der Lage, ihre Kritik so zu formulieren, dass sie produktiv umgesetzt werden kann. Auch sie werfen Zahlen und Formulierungen durcheinander, zitieren ganze Sätze, auch wenn sie nur einzelne Wörter bemängeln, erinnern sich falsch an das, was sie im Radio gehört haben und reagieren beleidigt, wenn man sie darauf hinweist. Ein produktiver Umgang ist so nur selten möglich, auch wenn ich ihn wünschenswert finde. Genauso wie einzelne Formulierungen, die Nutzern aufstoßen, dazu führen, dass sie den ganzen ansonsten seriösen Beitrag oder gar das Medium nicht mehr ernst nehmen, führt undifferenzierte Kritik von Hörern dazu, dass Journalisten ihre berechtigten Punkte nicht mehr wahrnehmen.

Allerdings machen es Medienkritiker durchaus nicht immer besser. So schrieb der Publizist David Berger auf der Meinungsseite von Roland Tichy unter der ursprünglichen Überschrift „Wie Massenvergewaltigungen in der Silvesternacht zum deutschen Medien-Supergau wurden“. Eine Medienkritik, die selbst mit diesem fulminant gelogenen Titel beginnt, kann man nicht ernst nehmen. Die Seite ist noch über den Link dieses ehemaligen Titels zu erreichen, auch wenn dieser inzwischen geändert wurde.

Stefan Niggemeier hat den ursprünglichen Antext des Artikels dokumentiert*:

Niemand hatte eine Massenvergewaltigung verschwiegen – weil es sie nicht gab. In einer späteren Fassung wurde daraus “Massengewalt”. Von Verschweigen war weiterhin die Rede. Womit sich der Zirkel schließt: Als wenn “Vertuschen”, was den Medien vorgeworfen wird, heute noch möglich wäre.

Was wir jetzt tun könnten – können wir?

Was können wir aus der Berichterstattung über Köln lernen?

1.   Wir sollten unsere Arbeit von Anfang an transparent machen. Wenn wir ein solches Thema erst nach drei Tagen aufgreifen, müssen wir begründen, warum. Sei es, dass Tatsachen erst dann bekannt wurden, sei es, dass die Dimension des Themas (wie in diesem Fall) erst dann klar wurde.

2.   Wir sollten stärker vermitteln, dass es “die Wahrheit” nicht gibt. Die Dinge sehen unterschiedlich aus, je nachdem, von wo aus man sie betrachtet. Und ein Journalist kann genauso wenig seinen eigenen Standpunkt mit seinem Wissen, seinen Erfahrungen, seinen Haltungen verlassen wie er seinen eigenen Schatten abschütteln kann. Und jeder Nutzer kann das ebensowenig.

3.   Wir sollten stärker einfordern, dass unsere Standards auch für Nutzer gelten müssen. Einerseits bemängeln sie, dass wir gegen journalistische Grundsätze und den Pressekodex verstoßen, etwa wenn wir in der Berichterstattung über den Germanwings-Absturz Grenzüberschreitungen begangen haben, andererseits zögern sie selbst nicht, Gerüchte zu Tatsachen umzudeuten. Ob die Forderung des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen, wir müssten zu einer “redaktionellen Gesellschaft” werden, wirklich eintrifft, wage ich dennoch zu bezweifeln.

4.   Wir sollten uns noch mal darüber klar werden, dass die Nennung der Herkunft von Tätern für viele Nutzer wichtig ist, auch wenn sie im Detail noch unklar ist und auch wenn sie nichts mit der Tat zu tun hat. Wie man trotzdem rassistischen Vorurteilen begegnet, weiß ich allerdings auch nicht. Wahrscheinlich kann man sie weder vermeiden, wenn man die Nationalität nennt, noch, wenn man sie nicht nennt.

5.   Wir sollten uns aus der Frontstellung zwischen Journalisten und Nutzern herausbringen und stattdessen einen partnerschaftlichen Dialog etablieren. Nur dann kann das verloren gegangene Vertrauen wiederhergestellt werden. Hinzu kommt, dass wir die Nutzer dazu anleiten sollten, differenzierte Kritik zu äußern. Wie das allerdings gehen soll – keine Ahnung.

Lasst uns weiter drüber reden.

* Im ursprünglichen Post auf stefanfries.tumblr.com war der Tweet nur als Bild eingefügt, hier jetzt eingebettet.

Die Vertrauenskrise der Medien: Versuche einer Therapie

Dass ein Teil der Leser, Hörer, Zuschauer das Vertrauen in die Arbeit von Medien verloren hat, lässt sich nicht abstreiten. Bei einer Konferenz in Berlin versuchten Journalisten und Wissenschaftler, die Ursachen zu ergründen und Auswege zu finden.
Dass ausgerechnet ein Politiker für den größten Lacher bei der Konferenz sorgte, mag ungewöhnlich sein. Dass es Bundestagspräsident Norbert Lammert war, weniger. Er erzählte davon, wie ein Fernsehsender im Sommer während der Wagner-Festspiele in Bayreuth berichtete, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe einen Schwächeanfall erlitten.

Minuten später steuerten andere Medien schnell angeblich Details aus Bayreuth teil. Die Kanzlerin sei in der Pause in einem Restaurant vom Stuhl gefallen, sie habe unter dem Tisch gelegen, sie sei – hieß es hier und da in einzelnen Meldungen – minutenlang bewusstlos gewesen. Von einem Kollapsdrama – Zitat – war die Rede, von einem Schockmoment. Mehrere Personen hätten sofort Erste Hilfe geleistet, darunter Bundestagspräsident Norbert Lammert. Usw. Also ich war dabei. Das ist das einzige, was an dieser Meldung zutrifft. Zusammengebrochen ist nicht die Kanzlerin, sondern der Stuhl. Und meine strenge Vermutung ist, wenn wir zwischen Kanzlerstühlen und Kanzlerstürzen wieder etwas sorgfältiger unterscheiden würden, wächst vielleicht auch das Vertrauen in die Veranstaltung.

Für Lammert illustriert diese Geschichte den Alarmismus, den er im Journalismus sieht. Der Bundestagspräsident war als einer von zwei Politikern Gast bei der Konferenz „Formate des Politischen. Medien und Politik im Wandel“, die vom Deutschlandfunk, der Bundespressekonferenz und der Bundeszentrale für politische Bildung ausgerichtet wurde. Die Vertrauenskrise ist in Lammerts Augen hausgemacht – und zwar von Journalisten wie auch von Politikern. Er sieht eine „Neigung, Probleme nicht nur zu entdecken, sondern als die jeweils größten zu behaupten“. Gerade Oppositionspolitiker, aber auch Journalisten sagen dann, die Probleme seien seit langem absehbar gewesen – ob es um die Ukraine gehe, Griechenland oder die Flüchtlinge. „Ich fürchte, das schafft kein Vertrauen, und zwar weder in der Politik noch in den Medien.“

Dabei ist Lammert jemand, der die Sache noch relativ differenziert betrachtet. Auf Pegida-Aufmärschen in Dresden, bei AfD-Demonstrationen in Erfurt und in Kommentarspalten im Internet gibt es deutlich mehr Gegenwind für Journalisten. Das Schlagwort lautet: Lügenpresse.

Woher kommt die Kritik?

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen spricht im Zusammenhang mit diesem Wandel vom Publikum als der „fünften Gewalt“; er spricht von „der neuen Macht des Publikums. Denn vor allem durch das Internet könnten sich Leser, Hörer, Zuschauer heute stärker selbst zu Wort melden und auch die Medien kritisieren. Gezeigt habe sich das etwa im Januar 2014, als ZDF-Talker Markus Lanz die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht befragte und nach Ansicht vieler in eine Ecke zu drängen versuchte. Daraufhin schlossen sich Tausende einer Petition an, die Lanz’ Absetzung forderte. Erfolglos zwar, für Pörksen zeigte sich darin aber „eine neue Macht in der Arena der Gegenwart“.

Auch Margreth Lünenborg, Professorin für Journalistik an der Freien Universität Berlin, beobachtet, dass inzwischen nicht nur die Politik öffentlich kritisiert wird, sondern auch Leistungen und Fehlleistungen im Journalismus. Die Blickwinkel der Redaktionen seien einer öffentlichen Diskussion ausgesetzt.

Medienwissenschaftler Pörksen sieht darin Vor- und Nachteile. Einerseits kreideten Nutzer zurecht falsche Symbolfotos, übertriebene Skandalisierung und Recherchefehler an, andererseits zöge das auch Verschwörungstheoretiker an, die hinter jedem Fehler gleich eine gewollte und womöglich von der Regierung gesteuerte Manipulation sehe. Pörksen sagt: „Es bildet sich eine fünfte Gewalt der vernetzten Vielen. Das mächtig gewordene Publikum.“

Was sind die Ursachen?

Bei der Konferenz waren sich die meisten Teilnehmer einig, dass sich der Journalismus an sich eigentlich wenig verändert habe, dafür aber die Rahmenbedingungen, unter denen Journalisten heute arbeiteten. Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, sagte, der Journalismus sei nicht schlechter, sondern die Leser kritischer geworden. Fehler fielen stärker auf und würden öffentlich gemacht. Roland Tichy, früherer Chefredakteur der Wirtschaftswoche und Vorsitzender der Ludwig-Erhardt-Stiftung, sagte, die einfache Tätigkeit von Journalisten, Nachrichten zusammenzuführen, machten Nutzer heute selbst. Sie würden dann die Arbeit von Journalisten überprüfen und Fehler entdecken.

All das führt dazu, dass Journalisten ihre Gatekeeper-Funktion weitgehend verloren haben, wie auch Ines Pohl konstatierte, frühere Chefredakteurin der Tageszeitung taz und künftige Korrespondentin der Deutschen Welle in Washington. Das Internet macht es heute allen möglich, sich noch mal selbst eine Bundestagssitzung oder eine Pressekonferenz anzuschauen, Pressemitteilungen zu lesen, direkt und schnell mit Abgeordneten in Kontakt zu kommen und die Informationen der Journalisten zu überprüfen. Roland Tichy sieht darin gar einen „Machtverlust im Journalismus“. Es gebe eine sinkende Reichweite durch Zersplitterung der Leserschaft und einen Kompetenzverlust: Denn jeder habe die Nachricht und viele Quellen inklusive Filmen etwa bei YouTube sofort verfügbar.

Bernhard Pörksen spricht von einer „radikalen Demokratisierung der Enthüllungs- und Empörungspraxis“ und nennt dafür drei Elemente:

1. Es gebe neue Enthüller, die für Nachrichten und Aufmerksamkeit sorgten. Neben Journalisten, die ihre Rechercheergebnisse präsentierten, seien das Menschen, die sich über ein Interview ärgerten, es seien Freiheitskämpfer des Arabischen Frühlings, Plagiatsjäger wie die, die die Doktorarbeit des damaligen Bundesverteidigungsministers Theodor zu Guttenberg untersuchten – oder auch einfach eine Schülerin, die Fotos von verkochtem Schulessen macht, ins Netz stellt und Empörung über Schulmensen auslöst.

2. Es gebe neue Tools, die heute allen zur Verfügung stünden. Fast jedes Handy hat heute eine Kamera, man hat Zugang zum Internet, dort gibt es soziale Medien, mit denen man sofort eine große Reichweite erreichen kann.

3. Es gebe neue Organisations- und Vernetzungsmuster. Man bildet Gruppen je nach Bedarf, die sich leicht übers Netz organisieren lassen bzw. sich sogar selbst organisieren. So entsteht zum Beispiel leicht ein gemeinsamer Protest gegen die Nominierung von Xavier Naidoo für den Eurovision Song Contest; der Protest ist nicht organisiert, keiner führt ihn an, aber es können sich viele ganz leicht beteiligen. Pörksen nennt das ein „Konnektiv“ – eine neue Form von Individualität und Gemeinschaft.

Was bedeutet das für die Öffentlichkeit?

Dass sich Nutzer zunehmend kritisch mit dem etablierten Journalismus beschäftigen und sich eigene Gegenöffentlichkeiten schaffen, hat auch Konsequenzen für die politische Diskussion. Pörksen stellte deshalb drei Diagnosen:

1. Im Übergang von Medien- zu Empörungsdemokratie werden zunehmend gespaltene Öffentlichkeiten sichtbar und manifest. Einer Medienempörung steht heute die Publikumsempörung gegenüber, die auseinanderklafften. Während etwa Thilo Sarrazin von Journalisten dämonisiert worden sei, sei er von vielen Bürgern glorifiziert worden. Ähnliches lasse sich beobachten bei der Skandalisierung von zu Guttenberg und Wulff. Beim Gedicht von Günther Grass zu Israel. Bei der Ukraine-Krise. Beim Germanwings-Absturz. Im Umgang mit Flüchtlingen.

2. Die Medienkritik, Medienschelte und Medienverdrossenheit habe gezeigt, dass die Fiktion, es gebe nur eine Öffentlichkeit, endgültig offenbar geworden sei. Früher wurde „die Öffentlichkeit“ durch den Meinungsdiskurs in relativ wenigen Massenmedien dargestellt; heute zeige sich durch die Diversifizierung der Kommunikation, dass es diese eine Öffentlichkeit nie gegeben habe.

3. Es bildet sich eine fünfte Gewalt der vernetzten Vielen. Das mächtig gewordene Publikum.

Welche Konsequenzen ziehen Journalisten?

Bisher offenbar noch keine. Kein Journalist, sei er Mitarbeiter oder Chefredakteur, konnte bei der Konferenz ein umfassendes Konzept anbieten, auf die neue Kritik einzugehen. Der Intendant von Radio Bremen, Jan Metzger, gestand zwar zu, dass Journalisten heute auch mit Hörern einen qualifizierten Dialog über das Programm führen müssten, sagte aber auch: „Das können wir bisher überhaupt nicht.“ Wir sendeten und warteten ab, ob Hörer und Zuschauer reagieren.

Journalistik-Professorin Margreth Lünenborg spricht von einem „emanzipatorischen Element“; sie fordert, Journalisten müssten die sichtbar werdende Skepsis als Form kompetenten Medienwandels begreifen und in journalistische Prozesse integrieren. Journalisten müssten die „spezifische Gemachtheit journalistischer Produktion“ sichtbar machen, auch um die Autorität von Journalismus zu dekonstruieren. Das sollte Bestandteil der Darstellung werden. Journalisten müssten sich vom Gestus des Objektiven und Authentischen abkehren, das reflexive Vermitteln des Making of zum Bestandteil der Berichterstattung machen. Kritik müsse aufgegriffen, ihr vielleicht sogar vorgebeugt werden, Recherchen transparent gemacht, die Quellen und auch die Interessen der Quellen offengelegt werden, unterstreicht auch Thomas Krüger von der Bundeszentrale für politische Bildung.

Eine Möglichkeit wäre es etwa, die Öffentlichkeit stärker einzubeziehen und auch ihre Kompetenzen zu nutzen. Schließlich findet sich bei jedem Thema außerhalb von Redaktionen ein Experte, der es besser weiß als der Journalist. So lasse sich die Kompetenz der Nutzer einbeziehen. Sie können nach Ansicht von Bernhard Pörksen kluge und wichtige Hinweise liefern, auch wenn man Nutzer in Kauf nehmen müsse, die diffamieren und attackieren. Pörksen spricht davon, dass sich die digitale Gesellschaft im besten Fall zu einer „redaktionellen Gesellschaft“ verändert, in der journalistisches Bewusstsein in gutem Sinne zu einem Element der Allgemeinbildung wird.

In der Auseinandersetzung mit Hörern und Lesern sahen viele Teilnehmer der Diskussion auch Grenzen. Nadine Lindner, Landeskorrespondentin des Deutschlandradios für Sachsen, findet ein Eingehen auf Hörer geboten, wenn sie ernsthaft das Interesse erkennen ließen, sich auf Argumente einzulassen. Es gebe aber „Grenzen der Responsivität“, wenn Hörer sich auf keinerlei Diskussion einlassen wollten. Lindner stellte die Frage, inwiefern solche Bürger überhaupt noch für eine echte politische Diskussion erreichbar seien.

Während der Anschläge von Paris wurde in sozialen Netzwerken sehr viel kommentiert, es wurden ungesicherte Informationen weiterverbreitet, etwa über die Zahl der Toten, über die Orte der Angriffe, auch über Solidaritätsbekundungen. Von dem war vieles nicht wahr. Lügen wurden hier also meistens nicht von Journalisten verbreitet, sondern von jedermann. Für Pörksen ist klar: Während sich früher Journalisten fragen mussten, was glaubwürdig ist, was relevant, was veröffentlichungsreif, müssten heute alle beantworten. Und danach handeln.

Der Theaterregisseur und Autor Hans-Werner Kroesinger, der als Beobachter von außen auf die Konferenz eingeladen wurde, sagte, offenbar glaubten Journalisten in solchen Fällen, den Menschen schnell etwas sagen zu müssen. Vielleicht müsse man die Verunsicherung aber aushalten, bis man etwas wisse.

Christina Holtz-Bacha, Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, findet aber auch, dass die Notwendigkeit des professionellen Journalismus vielen nicht klar sei und deutlich gemacht werden müsse. Schließlich nähmen Journalisten den Bürgern Arbeit ab, weil diese mit der Informationsflut nicht umgehen könnten.

Wie kann die Zukunft aussehen?

Einen Vorschlag hat Robert J. Rosenthal gemacht, der Direktor des gemeinnützigen Center for Investigative Reporting aus Kalifornien. Er glaubt nicht, dass etablierte Medien in der Lage sind, grundsätzliche Strukturen zu ändern, und arbeitet deswegen seit 2008 beim CIR. Das recherchiert erst mal unabhängig von Medien Geschichten und bietet sie dann Medien zur Veröffentlichung an. Es seien Recherchen, die aus einer etablierten Redaktion heraus nie angestellt wurden, sagte Rosenthal bei der Konferenz in Berlin.

Wichtig: Die Geschichten würden auf die Zielgruppen ausgerichtet. Weil es zum Beispiel für eine Reportage über einen jungen Gefängnisinsassen keine Bilder gab, wurde ein Comic gezeichnet, der das illustrieren sollte. Eine weitere Recherche wurde in einem Animationsfilm umgesetzt, die Musik steuerte ein Rapper bei und brachte damit diese Inhalte auch bei seinen Fans und Fans von Rapmusik unter.

Auch Rosenthal spricht sich für mehr Transparenz aus: Das CIR veröffentliche nicht nur die Ergebnisse von Recherchen, sondern auch zugrundeliegende Dokumente und Interviews. Das Internet sei dafür hervorragend geeignet.

Zusammenfassung

Dass ein Wandel in den Medien notwendig ist, haben viele Konferenzteilnehmer so gesehen. Über mögliche Fehler in der Berichterstattung der vergangenen Monate und Jahre, die von den Differenziertern unter den „Lügenpresse“-Rufern immer wieder angebracht werden, wurde kaum ein Wort verloren. Die Wissenschaftler waren in ihren Ansätzen radikaler, sie forderten einen stärkeren und schnelleren Wandel. Viele Journalisten taten sich aber im Allgemeinen recht schwer damit, mit der neuen Kritik umzugehen und ihr adäquat zu begegnen.

Fast alle Vorträge und Diskussionsrunden bei der Tagung können Sie hier nachhören, ergänzt durch Video-Interviews mit Teilnehmern.

Über die Konferenz habe ich auch im Gespräch mit der WDR3-Sendung „Resonanzen“ berichtet:Ergänzend die Darstellung von Christoph Sterz für „Markt und Medien“ im Deutschlandfunk.

Twitter-Hysterie um die #ParisAttacks: Warum Nutzer stärker wie Journalisten denken sollten

Jedem Großereignis mit exzeptioneller Medienberichterstattung folgt eine Phase der Medienschelte. Das war nach dem Amoklauf in Winnenden so, nach dem Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen, auch nach der Affäre um den schließlich zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff. Teils überlagert die Schelte bereits das Ereignis. Selten geht sie ihr voraus.So war es aber bei den Anschlägen von Paris.Über die Kritik ist vor allem kurz danach viel geschrieben worden (das Bildblog hat dazu eine ausführliche Linkliste veröffentlicht). Bemerkenswert an der Kritik finde ich vor allem zweierlei:1. Die Berichterstattung der klassischen, etablierten Medien wird nicht etwa von vorneherein für verzichtbar erklärt, sondern aktiv und vehement eingefordert.2. Entspricht diese allerdings nicht den Erwartungen (in Schnelligkeit, Umfang, Detailgenauigkeit, Erklärungsmustern, Hintergründen) wird auf alternative Quellen ausgewichen. Dabei offenbart sich aber eine verbreitete Unfähigkeit von Nutzern, diese Quellen adäquat einzuschätzen.Letzteres zeigte sich vor allen Dingen darin, welche angeblichen Informationen von Nutzern selbst in die Welt gesetzt und welche davon weitergetragen wurden. „The Independent“ hat einige davon zusammengetragen. Sie lassen sich grob drei Typen zurechnen: Typ 1 waren definitive Fehlinformationen wie die über Vereen Jubbal, der zu einem Terroristen erklärt wurde.

Eine Lüge. Typ 2 waren offensichtliche Fehldeutungen. So wurde ein Tweet, in dem die Anschläge angeblich zwei Tage zuvor vorausgesagt wurden, mehr als 9.500 mal retweetet und fast 6.000 mal geliked.

Dabei handelt es sich bei „PZbooks“ um einen automatisierten Twitter-Account, der wahllos und zufällig Sätze wie den obigen zusammensetzt.

Typ 3 sind Tweets, in denen keine Aktualität behauptet, aber suggeriert wird, wie etwa in diesem hier:

Ian Bremmer twitterte dieses Foto in der Nacht der Terroranschläge um 1.12 Uhr, ohne einen Hinweis darauf, dass das Foto nicht aus dieser Nacht stammt. Es wurde 30.000 mal retweetet und geliked.

Sebastian Horsch schreibt bei „OVB online“ über solche Hoaxes:

Einmal in der Welt, werden diese Lügen in den Sozialen Netzwerken rasend schnell weiterverbreitet – sie wieder einzufangen ist quasi unmöglich. Auch der Urheber – ob er die Fälschung nun absichtlich oder unabsichtlich veröffentlicht hat – hat keine Kontrolle mehr darüber.

Nutzer, die solche Tweets ungeprüft weiterverbreiten, sollten sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Wer auf der einen Seite begrüßt, dass er selbst in der Lage ist, an den früheren Gatekeepern vorbei selbst Informationen verbreiten zu können, sollte auf der anderen Seite seine Verantwortung wahrnehmen, keine Lügen zu streuen. Daniel Fiene schreibt dazu bei „RP online“:

Der gereizten Kommentarkultur im Netz wäre sehr geholfen, wenn jeder beim Weiterverbreiten einer Information kurz in sich ginge und fragte: Was ist die Quelle? Ist das wirklich bestätigt? Was bringt es, wenn ich eine Spekulation poste? Diese Fragen müssen sich heute nicht mehr nur Journalisten stellen, sondern die gesamte Netzgemeinde.

Wie ich fordert er auch implizit, deutlicher zu machen, woher die Informationen stammen, wie zuverlässig sie sind und welche Informationen noch fehlen.

Meine Hoffnung liegt in einer Gegenbewegung: Immer mehr Leser orientieren sich am transparenten Umgang mit Informationen. Wenn offen zwischen dem unterschieden wird, was wir wissen und was wir nicht wissen. Übersicht statt Echtzeitrausch – dadurch wird so mancher näher dran sein, als er glaubt.

Journalisten kommt in dieser Zeit, in der Nutzer ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, eine noch wichtigere Rolle zu: Ihre Aufgabe ist es, Gerüchte zu prüfen, bestätigte Informationen zu veröffentlichen, unbestätigte gar nicht erst zu melden oder zumindest als solche zu kennzeichnen – und leider heutzutage auch, in die Welt gesetzte Gerüchte offensiv zu dementieren, wie es inzwischen mehrere Medien teils sogar regelmäßig machen, etwa der ORF oder die Neue Württembergische Zeitung.

Ich habe schon mal darauf hingewiesen, dass der entscheidende Unterschied zwischen Journalisten und Nutzern meines Erachtens heute nicht mehr im Zugang zu Quellen liegt, sondern darin, diese zu interpretieren. Offenbar kommt ihnen noch stärker, als ich gedacht habe, die Aufgabe zu, der Verbreitung von Nicht-Informationen entgegenzuwirken:

Für viele Bürger stehen diese zwei Arten von Quellen heute gleichberechtigt nebeneinander: Informationen und Nicht-Informationen. Wenn letztere in sich einigermaßen schlüssig sind, wenn sie eigene Meinungen stützen und ins Weltbild passen, sprechen Nutzer ihnen dieselbe Plausibilität zu wie den Quellen, die Journalisten als seriös erachten. Sie haben den Eindruck, sie könnten eine Situation genauso gut einschätzen wie ein Journalist, und zweifeln daran, wenn sie ihre Einschätzung nicht wiederfinden. Konsequenz: der Vorwurf „Lügenpresse“.

Dass in der Nacht der Pariser Anschläge die Berichterstattung etablierter Medien eingefordert wurde, halte ich grundsätzlich für ein gutes Zeichen. Ob Journalisten aber in der Lage sind, ihrer Arbeit nachzugehen und sich gleichzeitig darum zu kümmern, gleichzeitig herumschwirrende Nicht-Informationen zu dementieren, möchte ich bezweifeln.

Paris und die Medien: Warum Journalisten nicht so schnell sind wie die Wirklichkeit

Noch bevor das Ausmaß der Terrorserie von Paris klar wurde, entwickelte sich besonders bei Twitter eine ausufernde Diskussion darüber, warum vor allem die ARD nicht berichtete und stattdessen weiter das Fußball-Länderspiel zwischen Frankreich und Deutschland zeigte.

Der Nachrichtenkollege Udo Stiehl, der während der Ereignisse nicht im Dienst war, hat sich schon in der Nacht seine Gedanken über „eine unerfüllbare Anspruchshaltung“ gemacht. Er gesteht den Kritikern vor allem auf Twitter zu, dass ihr Wunsch nach Berichterstattung plausibel ist, aber nicht wie erwartet erfüllt werden kann.

Weil auch Journalisten nicht an sämtlichen Orten sofort anwesend sind, weil Nachrichten erst recherchiert und dann veröffentlicht werden und weil es nichts mit Journalismus zu tun hat, ob ein Fußballspiel vorzeitig abgepfiffen wird.

Ich kann Udos Beobachtungen nur unterstreichen, auch wenn ich einräumen muss, dass ich, bevor ich in den Dienst kam, ebenfalls über das Programm im Ersten irritiert war. Das lag allerdings nicht daran, dass während des Spiels nicht über die Anschlagsserie berichtet wurde; in jedem anderen Katastrophenfall wird auch zunächst recherchiert, fahren Journalisten an die Orte der Ereignisse, werden Satellitenleitungen gebucht und Moderatoren aktiviert. Der Zuschauer bekommt das aber in der Regel nicht mit, während der „Tatort“ läuft oder die Quizshow.

Das Bizarre war in diesem Fall, dass das Ereignis nebenan passierte und sogar im Stadion hörbar war. Daraus resultierte vermutlich die Vorstellung, die Kameramänner im Stadion könnten mal eben nach draußen laufen und dort Aufnahmen machen. Allerdings ist es weder technisch noch journalistisch so ohne Weiteres möglich, von einer Fußballübertragung auf die sogenannten Elektronische Berichterstattung (EB) umzuschalten. Auch Sportjournalisten sind zwar Journalisten, aber in der Regel weder Experten für Terror noch kennen sie sich an den Orten aus, von denen sie über Fußball berichten. Zumal man ihnen aus Sicherheitsgründen auch nicht zumuten kann, an die Tatorte von laufenden Terrorangriffen zu kommen.

Im Gegensatz zu Udo war ich in der Nacht im Dienst. Für die Online-Seite des Deutschlandfunks habe ich versucht, die Entwicklungen abzubilden. Ich will seine Anmerkungen ergänzen, was ich am Mittag auch schon bei Deutschlandradio Kultur getan habe. Udo fragt:

Was wollen Sie? Gerüchte, unbestätigtes Geschwätz und nicht verifizierte Bilder aus Internet-Streams?

Twitter erweckt den Eindruck, es könnten öffentlich schon viel mehr Details über die Ereignisse bekannt sein als klassische Medien (inklusive deren Online-Ableger) es berichten. Bei Twitter waren in der Tat Augenzeugenberichte zu finden und immer wieder Links zu Periscope-Videos, die gerade live irgendwo in Paris gedreht wurden. Ich habe kurz reingesehen; mehr als Blaulichter auf Straßen in der Nacht waren kaum zu sehen, dennoch gruselte es mich. Auch wenn es Aufgabe von Journalisten ist, zu berichten, so sind wir dennoch keine Plattform für Live-Bilder von Anschlagsorten, an denen sich womöglich noch Terroristen aufhalten. Derlei Bilder verstoßen in mehrfacher Hinsicht gegen journalistische Qualitätsstandards: Die Quelle (Kameramann, Ort, womöglich auch die Zeit) ist nicht verifizierbar, bei Live-Bildern können auch mögliche Opfer ins Bild geraten, die so nicht vor Öffentlichkeit geschützt werden können – nicht auszudenken, dass Terroristen live zu sehen sind, damit eine Plattform bekommen und den Kamermann gefährden. Man darf deswegen Journalisten nicht an Periscope-Videos messen.

Udo Stiehl schreibt weiter:

Welche Vorstellungen haben Sie von unseren Mitteln? An einem späten Freitag Abend sind alle Reaktionen spärlich besetzt, sind die meisten – auch freiberuflichen – Journalisten im Feierabend. Es gibt Alarmketten, um schnellstens Kollegen zu aktivieren, aber auch das braucht ein wenig Zeit. Und die meisten Journalisten müssen nicht einmal angerufen werden, um ihre Arbeit aufzunehmen.

Tatsächlich habe ich den Kollegen im Deutschlandfunk meine Unterstützung angeboten, als deutlich wurde, dass es sich um einen Katastrophenfall handelte. Neben den DLF-Nachrichten wurde auch auf deutschlandfunk.de und über Twitter berichtet, zwischen 0 und 2 Uhr hat der DLF eine zweistündige Sondersendung mit Berichten, Korrespondentengesprächen und Interviews ausgestrahlt. Aber auch das muss erst angeleiert werden. Wir können nicht jederzeit so viele Journalisten vorhalten, wie im Katastrophenfall eingesetzt werden müssen, das wäre finanziell nicht machbar.

Wir leben in einer rasanten Medienzeit, in der jedes mittelmäßige Mobiltelefon in der Lage ist, Bilder zu streamen und Fotos zu verbreiten. Jeder kann in sozialen Medien irgendwelche Dinge verbreiten ohne Quellenangabe, ohne Verifizierung. Und auf sämtlichen Kanälen können Spekulationen stattfinden, ohne dass es Fakten bedarf.

Einige Twitter-Nutzer haben paradoxe Ansprüche: Einerseits lesen sie schnipselweise subjektive Augenzeugenberichte und unbestätigte Gerüchte, hören von unvollständigen und erklärungsbedürftigen Informationen. Einige loben Twitter deshalb als das bessere Medium. Andererseits reicht ihnen das dann allerdings nicht, und sie erwarten von Redaktionen, ihnen daraus eine plausible Berichterstattung zu entwickeln. Zurecht. Allerdings muss man uns Journalisten auch die Zeit geben, die Informationen zu prüfen, einzuordnen und die Ereignisse zu erklären. Wie Udo Stiehl schreibt:

Ohne journalistische Überprüfung, ohne redaktionelle Bearbeitung und ohne intensive Recherche ist das alles nicht mehr als Voyeurismus.

Am Ende darf man nicht vergessen, dass Twitter ein Minderheitenmedium ist. Besonders am Abend schenken viele Menschen Nachrichtenmedien nur noch wenig Aufmerksamkeit. Diejenigen vorschnell und kleckerweise zu bedienen, die ohnehin die Timeline verfolgen, ist nicht unsere Aufgabe. Es geht darum, denjenigen einen Überblick und eine Einordnung zu geben, die diese brauchen. Und das braucht Zeit. Bei allem Verständnis für Ihr Interesse: Haben Sie auch Verständnis für unsere Arbeit.

Nachtrag, 15. November, 19.50 Uhr: Über das Thema habe ich auch im Medienmagazin “Breitband” bei Deutschlandradio Kultur (hier nachhören) und bei “Markt und Medien” im Deutschlandfunk (hier nachhören) gesprochen.

„Lügenpresse“-Vorwurf: Denn sie wissen nicht, was sie tun

Ich muss mich noch mal mit dem Vorwurf der “Lügenpresse” beschäftigen. Weil er weiter stetig die Redaktionen erreicht, für die ich arbeite. Und weil er nicht weggehen wird, wenn wir Medienmacher darauf nur mit Abwehr oder Ignoranz ignorieren.

Für den Deutschlandfunk, für den ich unter anderem arbeite, hat Nachrichtenchef Marco Bertolaso aufgeschrieben, welche Vorwürfe uns dort begegnen, etwa dass das Programm wahlweise von der Bundesregierung, den Amerikanern, der EU oder „dem System“ gesteuert werde.

Der Kulminationspunkt dieser Vorwürfe ist bei einigen Menschen das Schlagwort von der „Lügenpresse“. Meine Reaktion ist ein tiefer Seufzer. Dann die Bitte um differenziertere Kritik, mit der wir etwas anfangen können. Auch die Bitte um gedanklich-rhetorische Abrüstung.

So sehr ich diesen Aufruf unterstütze, wird er doch vom harten Kern der Anhänger dieser These vermutlich nicht gehört werden. Das zeigen schon viele Kommentare zu diesem Artikel bei Facebook. Wer davon ausgeht, dass nichts von dem, was wir berichten, wahr ist, sieht keinerlei Veranlassung, differenziert zu kritisieren; vor allem sieht er in der Regel auch keine Veranlassung, Belege für eigene Behauptungen vorzulegen, argumentiert gerne mit dem Gefühl oder einer unbelegten Meinung wie „Die Mehrheit der Deutschen ist gegen Flüchtlinge“ oder knapper „Wir sind das Volk“.

Ob es nun 20 oder 44 Prozent „der Deutschen“ sind, die den „Lügenpresse”-Vorwurf teilen, wie zwei Umfragen in der vorigen Woche abweichend voneinander behaupten, lasse ich mal dahingestellt sein. Sicher ist, dass es zu viele sind, die davon ausgehen, dass jede von uns verbreitete Information im Kern bewusst falsch ist.

Und in gewisser Weise kann man es ihnen nicht verdenken. Denn sie wissen nicht, was sie tun.

Wir wissen nicht länger exklusiv

In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Situation von Journalisten extrem stark verändert. Beispiel Bundespolitik. Damals hatten Bürger kaum die Möglichkeit, eine Bundestagssitzung persönlich zu besuchen, sie wurden nicht zu Pressekonferenzen eingeladen, kamen nur umständlich in Kontakt mit Bundestagsabgeordneten, Vereinen, Verbänden, Gewerkschaften. Alle diese Quellen waren mehr oder weniger exklusiv Journalisten zugänglich, ihrer Einschätzung vertrauten viele Mediennutzer schon deswegen, weil sie es selbst nicht besser wussten. Nicht besser wissen konnten. Die Arbeit von Journalisten war nur schwierig zu überprüfen.

Das ist heute anders. Jeder Bürger hat die Möglichkeit, die öffentlichen Quellen von Journalisten selbst zu prüfen. Fernsehsender wie Phoenix und auch der Bundestag selbst (im Internet) übertragen alle Bundestagssitzungen in voller Länge (und machen sie dauerhaft abrufbar), Gesetzesvorlagen und Sitzungsprotokolle sind verfügbar. Jedes Ministerium, jede Fraktion stellt eigene Pressemitteilungen bereit, viele Abgeordnete sind per Mail und über soziale Medien erreichbar, der Regierungssprecher twittert, die Bundesregierung ist bei Facebook. Einen solch umfassenden Zugang zu Informationen hatten Bürger noch nie. Damit ist die Arbeit von Journalisten relativ leicht überprüfbar.

So weit, so gut. Das Aufkommen des Internets hat allerdings auch eine Kehrseite: Im Netz sind auch massenweise Texte zu finden, die keinerlei faktische Grundlage haben. Die Meinungen wiedergeben, als Tatsachen maskiert. Die Zusammenhänge falsch herstellen – bewusst oder mangels besseren Wissens – die entscheidende Informationen weglassen, die plausible und naheliegende Erklärungen für wenig wahrscheinlich erachten. Es sind nicht alles Verschwörungstheorien, aber sie sind auch dabei. Es sind Nicht-Informationen, teils gezielte Desinformationen.

Diese gab es auch früher schon, aber kaum die Möglichkeit, sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Journalisten waren in aller Regel in der Lage, damit umzugehen: die Informationen einzuschätzen, zu hinterfragen, zu prüfen, zu gewichten und zu veröffentlichen, auch wenn es dabei freilich eklatante Fehlgriffe gab, etwa die Hitler-Tagebücher, um nur einen zu nennen.

Für viele Bürger stehen diese zwei Arten von Quellen heute gleichberechtigt nebeneinander: Informationen und Nicht-Informationen. Wenn letztere in sich einigermaßen schlüssig sind, wenn sie eigene Meinungen stützen und ins Weltbild passen, sprechen Nutzer ihnen dieselbe Plausibilität zu wie den Quellen, die Journalisten als seriös erachten. Sie haben den Eindruck, sie könnten eine Situation genauso gut einschätzen wie ein Journalist, und zweifeln daran, wenn sie ihre Einschätzung nicht wiederfinden. Konsequenz: der Vorwurf „Lügenpresse“.

Was uns bleibt

Der entscheidende Unterschied zwischen Journalisten und Nicht-Journalisten liegt meiner Meinung nach für einen Großteil dessen, worüber wir tagtäglich berichten, nicht mehr im Zugang zu Informationen, sondern in der Fähigkeit, diese zu interpretieren und in Zusammenhang zu setzen. Denn „die Wahrheit“, wie sie als Ideal den Anhängern des „Lügenpresse“-Vorwurfs vorschwebt, existiert in dieser Absolutheit nicht. Sicherlich gibt es so etwas wie unwiderlegbare Fakten, etwa die Zahl von Todesopfern bei einem Flugzeugabsturz, aber auch Unwägbarkeiten, etwa die Ursache für den Absturz, die eben nicht immer eindeutig benannt werden kann. Auf der Suche nach „der Wahrheit“ zeigen sich Bürger dann Nicht-Informationen gegenüber aufgeschlossen, besonders denen gegenüber, die solche Wahrheiten eindeutig behaupten.

(Hoffentlich die meisten) Journalisten können aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung größere Zusammenhänge herstellen. Sie können Fakten gewichten, die Bedeutung von Akteuren und deren Einfluss in entscheidenden Gremien einschätzen, sie kennen gängige Missverständnisse in der öffentlichen Wahrnehmung, wissen um die (auch historische) Bedeutung von Sprache und Begriffen und können beides deshalb richtig verwenden. Dabei haben sie schon dadurch den meisten Lesern, Hörern und Zuschauern gegenüber einen Vorteil, weil sie sich meist hauptberuflich und kontinuierlich mit einem Thema beschäftigen. Ich weiß, das ist der Idealfall. Aber all das sollte sie jedenfalls in die Lage versetzen, Ereignisse möglichst wahrheitsgemäß darzustellen.

Was wir tun können

Wir sollten aber zusätzlich mehr und mehr versuchen, unsere Arbeit transparent zu machen. Welche Quellen liegen ihr zugrunde (eigentlich schon immer ein Standard), wie wurden sie gewichtet und warum, welchen Hintergrund haben Informationsgeber und Gesprächspartner? Auch: Was wissen wir nicht? Welche Fragen bleiben offen? Wie gehen wir weiter vor? Aber vor allem: Womit lagen wir falsch und warum? Auch der Dialog darüber mit unseren Lesern, Hörern und Zuschauern sollte öffentlich sein – mit der Bereitschaft, sich auf Argumente einzulassen, aber auch mit dem Recht, von den Nutzern Belege für ihre Argumente zu fordern. Nur so können wir dem zunehmenden Misstrauen begegnen.

MDR-Intendantin Karola Wille hat für ihr Haus bereits eine Transparenzoffensive ausgerufen, die in diese Richtung geht:

Glaubwürdiger Journalismus und Transparenz stehen zunehmend im Zusammenhang. Es gilt, die Vielfalt der Meinungen abzubilden, ausgewogen und umfassend die Dinge darzustellen, sorgfältig zu recherchieren, wahrheitsgemäß und sachkundig zu berichten und einzuordnen. Dabei kann Glaubwürdigkeit auch durch journalistische Transparenz gewonnen werden: dem transparenten Umgang mit Quellenangaben, mit Rechercheständen und auch mit Fehlern beispielsweise in der Berichterstattung. Das setzt kritische Selbstreflexion voraus und auch das Führen eines offenen Dialogs mit den Bürgern.

Viele Redaktionen glauben derzeit noch nicht, dass das ihre Aufgabe ist. Sie sehen es als Problem ihrer Leser, Hörer und Zuschauer, dass sie ihnen nicht mehr vertrauen. Tatsächlich kann man den Redaktionen im Großen und Ganzen nicht vorwerfen, dass sie an der Entwicklung der letzten zwanzig Jahre schuld sind. Das ändert jedoch in der Wahrnehmung der „Lügenpresse”-Rufer genau: gar nichts. Wollen wir Journalisten wieder Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, müssen wir erklären, was wir tun, wie wir es tun und warum. Dazu gehört auch, Fehler einzugestehen. Denn Journalisten machen Fehler. Wie alle Menschen. Aber unsere kommen raus, denn das Wesen unserer Arbeit ist es, dass sie öffentlich ist. Den harten Kern der Verschwörungstheoretiker werden wir nicht verändern. Aber wir können erreichen, dass sie immer mehr Schwierigkeiten bekommen, ihre Vorwürfe zu belegen und andere damit auf ihre Seite zu ziehen.

Offenlegung: Ich arbeite als freier Mitarbeiter unter anderem für die Nachrichten- und Onlineredaktion des Deutschlandfunks.

Lügenpresse-Vorwurf: Warum der Stern doppelt so viele Unterstützer sieht wie der WDR

Die Zeitschrift „Stern“ hat diese Woche behauptet, fast die Hälfte der Deutschen würde alle Massenmedien als „Lügenpresse“ bezeichnen. Dabei wussten die Befragten offenbar gar nicht, dass sie danach gefragt wurden. Eine Umfrage für den WDR ergab einen nur halb so hohen Wert. Wer hat Recht?
 

„44 Prozent der Deutschen teilen den ‚Lügenpresse‘-Vorwurf von Pegida“, titelt stern.de am Mittwoch. Nur drei Tage später behauptet WDR5 dagegen, das täten nur 20 Prozent. Die Differenzen sind im wesentlichen auf die Fragestellung zurückzuführen. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat die Umfrage für den Stern durchgeführt. Der erklärt die Methode im Online-Artikel so:

Um zu prüfen, inwieweit inhaltliche Positionen aus dem Pegida-Umfeld geteilt werden, wurden den 1002 repräsentativ ausgesuchten Bundesbürgern zehn Original-Aussagen vorgelesen – mit der Bitte anzugeben, ob sie der jeweiligen Aussage voll und ganz, eher, eher nicht oder überhaupt nicht zustimmen. Eine nennenswerte Zahl von Deutschen, nämlich 44 Prozent, stimmt mehr oder weniger lediglich der kritischen Einschätzung der „Lügenpresse“ zu, nach der die Medien in Deutschland “von ganz oben gesteuert” würden und deshalb “geschönte und unzutreffende Meldungen” verbreiteten.

Diese Darstellung ist wenig schlüssig: stern.de behauptet zunächst, die Befragten hätten vier Antwortmöglichkeiten gehabt, und zwar „voll und ganz“, „eher“, „eher nicht“ und „überhaupt nicht“. In der dazugehörigen Grafik tauchen aber nur noch drei Kategorien auf: „voll und ganz“, „eher ja“ und „stimme nicht zu“, wobei offen bleibt, wie die Antwortkategorien hier zusammengefasst wurden. Im Text wurde dann implizit eine ganz neue Kategorie erschaffen, die „mehr oder weniger“ heißt. Wie die 44 Prozent hierfür zustandekommen, wird nicht erklärt.

Die Grafik legt eine Deutung nahe, wird aber nicht explizit. Die Printausgabe des Sterns gibt darauf eher eine Antwort, allerdings werden die Ergebnisse hier noch stärker vereinfacht: Hier gibt es nur noch die Antworten „ja“ und „nein“ – beim Lügenpresse-Vorwurf also 44 zu 56 Prozent.

So verfährt die Zeitschrift auch, wenn sie die ermittelten Ergebnisse zu den anderen Aussagen präsentiert. Dabei ergeben jedoch auffällig überall „ja“ und „nein“ jeweils 100 Prozent. Dabei wird sowohl online als auch in der Printausgabe darauf hingewiesen:

An 100 Prozent fehlende Angaben: weiß nicht.

Diese Antwort kommt jedoch dem Stern zufolge allerdings fast nicht vor. Es ist schwer vorstellbar, dass sie nie gegeben wurde, denn viele der Aussagen sind so umständlich formuliert, dass einige Befragte sie, am Telefon vorgelesen, kaum verstanden haben können.

Dass der Anteil von „weiß nicht“-Antwortern bei allen Aussagen jeweils über 0 Prozent liegt, ist naheliegend. Dass es solche Antworten grundsätzlich gab, zeigt sich an den Antworten auf die relativ simple Frage „Stehen die Pegida-Demonstranten stellvertretend für die breite Mitte der deutschen Gesellschaft?” Darauf konnten oder wollten immerhin 8 Prozent keine Antwort geben.

Bei der Zustimmung oder Ablehnung der Pegida-Aussagen verwirft der Stern also die Antworten der Ratlosen und erhöht damit die Werte für „ja“ und „nein“, was vermutlich auch den Wert der Lügenpresse-Befürworter auf 44 Prozent steigen lässt.

Wie soll man antworten?

Der Mathematiker und Statistiker Gerd Bosbach von der Hochschule Koblenz weist zusätzlich darauf hin, dass die vorgelegten Pegida-Aussagen von vielen Befragten schwierig einzuschätzen seien. Im Deutschlandfunk sagte er, er wüsste nicht, was er beispielsweise auf die erste Aussage antworten sollte:

Da sind quasi mindestens zwei Fakten drin: Von oben gesteuerte Medien, und sie verbreiten nur unzutreffende Meldungen. Wenn ich jetzt bei dem einen ja und bei dem anderen nein sagen würde, was soll ich denn dann da ankreuzen?

Der Begriff „Lügenpresse“ kommt zudem in den sogenannten „Original-Aussagen“ überhaupt nicht vor, er ist eine Interpretation von stern.de. Die zugrunde gelegte Aussage lautete eigentlich: „Die von oben gesteuerten Medien verbreiten nur geschönte und unzutreffende Meldungen“. Das mag der Kern des Lügenpresse-Vorwurfs sein – die Wortwahl ist es nicht. Die methodischen Überlegungen, die dazu führten, den Lügenpresse-Vorwurf nicht explizit abzufragen, mögen verständlich sein, die verzerrende Darstellung der Ergebnisse macht die Ergebnisse der Umfrage jedoch fragwürdig.

Wissen die Befragten, dass sie nach der “Lügenpresse” gefragt werden, antworten sie offenbar anders. Einen Beleg dafür liefert eine zweite Umfrage aus dieser Woche: Infratest Dimap hat für den WDR ausdrücklich nach diesem Begriff gefragt. Demnach stimmen ihm nur 20 Prozent ausdrücklich zu. Dem Meinungsforschungsinstitut zufolge lautete die Frage:

Im Zusammenhang mit den Protesten der Pegida-Bewegung wird häufiger der Begriff Lügenpresse verwendet. Wenn Sie an Zeitungen, Radio und Fernsehen in Deutschland denken, würden Sie persönlich dann von Lügenpresse sprechen oder nicht?

Die Antwort „Ja, würde von Lügenpresse sprechen“ gaben demnach 20 Prozent, 72 Prozent sagten „Nein, würde nicht von Lügenpresse sprechen“, die übrigen 8 Prozent äußerten sich nicht. Auch weitere Ergebnisse aus dieser Umfrage untermauern die Sichtweise, dass der Lügenpresse-Vorwurf von deutlich weniger als 44 Prozent der Deutschen geteilt wird. Zumindest aber liefern die Antworten widersprüchliche Ergebnisse. So geben dort 88 Prozent an, das Informationsangebot in deutschen Medien sei sehr gut oder gut, 52 Prozent halten die Informationen für glaubwürdig (immerhin 42 Prozent auch nicht), 37 Prozent rechnen zumindest mit häufigen Lügen. Ein eindeutiges Bild, wie “die Deutschen” “die Massenmedien” sehen, ist jedoch weder aus der einen noch aus der anderen Umfrage ablesbar. Es zeigt vielmehr, dass sogar die Nutzer ihre Schwierigkeiten haben, alle Medien über einen Kamm zu scheren – was den pauschalen Lügenpresse-Vorwurf nur umso absurder macht.

Der Stern-Umfrage lässt sich jedenfalls, von den grundsätzlichen methodischen Schwierigkeiten bei Meinungsumfragen mal abgesehen, kein gutes Zeugnis ausstellen. Hier bleiben wesentliche Fragen offen, die für das Verständnis und die Interpretation wichtig sind. Es ist eine Ironie dieser Untersuchung, dass sie ein Argument für den Vorwurf der Lügenpresse liefern kann, obwohl sie diesen vorgeblich nur untersuchen will.

Offenlegung: Ich arbeite als freier Journalist unter anderem für den WDR.

Ergänzung, 20.20 Uhr: Stefan Niggemeier war ähnlich irritiert wie ich und hat beim Stern nachgefragt. Der gibt sich übrigens weitgehend ahnungslos.

Ergänzung, 4. November: Der Statistikprofessor Björn Christensen warnt bei WDR5 vor der Fehlinterpretation von Statistiken.

Merkels Spiel mit den Medien

Bundeskanzlerin Angela Merkel versteht es, die Medien für ihre Zwecke zu benutzen. Am Dienstag hatte sie sich noch dagegen ausgesprochen, Jean-Claude Juncker, den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei, der auch Merkels CDU angehört, zum EU-Kommissionspräsidenten zu machen. Ihre Äußerungen hatten ihr viel Kritik gebracht.

Auf dem Katholikentag in Regensburg scheint sie nun anscheinend einzulenken – und die Medien machen genau das daraus, was Merkel wollte. So schreibt etwa die dpa:

Merkel: Juncker soll EU-Kommissionspräsident werden

tagesschau.de titelt:

Merkel spricht sich für Juncker aus

Aber die Medien legen Merkel falsch aus. Im Original hat sie nämlich gesagt:

Und was die Personen anbelangt, so haben wir zum ersten Mal ganz offiziell Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten benannt, alle Parteien. Und es gab das Einverständnis, dass die Partei, die dann die stärkste wird, die Parteiengruppe, auch dann den Kommissionspräsidenten stellt. Und es hat sich herausgestellt: Die Europäische Volkspartei mit ihrem Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker ist die stärkste politische Kraft geworden, und deshalb führe ich jetzt alle Gespräche genau in diesem Geist, dass Jean-Claude Juncker auch Präsident der Europäischen Kommission werden sollte.

Sie sagt nicht: Ich will, dass er es wird. Oder: Ich setze mich dafür ein, dass er es wird. Sondern sie sagt: „in diesem Geis“” will sie reden. Das ist aber nichts anderes als das, was sie bisher getan hat und was auch in den Verträgen steht:

Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament.

(Hervorhebung von mir)

Nichts anderes sagt sie: „in diesem Geiste“. Daraus zu machen, wie der Spiegel – „Merkel unterstützt Juncker doch“ – ist einfach falsch.

 

(Dies ist eine späte Übernahme aus meinem Tumblr-Blog von 2014, eingefügt am 13.09.2019.)