Etwas Gutes hat die Diskussion über die Zeitumstellung in der EU ja. Sie lenkt den Blick darauf, wie unsinnig manch eine Umfrage sein kann, die für politische Entscheidungen herangezogen wird.
„Millionen haben geantwortet und sind der Auffassung, dass es so sein sollte, dass die Sommerzeit in Zukunft für alle Zeit gilt. So wird das auch kommen“, sagt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. „Die Menschen wollen das, wir machen das.“
Aber wollen „die Menschen“ das wirklich? Die Mehrheit von denen, die abgestimmt haben, offenbar schon – aber sind das auch „die Menschen“?
Juncker beruft sich auf die Online-Umfrage, die die EU zu dem Thema durchgeführt hat. Es sollte ursprünglich mal lediglich eine unverbindliche Befragung werden, die ein Stimmungsbild abfragen und die EU-Kommission lediglich darin unterstützen sollte, einen Vorschlag zu dem Thema vorzulegen. Die 80 Prozent gegen die Zeitumstellung scheinen Juncker aber so eindeutig zu sein, dass er all das außer acht lässt, was diese Umfrage als völlig ungeeignet macht, um wirklich aussagekräftig zu sein.
Wie aussagekräftig ist die Umfrage?
In der EU leben 512 Millionen Menschen. Rund 400 Millionen sind wahlberechtigt. An der Abstimmung beteiligt haben sich 4,6 Millionen Menschen, also rund 1,1 Prozent aller EU-Bürger. Schon das ist nicht viel.
Von den 4,6 Millionen stimmen kamen alleine 3 Millionen aus Deutschland, also rund 65 Prozent. Bei den wahlberechtigten EU-Bürgern machen die Deutschen allerdings nur 15 Prozent aus, sind also in der Umfrage krass überrepräsentiert.
Hätte die Umfrage repräsentativ sein sollen, hätte man darauf achten müssen, dass die befragte Gruppe insgesamt repräsentativ ist. Das hieße, dass alle Altersgruppen in genau der Stärke in der befragten Gruppe vertreten sein müssten wie in der Gesamtbevölkerung der EU. Gleiches gilt für die Verteilung von Männern und Frauen und bei einer EU-weiten Umfrage definitiv auch für die Verteilung der Nationalitäten.
Repräsentativität wurde hier aber von Anfang an gar nicht angestrebt und die Umfrage deshalb auch nicht so konzipiert. Wer sich beteiligt hat, hat das freiwillig getan. Und dabei tritt ein Effekt auf, den der Statistiker Gerd Bosbach von der Hochschule Koblenz so beschreibt:
Antworten tun die, die ein starkes Interesse an dem Thema haben. Erfolg ist, dass man quasi nur Aussagen einer ganz, ganz speziellen Gruppe – das sind meistens die starken Befürworter für irgendwas oder die starken Gegner davon – von denen hat man dann Aussagen, und die lassen sich leider überhaupt nicht übertragen auf die Gesamtheit der Menschen.
Da verwundert es nicht, dass die Gegner der Zeitumstellung im Ergebnis so stark vertreten sind. Wer unter der Umstellung gesundheitlich leidet, hat eine hohe Motivation, abzustimmen. Wer das nicht tut, sondern lediglich die langen Sommerabende genießt, verspürt diesen Druck weniger. Und wem es egal ist, der beteiligt sich noch weniger.
Hat Pech gehabt, wer nicht mit abgestimmt hat?
Nun könnte man sagen, dass man darauf ja keine Rücksicht nehmen muss, denn wer dazu keine Meinung hat, den wird weder die Beibehaltung der Zeitumstellung noch ihre Abschaffung wirklich interessieren.
Das ist ein Argument, das man für allgemeine Wahlen gelten lassen kann. Wer nicht teilnimmt, muss tatsächlich mit dem Wahlergebnis zurechtkommen und auch mit den politischen Entscheidungen, die später getroffen werden. Der Unterschied liegt aber zum einen darin, dass eine Wahl so eine Art Meinungsumfrage in Vollerhebung ist (konkret: alle Wahlberechtigen werden danach befragt, welche Partei ihrer Meinung nach ins Parlament einziehen sollte) und keine freiwillige Abstimmung. Und zum anderen werden alle Wahlberechtigten über die Wahl informiert. Selbst wer sich nicht in Medien informiert und im Stadtbild keine Wahlwerbung wahrnimmt, bekommt Wahltermin und -ort per Post mitgeteilt.
Von der Online-Umfrage werden dagegen vor allem diejenigen erfahren haben, die sich ohnehin mit dem Thema beschäftigen oder die zufällig auf die weiteren Meldungen in der Politikberichterstattung stoßen. Und selbst wenn sie davon wussten und ein Interesse am Thema haben, müssen sie sich nicht beteiligt haben: Die EU-Kommission hat die Umfrage von Anfang an als unverbindliches Stimmungsbild bezeichnet, von dem man keine unmittelbare politische Bindungskraft erwarten musste.
Im Endeffekt ist das Ergebnis enorm verzerrt. Das dürfte auch Juncker wissen. Warum er es dennoch so stark gelten lässt, mögen andere beurteilen.
Wie wichtig nehmen Politiker Umfragen?
Die Umfrage wirft aber ein interessantes Schlaglicht darauf, welchen enormen Stellenwerten solche Abstimmungen in der öffentlichen Wahrnehmung inzwischen einnehmen – und auch in der täglichen Politik.
Politiker, die gute Werte für sie als verlässliches Stimmungsbild sehen und schlechte Werte als verzerrtes Bild abtun, das ihrer persönlichen Wahrnehmung widerspricht. Politiker, die vor einer Landtagswahl enorme Zustimmung für den politischen Gegner sehen und daraufhin ihren Wahlkampf radikalisieren. Politiker, die mit dem Rückenwind von Umfragen versuchen, politische Entscheidungen durchzusetzen, „die die Menschen so wollen“ – ganz gleich, wie verlässlich die Ergebnisse sind.
Natürlich steht es der EU-Kommission frei, einen Vorschlag vorzulegen, wie mit der Zeitumstellung verfahren werden soll, über den dann auch das EU-Parlament und die Mitgliedsstaaten abstimmen. Sich aber auf eine dermaßen schräge Umfrage zu berufen, ist als politisches Argument lächerlich – und auch eine Form von Populismus.