Twitter-Hysterie um die #ParisAttacks: Warum Nutzer stärker wie Journalisten denken sollten

Jedem Großereignis mit exzeptioneller Medienberichterstattung folgt eine Phase der Medienschelte. Das war nach dem Amoklauf in Winnenden so, nach dem Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen, auch nach der Affäre um den schließlich zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff. Teils überlagert die Schelte bereits das Ereignis. Selten geht sie ihr voraus.So war es aber bei den Anschlägen von Paris.Über die Kritik ist vor allem kurz danach viel geschrieben worden (das Bildblog hat dazu eine ausführliche Linkliste veröffentlicht). Bemerkenswert an der Kritik finde ich vor allem zweierlei:1. Die Berichterstattung der klassischen, etablierten Medien wird nicht etwa von vorneherein für verzichtbar erklärt, sondern aktiv und vehement eingefordert.2. Entspricht diese allerdings nicht den Erwartungen (in Schnelligkeit, Umfang, Detailgenauigkeit, Erklärungsmustern, Hintergründen) wird auf alternative Quellen ausgewichen. Dabei offenbart sich aber eine verbreitete Unfähigkeit von Nutzern, diese Quellen adäquat einzuschätzen.Letzteres zeigte sich vor allen Dingen darin, welche angeblichen Informationen von Nutzern selbst in die Welt gesetzt und welche davon weitergetragen wurden. „The Independent“ hat einige davon zusammengetragen. Sie lassen sich grob drei Typen zurechnen: Typ 1 waren definitive Fehlinformationen wie die über Vereen Jubbal, der zu einem Terroristen erklärt wurde.

Eine Lüge. Typ 2 waren offensichtliche Fehldeutungen. So wurde ein Tweet, in dem die Anschläge angeblich zwei Tage zuvor vorausgesagt wurden, mehr als 9.500 mal retweetet und fast 6.000 mal geliked.

Dabei handelt es sich bei „PZbooks“ um einen automatisierten Twitter-Account, der wahllos und zufällig Sätze wie den obigen zusammensetzt.

Typ 3 sind Tweets, in denen keine Aktualität behauptet, aber suggeriert wird, wie etwa in diesem hier:

Ian Bremmer twitterte dieses Foto in der Nacht der Terroranschläge um 1.12 Uhr, ohne einen Hinweis darauf, dass das Foto nicht aus dieser Nacht stammt. Es wurde 30.000 mal retweetet und geliked.

Sebastian Horsch schreibt bei „OVB online“ über solche Hoaxes:

Einmal in der Welt, werden diese Lügen in den Sozialen Netzwerken rasend schnell weiterverbreitet – sie wieder einzufangen ist quasi unmöglich. Auch der Urheber – ob er die Fälschung nun absichtlich oder unabsichtlich veröffentlicht hat – hat keine Kontrolle mehr darüber.

Nutzer, die solche Tweets ungeprüft weiterverbreiten, sollten sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Wer auf der einen Seite begrüßt, dass er selbst in der Lage ist, an den früheren Gatekeepern vorbei selbst Informationen verbreiten zu können, sollte auf der anderen Seite seine Verantwortung wahrnehmen, keine Lügen zu streuen. Daniel Fiene schreibt dazu bei „RP online“:

Der gereizten Kommentarkultur im Netz wäre sehr geholfen, wenn jeder beim Weiterverbreiten einer Information kurz in sich ginge und fragte: Was ist die Quelle? Ist das wirklich bestätigt? Was bringt es, wenn ich eine Spekulation poste? Diese Fragen müssen sich heute nicht mehr nur Journalisten stellen, sondern die gesamte Netzgemeinde.

Wie ich fordert er auch implizit, deutlicher zu machen, woher die Informationen stammen, wie zuverlässig sie sind und welche Informationen noch fehlen.

Meine Hoffnung liegt in einer Gegenbewegung: Immer mehr Leser orientieren sich am transparenten Umgang mit Informationen. Wenn offen zwischen dem unterschieden wird, was wir wissen und was wir nicht wissen. Übersicht statt Echtzeitrausch – dadurch wird so mancher näher dran sein, als er glaubt.

Journalisten kommt in dieser Zeit, in der Nutzer ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, eine noch wichtigere Rolle zu: Ihre Aufgabe ist es, Gerüchte zu prüfen, bestätigte Informationen zu veröffentlichen, unbestätigte gar nicht erst zu melden oder zumindest als solche zu kennzeichnen – und leider heutzutage auch, in die Welt gesetzte Gerüchte offensiv zu dementieren, wie es inzwischen mehrere Medien teils sogar regelmäßig machen, etwa der ORF oder die Neue Württembergische Zeitung.

Ich habe schon mal darauf hingewiesen, dass der entscheidende Unterschied zwischen Journalisten und Nutzern meines Erachtens heute nicht mehr im Zugang zu Quellen liegt, sondern darin, diese zu interpretieren. Offenbar kommt ihnen noch stärker, als ich gedacht habe, die Aufgabe zu, der Verbreitung von Nicht-Informationen entgegenzuwirken:

Für viele Bürger stehen diese zwei Arten von Quellen heute gleichberechtigt nebeneinander: Informationen und Nicht-Informationen. Wenn letztere in sich einigermaßen schlüssig sind, wenn sie eigene Meinungen stützen und ins Weltbild passen, sprechen Nutzer ihnen dieselbe Plausibilität zu wie den Quellen, die Journalisten als seriös erachten. Sie haben den Eindruck, sie könnten eine Situation genauso gut einschätzen wie ein Journalist, und zweifeln daran, wenn sie ihre Einschätzung nicht wiederfinden. Konsequenz: der Vorwurf „Lügenpresse“.

Dass in der Nacht der Pariser Anschläge die Berichterstattung etablierter Medien eingefordert wurde, halte ich grundsätzlich für ein gutes Zeichen. Ob Journalisten aber in der Lage sind, ihrer Arbeit nachzugehen und sich gleichzeitig darum zu kümmern, gleichzeitig herumschwirrende Nicht-Informationen zu dementieren, möchte ich bezweifeln.

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