Günther H. Oettinger liest die Zeitung bei Google

Wahlweise EU-Digitalkommissar Günther Oettinger himself oder sein Social-Media-Team liefern sich seit gestern auf Twitter eine interessante Auseinandersetzung mit Netzexperten wie Mario Sixtus.

Wenn das tatsächlich so stimmt und ernst gemeint ist, hat Stefan Niggemeier bei uebermedien.de die Sachkompetenz des Kommissars noch überschätzt, als er dessen Aufruf an die Verleger kritisierte, die eigenen Redaktionen mehr oder weniger an neutraler Berichterstattung über das Leistungsschutzrecht zu hindern.

Oettinger bekommt als EU-Kommissar sicherlich jeden Tag einen Pressespiegel vorgelegt. Auf totem Holz – und das selbst dann, wenn der Pressespiegel digital zusammengestellt worden sein dürfte, wovon auszugehen ist. Dass Oettinger tatsächlich nach Nachrichten googelt und dort nur Überschrift und Anreißer liest, wie die Twitter-Meldungen nahelegen, halte ich für unwahrscheinlich. Was also geht im EU-Digitalkommissariat vor sich?

Nachtrag, 1. Oktober: Markus Reuter schreibt bei netzpolitik.org, dass die Verteidigungsstrategie von Günther Oettinger auf unpassenden Zahlen beruht. Inzwischen haben außerdem Die Zeit und die NZZ Zahlen veröffentlicht, die Oettinger widerlegen sollen. Beide Redaktionen mögen es offenbar, dass Google ihnen Nutzer zuleitet.

Eine unverschämte Frage oder: Was ein Interviewer tun soll

Die CDU-Politikerin Vera Lengsfeld hat sich in ihrem Blog darüber beklagt, dass man „Verfehlungen einzelner Einwanderer nicht auf alle Migranten beziehen“ dürfe, das bei „den Sachsen“ aber tue.

Es geht so weit, dass der Moderator des Deutschlandfunks ein Interview mit der ehemaligen sächsischen Spitzenpolitikerin der Grünen mit der unverschämten Frage eröffnete: „Frau Hermenau, fühlen Sie sich noch wohl in Sachsen?“

Die Frage als unverschämt zu bezeichnen und dem Interviewer damit eine persönliche Positionierung zu unterstellen, greift allerdings zu kurz.

Wer die Frage in dem Interview mit Antje Hermenau von heute morgen im gesamten Zusammenhang betrachtet, den Lengsfeld ausspart, versteht Sinn und Zweck der Frage.

Dirk Müller: Bautzen, Heidenau, Freital, Meißen, Dresden – immer wieder Sachsen und immer wieder auch Dresden. Zwei Sprengstoffanschläge erschüttern einmal mehr die offizielle Weltoffenheit der barocken Stadt an der Elbe. Ein Anschlag galt einer Moschee, der zweite Sprengsatz ging vor dem Internationalen Kongresszentrum der Stadt hoch. Niemand wurde bei der Detonation verletzt. Die Polizei geht von einer ausländerfeindlichen Tat aus, das Ganze wenige Tage, bevor in Dresden der Tag der Deutschen Einheit gefeiert werden soll.

Die Sprengsätze in Dresden – Sachsen und die zunehmende Gewalt – das ist unser Thema jetzt mit der Unternehmerin und Politikberaterin Antje Hermenau, früher Spitzenpolitikerin der Grünen. Guten Morgen nach Dresden.

Antje Hermenau: Guten Morgen! Ich grüße Sie.

Müller: Frau Hermenau, fühlen Sie sich in Sachsen noch wohl?

Hermenau: Natürlich. Ich fühle mich in Sachsen wohl, das ist meine Heimat und es gibt sehr viele interessante Menschen. Natürlich fühle ich mich wohl. Aber ich habe gerade Ihre Anmoderation entnommen, in der Sie sagten, immer wieder Sachsen, dass offensichtlich 15 Bundesländer der Meinung sind, sie haben kein Problem und können zufrieden auf Sachsen blicken, das dieses Problem hat. Ich wäre da vorsichtig. Gerade aus Unternehmersicht glaube ich, dass wir in Gesamtdeutschland ein Problem haben, und das ist eine Melange aus den unaufgearbeiteten Fehlern der letzten Jahrzehnte bei mangelhafter Integration vor allem im Westen Deutschlands und jetzt einer aufschwappenden zornigen Entladung im Osten, weil nicht öffentlich diskutiert wird, was die Zuwanderung bringen soll.

Die Frage wirkt: Hermenau tritt der von Müller geäußerten Meinung entgegen, besonders in Sachsen würden besonders viele Menschen zu Gewalt neigen, indem sie das als gesamtdeutsches Problem bezeichnet. Sie bekommt Gelegenheit, ihre Überzeugung darzulegen. Wie jeder aus persönlichen Diskussionen weiß, ist es um so leichter, sich seine Meinung zu bilden, wenn man sich an denen anderer abarbeiten kann. Müller erfüllt also seine Aufgabe als Interviewer.

In journalistischen Seminaren empfehlen Trainer, möglichst genau die Position des Interviewpartners zu recherchieren. Bei öffentlichen Personen wie Politikern haben sich diese ohnehin schon mal in anderen Zusammenhängen über das Thema oder einem Aspekt dazu geäußert, so dass ihre grundsätzliche Haltung tendenziell ermittelbar ist. Ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, einem Unternehmen, einem Unternehmensverband, einer NGO usw. legt außerdem den Schluss nahe, dass sie ebenfalls deren bekannte politische Positionen vertreten. Dieser Position tritt der Interviewer dann mit einer möglichst kontroversen Gegenmeinung gegenüber – sei es, dass es sich um eine tatsächlich in der Öffentlichkeit geäußerte Position handelt oder lediglich als solche denkbar ist.

Wie wirksam dieses Entgegenhalten von Meinungen ist, lässt sich noch deutlicher als im Fall Hermenau exemplarisch im Interview von Tobias Armbrüster mit Uwe Junge, dem Vorsitzenden der rheinland-pfälzischen AfD, zeigen. Armbrüster gelingt es, Junge durch beharrliches Nachfragen immer wieder auf Ungereimtheiten und Widersprüche in Aussagen von AfD-Politikern zu stoßen, die am Ende dazu führen, dass Junge seine ursprüngliche stark vereinfachende Position aufgibt und eine differenziertere Haltung einnimmt.

Das ist in der Tat ein extremes Beispiel. Denn dass ein Politiker innerhalb eines Interviews so stark umschwenkt wie Junge ist ungewöhnlich – und nicht das Ziel des Interviewers. Seine Aufgabe ist es, die Position seines Interviewpartners verständlich zu machen. Wenn dieser durch kritische Nachfragen zum Schluss gelangt, dass er sie auch vor sich selbst nicht verteidigen kann, ist das ein Erkenntnisgewinn nicht nur für ihn selbst, sondern vor allem für die Hörer.

Das Interview ist für den Deutschen Radiopreis 2016 nominiert worden. Die Jury begründet das unter anderem so:

Dieses kontrovers geführte Interview zeigt, wie sich politische Thesen und Behauptungen durch beharrliches Nachfragen zerlegen und widerlegen lassen. Der Interview-Partner kann seine Behauptungen über den Islam in Deutschland nicht mit Fakten unterfüttern und wird daher zunehmend unsicher. Trotz einiger Versuche des Politikers lässt sich der Interviewer nicht vom eigentlichen Thema des Interviews abbringen und hält Kurs. Ein hörenswerter Schlagabtausch, hoch-politisch und  unterhaltsam zugleich.

Aus der Fragestellung eines Interviewers auf seine persönliche Meinung zu schließen, greift deshalb deutlich zu kurz. Eigentlich sollte das eine erfahrene Politikerin wie Vera Lengsfeld wissen.

Offenlegung: Ich arbeite als freier Mitarbeiter für den Deutschlandfunk.

Live ist live

In Radiokreisen wird immer wieder mal darüber diskutiert, wie wichtig es ist, dass das Programm auch tatsächlich so live ist, wie es verkauft wird. In den „Informationen am Morgen“ im Deutschlandfunk sind die Interviews bis auf wenige Ausnahmen tatsächlich live, wie sich neulich gezeigt hat.

Warum fast jeder Erdenbürger einmal mit Bus und Bahn durch Deutschland fuhr

Seilbahn in Köln
Auch ein Verkehrsmitteln mit Fahrgästen, wird aber nicht gezählt: Seilbahn in Köln. (Foto: Stefan Fries)

Es ist ein Wahnsinn. Im ersten Halbjahr war fast die ganze Welt in Deutschland – zumindest für eine kurze Weile. Nämlich, um eines der öffentlichen Verkehrsmittel in Deutschland zu nutzen.

Im ersten Halbjahr 2016 nutzten in Deutschland nach vorläufigen Ergebnissen über 5,7 Milliarden Fahrgäste den Linienverkehr mit Bussen und Bahnen.

Das schreibt das Statistische Bundesamt. Bei einer Weltbevölkerung von mehr als 7 Milliarden Menschen stellt das dem deutschen ÖPNV ein gutes Zeugnis aus, würde ich sagen. Sogar erstaunlich, dass das noch nicht zu eine Überlastung geführt hat. Einige Medien haben die Meldung des Statistischen Bundesamts ausgewertet und formulieren die Sachlage genauso. Erst im zweiten Satz ihrer Pressemitteilung wird das Amt präziser:

Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, bedeutet dies einen Zuwachs des Fahrgastaufkommens um 2,0 % gegenüber dem ersten Halbjahr 2015. Durchschnittlich legte damit im ersten Halbjahr 2016 jeder Einwohner 70 Fahrten zurück, bundesweit waren dies täglich fast 32 Millionen Fahrten.

Es handelt sich also nicht um 5,7 Milliarden Fahrgäste, sondern um 5,7 Milliarden Fahrten – das sind die erwähnten im Schnitt 70 Fahrten pro Bundesbürger. In dieser Dimension ergibt die Zahl wieder Sinn. Dankenswerterweise gibt das Amt noch einen Hinweis zur Methodik der Zählung:

Im Nahverkehr werden Fahrgäste, die während einer Fahrt zwischen den Verkehrsmitteln eines Unternehmens umsteigen, in die Gesamtzahl nur einmal einbezogen, in die nach Verkehrsmitteln untergliederten Angaben jedoch mehrmals. Als Fahrgäste werden Beförderungsfälle erhoben. Fahren im Berichtszeitraum Personen mehrfach, so werden sie auch mehrfach gezählt.

Diese Differenzierung fließt in der Regel nicht in die Berichterstattung mit ein. Wünschenswert wäre es allerdings, um die unvorstellbare Zahl besser einzuordnen.

Das Raunen als Argument

Die öffentliche Diskussion, wie sie in sozialen Netzwerken auftritt, leidet unter einem Paradox (sicher sogar unter mehreren, aber mir geht es um eines): die Unfähigkeit vieler, zu argumentieren. Wie leicht ist eine Meinungsäußerung, ein Medienbericht, eine Meinung kommentiert, die dann aber nicht argumentativ unterfüttert wird. Und auch auf Nachfrage gibt es keine weiteren Erläuterungen.

Ich nenne es das Raunen als Argument.

Beispielhaft zeigte es sich heute morgen. Da gab die Juristin und Publizistin Liane Bednarz dem Deutschlandfunk ein Interview, in dem sie ihre Position ausführlich darlegte. Man muss damit nicht einverstanden sein, aber man kann sich keiner Diskussion stellen, die ohne Argumente daherkommt. So schrieb der Publizist Hugo Müller-Vogg:

Das ist natürlich eine zulässige Meinungsäußerung. Sie sollte aber argumentativ gestützt werden können. Wenn man das Interview liest oder hört, sehe ich jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür, wie Müller-Vogg zu seiner Schlussfolgerung kommt. Bednarz ruft dazu auf, bewusst mit Sprache umzugehen, und sagt etwa auch:

Ich meine, man kann diese Gedanken ja nicht verbieten. Das soll man auch gar nicht. Aber diskutieren heißt auch, dass man es problematisiert, weil es ja nun tatsächlich auch problematisch ist, und Meinungsfreiheit wirkt in alle Richtungen. Das heißt, die Kritik an dieser Entwicklung ist natürlich auch von der Meinungsfreiheit und der Debatte gedeckt. Das vergessen häufig diejenigen, die diese Vokabeln benutzen und sich sofort, wenn sie kritisiert werden, zensiert fühlen zum Beispiel.

Wo da oder an anderen Stellen im Interview die Forderung nach einer Sprachpolizei – mit diesem Begriff verbinde ich Zensur, wie auch der Hashtag #1984 nahelegt – zu finden ist, erschließt sich mir nicht. Auf entsprechende Nachfragen nicht nur von mir hat Müller-Vogg bisher nicht reagiert. Er zeigte sich vielmehr gereizt davon, dass Bednarz selbst sein Geraune thematisierte.

So bleibt nur ein Raunen stehen. Es wurde etwas gesagt, das laut ihrem Urheber offenbar keinerlei Beleg verlangt. Es ist dies eine Methode, wie sie auch von Pegida-Anhängern oder AfD-Politikern verwendet wird: Man stellt eine Behauptung auf, die die Diskussion prägen wird, weist aber deren Plausibilität nicht nach.

Es ist eine Argumentation, die man in sozialen Netzwerken immer wieder findet, und bei deren Hinterfragung man Formulierungen erntet wie „Ist ja wohl klar, was ich meine“, „Wer das nicht sieht, ist blind“, „Das ist so offensichtlich, dazu muss ich nicht mehr sagen“. Tatsächlich entzieht man sich damit aber einer Auseinandersetzung, obwohl man diese selbst begonnen hat. Auf Kritik reagiert man dünnhäutig. Man pocht auf sein Recht, seine Meinung sagen zu dürfen, und erträgt es dann nicht, dass jemand anderes eben jenes Recht auch wahrnimmt, den anderen zu kritisieren.

Der politischen Auseinandersetzung ist nicht gedient, wenn sie nur durch Raunen geführt wird.

Nachtrag, 22.09., 13.40 Uhr: Mittlerweile hat Hugo Müller-Vogg geantwortet, allerdings nicht auf die von mir gestellte Frage.

Womit er meiner Argumentation einen weiteren Beleg geliefert hat. Danke dafür.

Nachtrag, 26.09., 12.45 Uhr: Das Raunen als Argument hat bei Müller-Vogg offenbar Methode. Mehrere Tweets, die sich auf die Seximusvorwürfe der Berliner CDU-Politikerin Jenna Behrends beziehen, erheben sehr diffuse Vorwürfe, ohne dass zu erkennen ist, was Müller-Vogg damit meint. Er zweifelt ihre Glaubwürdigkeit an, ohne ein Argument zu liefern, wieso er das tut.

Man würde gerne über die Sachlage diskutieren – aber Müller-Vogg zieht es vor, keine Argumente zu liefern. Das scheint seiner Sache mehr zu dienen. Für einen Journalisten keine Glanzleistung.

Wie sich Volker Herres von seinen Presseclub-Gästen distanziert

Wenn Volker Herres den Presseclub im Ersten moderiert, kündigt er seine Gesprächspartner mit durchaus merkwürdigen Worten an. Er sagt dann in der Regel:

„Ich freue mich auf meine Gäste und darf Ihnen meine Gesprächspartner vorstellen.“

Das klingt so, als seien das zwei verschiedene Gruppen. Kann das jemand erklären? Herres selbst antwortete einst in einem Tweet, er sehe darin kein Problem.

Die FAZ macht jetzt auf hip und kritisiert ohne Argumente

Die Startseite des BR-Videotext-Angebots
Die Startseite des BR-Videotext-Angebots, die es auch im Netz gibt. (Screenshot: http://www.br.de/static/pda/bayerntext.html?vtxpage=100&%23.x=0&%23.y=0#)

Es gibt am öffentlich-rechtlichen System wahrlich einiges zu kritisieren. Deswegen verwundert es manchmal, welche vergleichweisen Nichtigkeiten sich Zeitungsjournalisten heraussuchen, die sie dann an den Pranger stellen.

Von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, namentlich ihrem Medienredakteur Michael Hanfeld, der gelegentlich durchblicken lässt, dass er von Arbeitsabläufen in Fernseh- und Radioredaktionen wenig versteht, ist man derartiges gewohnt. Diesmal argumentiert aber auch Ursula Scheer durchaus eigenartig. Sie beschäftigt sich mit dem neuen Namen für den Videotext des Bayerischen Rundfunks.

Warum der jetzt nicht mehr Bayern-Text, sondern BR-Text heißt, könnte man in der Pressemitteilung nachlesen. Dort heißt es:

Der neue Name folgt der veränderten Markenführung im Bayerischen Rundfunk. (BR Fernsehen, BR Sport, BR24). Aufgaben und Zuschnitt der Redaktion „BR Text“ ändern sich aber nicht.

Ursula Scheer dagegen unterstellt andere Gründe für den Namenswechsel:

Will einem partout nichts Neues einfallen, weder inhaltlich noch medial, obwohl man doch gerne frisch und jung und jugendlich, innovativ und lebenslang lernbereit erscheinen möchte, hilft nur die verbale Flucht nach vorn. (…) Und so sucht man, bleibt die Rezeptur immer die nämliche, sein Heil eben im kühnen Namenswechsel.

Wirkliche Argumente dagegen kann sie nicht vorweisen. Und in gewisser Weise kann man den Beitrag auch als launige Glosse lesen, zumal es im kleinsten Teil des Textes tatsächlich um den BR-Text geht, sondern Ausflüge in anderen Lebensbereiche gemacht werden, in denen es um Namenswechsel geht. Und auch das Fazit ist relativ versöhnlich. Der süffisante Ton allerdings, der einem schon aus Überschrift und Teaser entgegenspringt und der dem Bayerischen Rundfunk etwas unterstellt, was dieser nie angestrebt hat, passt ganz gut in die Reihe früherer Beiträge, in denen Autoren der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Medienteil ihre Verachtung für das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen breittreten.

Ein Hoeneß muss nicht gewählt werden

Gut, gut, offenbar gibt es wenige Zweifel daran, dass Uli Hoeneß demnächst wieder Präsident des FC Bayern München sein wird. Allerdings haben sich manche Journalisten heute dermaßen überschlagen, dass ganz durcheinander ging, wie das eigentlich ablaufen soll. Kandidatur? Wahl? Offenbar nicht nötig.

So war sich die Sportschau etwa schon sehr sicher, dass Hoeneß zurückkehrt – laut Tweet und Überschrift des Artikels in jedem Fall. Sogar der ersten Satz im Text lautete „Honeß wird sich (…) wählen lassen.“ Das ist kühn. Auch MDR Aktuell formulierte das so, als sei Hoeneß soeben gewählt worden.

ZDF heute schrieb zwar zuerst richtig, dass Hoeneß kandidiere, rutschte dann aber später wieder teilweise in den Indikativ ab.

Während die Süddeutsche Zeitung sich zumindest sprachlich ein wenig distanzierte.

Vielleicht haben sich einige Journalisten auch zu sehr auf die Formulierung der Nachrichtenagentur SID verlassen. Der Sport-Informationsdienst etwa meldete die Kandidatur ebenfalls als praktisch unnötig.

SIDSehr schön hat die ganze Geschichte SPIEGEL online zusammengefasst.

Am Ende gilt aber in jedem Fall:

Arbeiten in der Chaosphase – zwei Redaktionen zeigen, wie das läuft

Der mutmaßliche Amoklauf von München hat zum ersten Mal in Deutschland eine Breaking-News-Situation der besonderen Art für hiesige Journalisten hergestellt. Anders als bei den Terroranschlägen von Paris, Brüssel und Nizza waren nicht nur einige wenige deutsche Korrespondenten vor Ort, sondern hunderte, die direkt von den Orten der Ereignisse berichten konnten – nicht nur vom Tatort, sondern auch von anderen Orten in München, die von der Polizei stundenweise für Tatorte gehalten wurden.

Eine Berichterstattung im Ausnahmezustand – oder in der „Chaosphase“, wie Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung schreibt. Der Begriff beschreibe die Anfangsphase, in der erst mal nichts klar sei, in der man keine Hintergründe kenne und auf alles gefasst sein müsse. Eine Woche nach dem mutmaßlichen Amoklauf blickt Ramelsberger auf die Berichterstattung ihrer Zeitung in jener Nacht von München und versucht transparent zu machen, wie die Arbeit von Journalisten in so einer Situation aussieht.

„In diesem Moment muss eine Redaktion entscheiden, was sie berichtet und was nicht. Während eine Zeitungsredaktion zumindest ein paar Stunden zum Nachrecherchieren der Hinweise hat, muss eine Online-Redaktion sofort entscheiden, was sie weitergibt. Innerhalb von Minuten muss dann entschieden werden, ob man den Hinweis auf eine Schießerei am Stachus auf die Homepage nimmt oder nicht. Die Entscheidung muss fallen zwischen der Warnung, dem möglichen Schutz von Menschenleben und dem weiteren Schüren von Hysterie.“

Ramelsberger greift auch die Skepsis von Nutzern auf, die glauben, alle Tatsachen müssten von Anfang an bekannt sein.

„Doch die belastbaren Tatsachen schälen sich erst allmählich aus dem Wust an Informationen heraus, die minütlich auf die Redaktion einprasseln. Vieles lässt sich erst nach mehreren Tagen wirklich klären – das ist keine böse Absicht, das heißt nicht, dass die SZ etwas verschweigen will, sondern: Sie weiß es einfach nicht. Genauso wenig wie die Ermittler.“

Auch der Nachrichtenchef des Deutschlandfunks, Marco Bertolaso, hat mit etwas Abstand aufgeschrieben, unter welchen Bedingungen seine Redaktion während des Amoklaufs arbeitet. Er findet, dass es heutzutage nicht mehr reicht, nur Fakten zu melden und bei Gerüchten abzuwarten, bis sie bestätigt oder widerlegt werden.

„Wir müssen uns auch aktiv daran beteiligen, Gerüchte und Unterstellungen einzufangen, bevor sie politisch-gesellschaftliche oder andere Folgen haben. (…) Wir müssen die Spekulationen offensiv angehen und klar stellen, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt.“

Als reine Redaktion für Radionachrichten hat man früher bis zur jeweils nächsten Sendung, also bis zu einer Stunde lang, abwarten können, wie sich eine unsichere Lage bis dahin darstellt. Heute kann man ständig online informieren – und tue das deshalb auch in unsicheren Informationslagen.

„Wie andere Berufe auch hat sich der Nachrichtenjournalismus rasant verändert. Wir müssen in Echtzeit reagieren und eine Vielzahl an Verbreitungswegen bedienen. Mehr denn je müssen wir schnell sein, mehr denn je müssen wir abwägen. Das ist eine beachtliche Herausforderung.“

Zwei gute Beispiele, wie Redaktionen offenlegen können, wie sie in solchen auch für Journalisten extremen Situationen arbeiten. Wir brauchen mehr davon, um Vertrauen in unsere Arbeit zu bewahren. Ich glaube, dass es irgendwann selbstverständlicher Teil unserer Arbeit sein wird, nicht nur Rechercheergebnisse zu liefern, sondern auch deren Zustandekommen transparent zu machen.

Offenlegung: Ich arbeite als freier Mitarbeiter für die Nachrichten- und Online-Redaktion des Deutschlandfunks.

Nachtrag, 5. August: Auch Tagesschau-Chefredakteur Kai Gniffke hat die Berichterstattung noch mal Revue passieren lassen.

Weniger Ruhm für die Täter – die ersten Medien machen ernst

Es deutet sich ein Umdenken an in der deutschen Medienlandschaft. Nach praktisch jedem Terroranschlag, nach jedem Amoklauf interessierten sich Journalisten fast immer stärker für den Täter als für die Opfer. Das ist verständlich, versucht man doch, seine Motivation herauszufinden, um sein Handeln verstehen zu können. Doch das ist letztlich kontraproduktiv.

Einige Redaktionen haben das verstanden und für ihre Produkte eine Grundsatzentscheidung getroffen.

„Die Zeit“ zum Beispiel hat sich entschieden, den Täter und seine Symbole wie etwa seine Waffen unkenntlich zu machen. Auch wenn ich es noch besser finden würde, sie gar nicht zu zeigen, das heißt auf Fotos besser ganz zu verzichten, ist das ein guter Schritt in die richtige Richtung. Tätern, die Aufmerksamkeit wollen, sollte man diese Öffentlichkeit verweigern. Im Falle von Terroranschlägen wie auch bei Amokläufen geht es nach allem, was wir wissen, ja genau darum. Deswegen hatte ich neulich schon mal dazu aufgerufen, auf Bilder und eine zu große Berichterstattung über die Taten zu verzichten.

Der Kriminologe und Strafrechtler Henning Müller von der Universität Regensburg beschäftigt sich mit Amok und Schulmassakern. Er sagte im Interview mit wdr.de:

„Die Tat ist (…) für Amokläufer und Attentäter die Chance, es bis auf alle Titelseiten zu schaffen und Berühmtheit und Aufmerksamkeit zu erlangen. (…) Diese mediale Aufmerksamkeit wiederum kann Anreiz für andere potenzielle Täter sein, die genau diesen Effekt auch für sich wiederholen oder sogar übertreffen (…) wollen.“

Müller fordert, dass alle seriösen Medien darauf verzichten sollten, Bilder zu zeigen, die den Täter identifizierbar machen. Auch das WDR-Magazin „Aktuelle Stunde“ will deswegen laut seinem Chef Stefan Brandenburg auf solche Bilder verzichten.

Verzichten wollen auch in Frankreich einige Medien, etwa die Tageszeitung „Le Monde“, erläutert die Süddeutsche Zeitung. Und sie will auch kein Propagandamaterial mehr verbreiten. Ähnlich die katholische Tageszeitung „La Croix“ und der Nachrichtenfernsehsender BMFTV. Eine tiefgründige Berichterstattung über das Profil und den Werdegang der Täter verhindere dies nicht, berichtet der Tagesspiegel unter Berufung auf den Sender. Ein wenig Aufmerksamkeit könnte ihm also trotzdem noch zuteil werden, wenn auch nicht mit großen Bildern.

Boulevardblätter wie die „Bild“ und (auch) das Nachrichtenmagazin „Focus“ sind da skrupelloser. Sie bieten dem Attentäter die Bühne, die er braucht – und versprechen das damit indirekt auch seinen Nachahmern. Mit der Veröffentlichung von Bildern sowohl des Selbstmordattentäters von Ansbach als auch des Amokläufers von München hat es die „Bild“ jedenfalls wieder gezeigt. Denn auch wenn man laut schreit, wie schlimm die Propaganda ist, so verbreitet man sie damit doch.

Die B.Z. Berlin hat die Idee nur halbherzig umgesetzt. Sie brachte das Foto des Amokläufers von München zwar nicht auf der Titelseite und rühmte sich stattdessen dafür. Im Innenteil konnte man es jedoch trotzem sehen. Für mich macht das keinen großen Unterschied. Die Erklärung von Chefredakteur Peter Huth bei Meedia:

Wir müssen das, was wir über den Täter wissen, in Wort und Bild, darstellen.

Das überzeugt mich nicht. Wieso muss man? Im Wort, okay. Aber warum im Bild? Selbst wenn der Amokläufer ein Mensch war und keine Bestie, wie Huth ausführt, so geben wir ihm damit am Ende jene Aufmerksamkeit, die er sich (wie andere nach ihm) gewünscht haben mag, die er aber offenbar nur auf diese Weise bekommen konnte. Damit ist der Weg für Nachahmer bereitet. (In der FAZ äußert sich Huth noch mal zu dem Fall.)

Dass das Interesse der Zuschauer für die Berichterstattung ausschlaggebend sein soll, wie mancher Journalist glaubt, enthebt uns Journalisten der Verantwortung. Würden wir ständig danach handeln, was für Zuschauerinteresse hielten (aber nicht wüssten), würden viele Themen nicht ihren Weg in die Medien finden – und viele andere umso mehr.

Allerdings sind Zuschauer auch Bürger dieses Landes, die gleichermaßen ein Interesse an Sicherheit haben. Es liegt also auch in ihrem Interesse, wenn Nachahmer abgeschreckt oder zumindest nicht ermutigt werden. Insofern hat der Kriminologe Müller ganz recht, wenn er sagt:

„Wenn der Täter keinen ‚Ruhm‘ mehr bekommt und kein ’negativer‘ Held wird, dann geben die Medien potenziellen Nachahmern kein zusätzliches Motiv an die Hand.“

Bisher haben nur seriöse Medien angekündigt, keine Bilder des Täters mehr zu zeigen. Wie es andere deutsche Zeitungen im Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger halten, wollte dieser auf Anfrage des Deutschlandfunks nicht kommentieren. Auf solcherlei seriöse Berichterstattung kann so ein Täter wahrscheinlich am ehesten verzichten, solange er im Boulevard und im Fernsehen mit großen Bildern und wenigen Buchstaben rechnen kann. Aber ein Anfang ist gemacht.

Nachtrag, 30. Juli: Kolja Reichert kritisiert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass Medien den Fotos gerade durch das Nichtzeigen einen gewissen Nimbus verleihen.

Nachtrag, 31. Juli: Wibke Becker beschäftigt sich ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit der Nennung des Namens von Attentätern:

Die „damnatio memoriae“ für Attentäter wäre keine Auslöschung der Tat oder der Zeugnisse. Sie wäre eine gemeinschaftliche Verweigerung, einem Täter durch die Namensnennung den Platz in der Geschichte zu schaffen, den er sich selbst durch ein Verbrechen ausgesucht hat.

Weiterführend: