Der Kampf um Aufmerksamkeit im Netz wird immer schwieriger. Ihr Publikum finden Medien nicht mehr nur auf ihrer eigenen Webseite, sondern auch auf anderen Plattformen wie etwa sozialen Netzwerken. Doch alle machen es nötig, die Nutzer dort anders anzusprechen – weil die Nutzer überall anders sind. Darum kümmert sich in immer mehr Medienhäusern die Abteilung für Audience Development. Für „Breitband“ in Deutschlandfunk Kultur habe ich mal versucht zu erklären, was das eigentlich ist und was die so machen. Das Audio dazu gibt es hier, mehr zur Sendung hier. Meine Interviewpartner waren unter anderem Torsten Beeck von Spiegel Online und Björn Wagner von Zeit Online.
Kategorie: Spiegel
Überraschende Umfrage: 5 Millionen Deutsche würden in die Türkei fahren
Umfragen sind eine heikle Angelegenheit. Manchmal scheinen sie eine Geschichte zu erzählen, die sich bei näherer Betrachtung als gar nicht so spektakulär herausstellt.
Spiegel online hat gestern eine repräsentative Umfrage veröffentlicht, die das Umfrageunternehmen Civey für sie durchgeführt hat. Die Frage lautete: „Können Sie sich angesichts der aktuellen politischen Situation vorstellen, in die Türkei zu reisen?“ Der Umfrage zufolge würden 92 Prozent der Befragten momentan eher nicht in die Türkei reisen. 79,8 Prozent sagten „Nein, auf keinen Fall“, weitere 12,2 Prozent „Eher nein“.
Interessant ist der Umkehrschluss: 6,4 Prozent tendieren eher zum Ja. 3,7 Prozent antworteten demnach mit „Ja, auf jeden Fall“ und weitere 2,7 Prozent mit „Eher ja“.
Freilich kann man daraus nicht schließen, dass all diese Leute tatsächlich in die Türkei reisen werden. Würden sie es aber tun, könnte die Türkei – sagen wir mal auf das Jahr 2017 gerechnet – 5,26 Millionen deutsche Touristen begrüßen können.
Und das liegt gar nicht so weit entfernt von den tatsächlichen Besucherzahlen vor Beginn der politischen Umbrüche in der Türkei. Im Jahr 2015 kamen 5,6 Millionen Urlauber in organisierten Reisen in die Türkei, weitere als Individualtouristen. „Die Welt“ schreibt weiter:
Schätzungen zufolge dürfte diese Zahl 2016 schlagartig auf nur noch rund vier Millionen zurückgefallen sein.
Angesichts dessen könnte sich die türkische Tourismusbranche über einen Zuwachs für 2017 freuen.
Natürlich können sich immer mehr Menschen vorstellen, an einem bestimmten Ort ihren Urlaub zu verbringen, als dann tatsächlich hinfahren. Insofern wären die eher zustimmenden Antworten in anderen Zeiten sicher höher ausgefallen.
Aber es zeigt sich auch, dass eine Umfrage eben nur eine Umfrage ist. Womöglich machen sich nur wenige Befragte ernsthaft Gedanken darüber, wie wohl ein Urlaub in der Türkei zu realisieren würde, ob Touristen betroffen wären, wie der Alltag am Urlaubsort wäre. Stattdessen schließen die Befragten auf die eigentliche Frage, die der Umfrage implizit zugrunde liegt, nämlich wie ihre politische Einstellung oder auch ihre Gefühlslage gegenüber der Türkei gerade ist. Gerade der Spin der Fragestellung „Können Sie sich angesichts der aktuellen politischen Situation vorstellen, in die Türkei zu reisen?“ lenkt die Antworten bereits in eine bestimmte Richtung.
Letztlich sagt diese Umfrage also weniger aus als man erst mal aus ihr herauszulesen glaubt.
Schnell, aber falsch
Ein kleiner Nachtrag zu meinen Beiträgen über Eilmeldungen.
Das Elend der Eilmeldung in drei Tweets pic.twitter.com/tRDCuNrXZh
— Stefan Fries (@stfries) March 10, 2017
Eine kleine Prosa über Thomas Hitzlsperger in der „Welt“
Es ist bemerkenswert, wie Welt online eine kleine Unterhaltung zwischen zwei Fußballern zu einem großen Artikel aufpumpt. Der Autor Stephan Flor wagt dabei Ausflüge in die Prosa, um aus einem kurzen Moment einen möglichst langen Artikel zu machen.
Und darum geht es: Fußballer Clarence Seedorf fragt seine Kollegen Thomas Hitzlsperger, warum dieser so offen darüber spreche, dass er schwul ist. Anschauen kann man sich das hier:
Thomas Hitzlsperger: Why it's important that gay football players come out in public pic.twitter.com/YuCpQ3DMog
— Tilo Jung & Live @Home (@TiloJung) March 7, 2017
Das reicht Welt-Autor Flor aber nicht. Zunächst stellt er Hitzlsperger vor, dem er dann lobend bescheinigt:
Hitzlsperger macht aus seiner Homosexualität kein Geheimnis mehr, stellt sie aber auch nicht ins Schaufenster. Wenn es darauf ankommt und es wichtig ist, thematisiert er sie.
In diesem Stil geht es weiter. Immer wieder driftet Flor in Prosa ab, etwa wenn er schreibt:
Der Deutsche lockerte die Stimmung mit einem Spruch auf…
Dann wandte er sich mit einer ernsten Frage an Hitzlsperger.
Hitzlsperger erklärte Seedorf in zwei Minuten in beeindruckender Weise…
…sagte Hitzlsperger in geschliffenem Englisch.
Dann kommt Hitzlsperger zum entscheidenden Punkt, warum er es für so wichtig hält, über seine Homosexualität zu reden.
Hitzlsperger will niemanden mit seinen Aussagen ärgern, schon gar nicht Seedorf.
Die Worte beeindruckten Seedorf.
Es ist eine kleine subjektive Geschichte, die die „Welt“ hier erzählt, keine neutrale Erzählung dessen, was passiert ist. Woher weiß der Autor, was Hitzlsperger will? Wie beeindruckt Seedorf ist? Es sind eine ungewöhnliche Art, die kurze Episode zu erzählen.
Lesezeit laut „Welt“ übrigens: 4 Minuten. Dauer der Episode: rund 2 Minuten.
P.S.: Spiegel online macht vor, wie man das auch etwas sachlicher tun kann.
Journalisten auf der schiefen Bahn – eine kleine Presseschau
Der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG hat kein grünes Licht für eine Vertragsverlängerung für Bahnchef Grube gegeben. Das hat in vielen Redaktionen die Weichen gestellt: Vorsicht an der Bahnsteigkante und Bahn frei für einen ganzen Zug an Floskeln.
Spiegel online
Tagesschau um 20 Uhr
„Nun also Bahn frei für die Nachfolgersuche…“
„Die SPD betonte heute, sie wolle auf jeden Fall mitentscheiden, wer künftig die Weichen bei der Bahn stellt.“
Süddeutsche.de
„Am Donnerstagmorgen vergangener Woche liegt Rüdiger Grubes Leben Leben noch voll im Plan.“
„Draußen geht gerade die Sonne auf, drinnen ist Grube nur schwer zu bremsen.“
FAZ.net
(Die FAZ reagierte im Übrigens mit dem Artikel „Wie das Netz auf Rücktritt von Bahnchef Rüdiger Grube reagiert“ und spricht von einem „gefundenen Fressen“. Da kannte der Autor aber seine eigenen Kollegen nicht.)
ZEIT online
Berliner Morgenpost
Deutschlandfunk, Kommentar
„Auch an der Spitze des Unternehmens Deutsche Bahn gibt es keine reservierten Vertragsverlängerungen und keine ungestörten Betriebsabläufe beim Übergang von einem Chef zum anderen.“
„Hatte er den Bahn-Konzern nach der Ära Hartmut Mehdorn doch wieder auf die Spur gesetzt…“
„…die Verantwortung für die Weichenstellungen der Zukunft“
„Streiterei um die Konzernführung braucht die Bahn aber nicht, sondern einen entschlossenen Lokführer an der Spitze.“
Tagesspiegel
„Grube musste die S-Bahn wieder aufs Gleis stellen…“
Wirtschaftswoche
Handelsblatt
Von der Eilmeldung zur Voreiligmeldung
Manchmal hat man den Eindruck, eine Eilmeldung zu wichtigen, absehbaren Ereignissen müsse fast noch vor deren Stattfinden versendet werden. Kein Wunder, dass es dann zu Fehlern wie diesem kommt:
Was war das denn jetzt? #npdverbot #eilmeldungen pic.twitter.com/8aqrNUhzID
— Danny Hollek (@dannytastisch) January 17, 2017
Das war wohl nix: @SPIEGELONLINE: https://t.co/br6zwIAYNA@zeitonline: https://t.co/t2eB0UIb2b #NPDVerbotsverfahren #Eilmeldungen pic.twitter.com/Z8fZr2OZtI
— Martin Krauß (@martin_krauss) January 17, 2017
Dazu trägt vermutlich auch eine gewisse Hektik in Reaktionen bei. Wer nur einen kleinen Satz von Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung verpasst hat, kann ihn sogleich völlig missverstehen.
Zu falschen #Eilmeldungen zum #NPD-Verbot: #BVerfG hatte zunächst den Antrag verlesen, das wurde von einigen wohl als Urteil missverstanden
— Patrick Gensing (@PatrickGensing) January 17, 2017
Der Spiegel hat sich für den Irrtum entschuldigt:
Aufgrund eines Missverständnisses in der Redaktion haben wir irrtümlich gemeldet, die NPD sei verboten worden. Der Fehler tut uns leid.
— SPIEGEL ONLINE +EIL+ (@SPIEGEL_EIL) January 17, 2017
Mit einem anderen Aspekt zum Thema Eilmeldung, ihrer Entwertung durch zu viele davon, habe ich mich neulich schon beschäftigt.
Ein Hoeneß muss nicht gewählt werden
Gut, gut, offenbar gibt es wenige Zweifel daran, dass Uli Hoeneß demnächst wieder Präsident des FC Bayern München sein wird. Allerdings haben sich manche Journalisten heute dermaßen überschlagen, dass ganz durcheinander ging, wie das eigentlich ablaufen soll. Kandidatur? Wahl? Offenbar nicht nötig.
Hoeneß kehrt beim FC Bayern als Präsident zurück https://t.co/m1jfUb478h
— Sportschau (@sportschau) August 8, 2016
So war sich die Sportschau etwa schon sehr sicher, dass Hoeneß zurückkehrt – laut Tweet und Überschrift des Artikels in jedem Fall. Sogar der ersten Satz im Text lautete „Honeß wird sich (…) wählen lassen.“ Das ist kühn. Auch MDR Aktuell formulierte das so, als sei Hoeneß soeben gewählt worden.
EIL: Uli #Hoeneß wird wieder Päsident von @FCBayern
— MDR Aktuell (@MDRaktuell) August 8, 2016
ZDF heute schrieb zwar zuerst richtig, dass Hoeneß kandidiere, rutschte dann aber später wieder teilweise in den Indikativ ab.
Uli #Hoeneß kehrt im November in offizieller Funktion zu #BayernMünchen zurück und will wieder Präsident werden https://t.co/sMlH3gBtAi
— ZDF heute (@ZDFheute) August 8, 2016
Während die Süddeutsche Zeitung sich zumindest sprachlich ein wenig distanzierte.
Uli #Hoeneß wird nach seiner Haftstrafe wohl wieder Präsident des @FCBayern – hier die Hintergründe. https://t.co/KDAnDeZm6N
— Süddeutsche Zeitung (@SZ) August 8, 2016
Vielleicht haben sich einige Journalisten auch zu sehr auf die Formulierung der Nachrichtenagentur SID verlassen. Der Sport-Informationsdienst etwa meldete die Kandidatur ebenfalls als praktisch unnötig.
Sehr schön hat die ganze Geschichte SPIEGEL online zusammengefasst.
Sehr schön, @SPIEGEL_Sport. #Uli pic.twitter.com/kbvYxN7QRE
— Hendrik Buchheister (@h_buchheister) August 8, 2016
Am Ende gilt aber in jedem Fall:
Auch ein #Hoeneß muss erst noch gewählt werden.
— Danny Marx (@dannytastisch) August 8, 2016
Wie sich Medien zum Sprachrohr eines Tatverdächtigen machen
Hey, das lief ja gut für den Bielefelder Rechtsanwalt Detlev Binder. Er vertritt Wilfried W., der in seinem Haus in Höxter zwei Frauen zu Tode gequält haben soll.
Er hat dem „Westfalen-Blatt“ ein Interview gegeben. In einem Video-Interview dort sagt er, die beiden Opfer könnten noch leben, wenn die Polizei damals richtig reagiert hätte.
Binder macht seinen Job richtig: Er verteidigt seinen Mandanten. Es steht ihm frei, dessen Version in die Öffentlichkeit zu geben. Auch wenn es manch einem merkwürdig erscheinen mag, dass er einen Teil der Verantwortung auf die Polizei abwälzt, darf er das tun. Wahrscheinlich hätte er aber nicht gedacht, dass ihm viele Medien so willfährig folgen und seine Version fast ungefiltert weitergeben.
So schreibt etwa der Kölner Stadt-Anzeiger:
#Höxter schwere #Vorwürfe gegen die #Polizei – Frau hätte gerettet werden können. https://t.co/SJgVhyEdzo
(ama)— ksta.de (@ksta_news) 25. Mai 2016
„Das Täterpaar wollte die Frau freilassen und fuhr mit ihr zur Polizeiwache“, heißt im Anreißer zum Link. Tat es das wirklich? Wollte es das wirklich? Die Indikative im Satz legen das nahe. Aber wir wissen es nicht; die einzige Quelle dafür ist parteilich.
Auch der Tagesspiegel erweckt mit seiner Überschrift den Eindruck von Tatsachenbehauptungen:
Der Stern versteckt immerhin den Urheber der Aussagen in der Dachzeile:
Überrascht bin ich, dass sich die Clickbaiting-Maschine focus.de zurückhält und sich sogar in der Überschrift von der Aussage des Anwalts distanziert:
Ebenso wie Spiegel online:
Sowohl Focus als auch Spiegel tun dann aber auch kaum anderes, als die Aussagen des Anwalts wiederzugeben. Zwar gibt es den Hinweis darauf, dass sich die Polizei wegen der laufenden Ermittlungen nicht dazu äußern möchte. Aber beide geben dem Tatverdächtigen breiten Raum, ohne den Vorwürfen eine zweite Meinung oder Fakten entgegenstellen zu können. Und rücken damit die Polizei in den Mittelpunkt des Falls.
Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt. Die Journalisten wissen es auch nicht. Was sich der Leser denkt: keine Ahnung.
Vorwürfe erheben kann jeder. Aber es liegt in der Verantwortung von Journalisten, diesen Vorwürfen entweder nachzugehen und sie zu erhärten – oder die Geschichte erst mal liegenzulassen.
Aber sie klang einfach zu spektakulär. Vielleicht wusste Detlev Binder das.
Merkels Spiel mit den Medien
Bundeskanzlerin Angela Merkel versteht es, die Medien für ihre Zwecke zu benutzen. Am Dienstag hatte sie sich noch dagegen ausgesprochen, Jean-Claude Juncker, den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei, der auch Merkels CDU angehört, zum EU-Kommissionspräsidenten zu machen. Ihre Äußerungen hatten ihr viel Kritik gebracht.
Auf dem Katholikentag in Regensburg scheint sie nun anscheinend einzulenken – und die Medien machen genau das daraus, was Merkel wollte. So schreibt etwa die dpa:
Merkel: Juncker soll EU-Kommissionspräsident werden
tagesschau.de titelt:
Merkel spricht sich für Juncker aus
Aber die Medien legen Merkel falsch aus. Im Original hat sie nämlich gesagt:
Und was die Personen anbelangt, so haben wir zum ersten Mal ganz offiziell Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten benannt, alle Parteien. Und es gab das Einverständnis, dass die Partei, die dann die stärkste wird, die Parteiengruppe, auch dann den Kommissionspräsidenten stellt. Und es hat sich herausgestellt: Die Europäische Volkspartei mit ihrem Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker ist die stärkste politische Kraft geworden, und deshalb führe ich jetzt alle Gespräche genau in diesem Geist, dass Jean-Claude Juncker auch Präsident der Europäischen Kommission werden sollte.
Sie sagt nicht: Ich will, dass er es wird. Oder: Ich setze mich dafür ein, dass er es wird. Sondern sie sagt: „in diesem Geis“” will sie reden. Das ist aber nichts anderes als das, was sie bisher getan hat und was auch in den Verträgen steht:
Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament.
(Hervorhebung von mir)
Nichts anderes sagt sie: „in diesem Geiste“. Daraus zu machen, wie der Spiegel – „Merkel unterstützt Juncker doch“ – ist einfach falsch.
(Dies ist eine späte Übernahme aus meinem Tumblr-Blog von 2014, eingefügt am 13.09.2019.)