Der Linke-Fraktionschef ruft im Interview mit unserer Redaktion die SPD zum Sturz von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf und findet nun auch an der Agenda 2010 „längst nicht alles schlecht“.
Schaut man in das Interview selbst, spricht Bartsch weder von einem Sturz, der nach Revolution klingt, noch kommt die Anregung zu einem konstruktiven Misstrauensvotum, wie es das Grundgesetz vorsieht, von ihm.
RP: Warum probieren Sie Rot-Rot-Grün nicht schon jetzt, wo Sie die Mehrheit hätten, statt zu warten, bis die nach den Wahlen vielleicht weg ist?
Bartsch: Die Frage stellen Sie bitte Sigmar Gabriel. Es war falsch, dass die SPD zu Beginn dieser Wahlperiode nicht einmal mit uns geredet hat. Die SPD könnte diese Mehrheiten aber jetzt noch nutzen, um die eine oder andere Entscheidung durchzusetzen. Wenn die SPD eine andere Politik will, kann sie mit der Linken immer reden.
RP: Sigmar Gabriel könnte also längst Kanzler sein, wenn er nur wollte?
Bartsch: Herr Gabriel könnte nächste Woche Kanzler sein, wenn er und die SPD wollten und sich vorher mit uns und den Grünen auf die Punkte verständigten, die wir gemeinsam noch vor der Wahl durchsetzen wollen.
Bartsch vertritt damit keine eine andere Position zu Rot-Rot-Grün als bisher. Zum „Sturz“ ruft er nicht auf. Die Rheinische Post spielt mit der Verwendung dieses Begriffs den „Merkel muss weg“-Rufern in die Hände – auch wenn die mit Gabriel als Kanzler sicher auch nicht zufrieden wären.
Pressekonferenzen gehören zum eingespielten Mittel der Wahl im deutschen Medienbetrieb. Dabei stellen sich Politiker und Behörden den Fragen von Journalisten. Üblicherweise beginnt so eine Pressekonferenz mit einem Statement.
In der gestrigen Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Bayreuth zu einer möglichen Beteiligung des NSU-Mitglieds Uwe Böhnhardt am Mordfall Peggy leitete der Sprecher dieses Statement mit einer bemerkenswerten Formulierung ein – nachzuhören hier bei SoundCloud.
Tatsächlich sagte der Staatsanwalt dieses Statement danach auf – und beantwortete dann keine Fragen. Das aber wortreich – ebenfalls hier bei SoundCloud.
Anmerkung (20.05.2018): Wegen der Datenschutzgrundverordnung habe ich Widgets, die sich ursprünglich im Text befanden, entfernt und entweder durch Screenshots oder Links ersetzt.
Der Tod des Schauspielers Manfred Krug ist ein gutes Beispiel dafür, wie schnell Informationen heute in der Welt sind, ohne dass sie bestätigt wären. Allein die BILD-Zeitung berichtete zunächst davon. Auf Nachfrage der Nachrichtenagentur EPD weiß selbst das Management von Manfred Krug erst mal nichts dazu zu sagen. Sie schreibt:
Krugs Management konnte die Meldung auf epd-Anfrage zunächst nicht bestätigen.
Trotzdem ist die Nachricht nicht aufzuhalten. In den deutschen Twitter-Trends steigt sie in kürzester Zeit auf Rang 2. Bei Google News finden sich schnell ein Dutzend Berichte, die sich alle auf die Bild-Zeitung berufen. Eigene Recherche? Fehlanzeige.
Es bleibt festzuhalten, wie schnell sich so eine Meldung inzwischen verbreitet, ohne dass es eine zweite Quelle gibt – eigentlich ein grundsätzliches Prinzip von Journalisten. Und die tragen zur Verbreitung in gleicher Weise bei wie Nutzer. Das zeigt, wie sehr das Zwei-Quellen-Prinzip mittlerweile geschliffen ist. Journalisten des einen Mediums berufen sich auf die des anderen – und für den Nutzer erscheint allein die Fülle der Meldungen wie eine Bestätigung, auch wenn sich alle auf dieselbe Quelle berufen.
Messen Medien bei Gewalttaten mit zweierlei Maß, abhängig davon, von wem diese verübt wurden?
Seit ein Reichsbürger in Georgensgmünd in Bayern auf vier Polizisten geschossen und sie zum Teil schwer verletzt hat (einer von ihnen ist inzwischen gestorben), wurde der Vorwurf in mehreren Tweets erhoben, zum Teil von Journalisten selbst.
Hätte ein Islamist vier Polizisten niedergeschossen, wäre es die Top-Nachricht auf allen Kanälen. Schießt ein #Reichsbürger, ist das anders.
Das ist nach meiner Wahrnehmung aber falsch. Tatsächlich war die Meldung die Top-Nachricht auf den größten Kanälen. Wer sich gestern ein wenig durch die Seiten geklickt hat, konnte das sehen. Wer bei Google News nach „Reichsbürger“ sucht, findet hunderte Ergebnisse.
Der entscheidende Unterschied in der journalistischen Einschätzung liegt vermutlich auch in der Frage begründet, ob es sich bei der Tat des Reichsbürgers um Terror gehandelt hat oder nicht.
@stfries@Paxter_Redwyne Reichsbürger-Tat war kein Terror. Daher anderer Aufmerksamkeits-Level.
Journalisten vertreten dazu unterschiedliche Auffassungen. heute-plus-Moderator Daniel Bröckerhoff etwa spricht nicht von Terror und begründet das inmehrerenTweets damit, dass Terror geplant und gezielt sei, um die Bevölkerung zu verunsichern, was hier augenscheinlich nicht vorliege.
Reichsbürger rechtfertigen die Tat als „Selbstverteidigung“. Terror wär z.B. gewesen, in eine Polizeistation zu gehen und dort Polizisten zu töten.
Den Aspekt der „Selbstverteidigung“ will NDR-Nachrichtenredakteur Michael Draeger dagegen nicht als Abgrenzung gelten lassen:
Mir fällt dabei als Begriff spontan „passiver Terror“ ein. Solange man sie in Ruhe lässt, gehen Reichsbürger dieser Kragenweite möglicherweise nicht gegen Menschen vor, die nicht ihrem fiktiven Staat angehören; wenn der deutsche Staat allerdings sein Recht einfordert, etwa wenn er Steuern eintreiben oder Waffen entziehen will, werden sie gewalttätig.
Dirk Wilking vom Brandenburgischen Institut für Gemeinwesenberatung würde die Reichsbürger nicht als Terroristen definieren. Er hat im Auftrag des Landes Brandenburg in Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz dort ein Handbuch für Behörden (hier als PDF) geschrieben hat über den Umgang mit den sogenannten Reichsbürgern. Er sagte im Interview mit dem Deutschlandfunk:
Es sind keine terroraffinen Leute, sondern sie benutzen das, was ihnen zur Verfügung steht.
Wilking hält die Reichsbürger zwar für verfassungsfeindlich, weil sie den Staat ablehnten, spricht aber nicht von terroristischen Organisationen, weil sie dafür zu zersplittert seien (kein Wunder, wäre ein Zusammenschluss doch in ihrer Logik eine Art Staatenbund).
Tatsächlich aber ist die Einschätzung, ob es sich hierbei um Terror handelt, nicht entscheidend dafür, ob und wie Journalisten mit dem Thema umgehen. Nachrichtenkriterien orientieren sich schließlich nur zum Teil auch an juristischen, polizeilichen oder sonstwelchen Definitionen wie in diesem Fall der des Terrors. Man kann auch darüber berichten und den Begriff trotzdem vermeiden.
@stfries@M_Draeger@Ruhrnalist Ich arbeite lieber mit klaren Definitionen. “Terror” ist ein Kampfbegriff, das möchte ich vermeiden.
Aus meiner Sicht rechtfertigen vor allem zwei Aspekte eine ausführlichere und überregionale Berichterstattung: die gewaltsame Auseinandersetzung mit vier verletzten Polizeien, die in dieser Form selten ist, sowie der damit verbundene Fokus auf eine offensichtlich bisher unterschätzte Gruppe von Tätern mit einer bestimmten Ideologie, deren Gewaltpotenzial in der Öffentlichkeit so bisher kaum bekannt war oder zumindest nicht zum Tragen kam. Auch wenn dem bereits die Festnahme des Reichsbürgers Adrian Ursache vorausging, der dabei ebenfalls SEK-Beamte verletzte.
Wie ausführlich die Berichterstattung dann tatsächlich ist, ist allein mit Zahlen nicht zu fassen. Denn wie man anhand des eingangs zitierten Tweets mit dem „völlig durchdrehen“ sieht, geht es auch um Bewertungen.
Tatsächlich kann man aber kritisieren, dass über die üblichen Nachrichtensendungen und Informationsformate hinaus keine Sondersendungen ins Programm gehoben wurden, zumal ARD und ZDF unter anderen Umständen nicht gerade hohe Hürden dafür aufbauen. Allerdings brachte diesmal etwa das heute-journal im ZDF zum Reichsbürger nur eine Nachricht im Kurzmeldungsblock und keinen Film. Und das Erste verzichtete auf einen Brennpunkt.
@stfries@M_Draeger es gab auch keinen Brennpunkt o. ä. den es bei vergleichbaren Vorfällen mit anderem Hintergrund vermutlich gegeben hätte
Viele der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ sind offenbar von Angst angetrieben – zumindest viele derjenigen, die den Organisatoren folgen. Das ließ sich in den letzten zwei Jahren Äußerungen von Demonstranten entnehmen. Blenden wir einmal aus, dass die Motivation der Organisatoren nicht unbedingt ebenso auf Angst basiert, so sind bestimmte Ängste zumindest bei denen, die ihnen folgen, vorhanden. Ebenso bei den Wählern der AfD.
Dass die Rhetorik von Populisten dieses Schlages in starkem Maße auf Angst setzt, haben Tobias Döll und Anna Orth vorige Woche bei Panorama gezeigt. Sie beziehen sich dabei nicht nur auf vorhandene Ängste, sondern verstärken sie bewusst. Und machen sich dabei einen psychologischen Mechanismus zunutzen, dem sich Menschen nur schwer entziehen können. Sie docken ihre Angstszenarien an verfügbaren Fakten an. Und bedienen damit die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik, die der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann in seinem Standardwerk „Schnelles Denken, langsames Denken“ beschrieben hat. Heuristik beschreibt dabei die Kunst, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit dennoch zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen (Wikipedia).
Menschen greifen unbewusst dann auf diese Heuristik zurück, wenn sie zum Beispiel eine bestimmte Wahrscheinlichkeit abschätzen sollen. In der Diskussion über Ängste wäre das zum Beispiel die Frage, wie wahrscheinlich es ist, bei einem Terroranschlag zum Opfer zu werden. Was Menschen bei so einer Bewertung tun, sei einfach, so Kahnemann (S. 164):
Beispiele der jeweiligen Kategorien werden aus dem Gedächtnis abgerufen, und wenn der Abruf leicht und flüssig ist, wird die Kategorie als groß beurteilt.
Das heißt, es wird nicht die eigentliche Frage beantwortet, die möglicherweise in statistischen Werten angegeben werden könnte oder bei einem Blick auf die Toten durch Terrorismus in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten.
Diese Grafik zeigt etwa, dass in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten nur sehr wenige Menschen bei Terroranschlägen getötet wurden. Aber auch wenn man nicht in die Zukunft schauen kann (so waren die Toten des 11. September 2001 in New York, Washington und Pennsylvania auch nicht vorhersehbar), so lässt sich doch die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden, als eher gering bezeichnen.
Woran denken jedoch Menschen, wenn sie nach ihrer persönlichen Angst in dieser Hinsicht gefragt werden? Sie greifen auf die Verfügbarkeitsheuristik zurück und ersetzen damit eine Frage, die etwa auf der Grundlage solcher statistischer Daten beantworten werden könnte. Kahnemann schreibt (S. 165):
Sie wollen die Größe einer Kategorie oder die Häufigkeit eines Ereignisses abschätzen, aber Sie berichten darüber, wie leicht Ihnen Beispielfälle eingefallen sind.
Das führt dazu, dass etwa in Umfragen zur Terrorwahrscheinlichkeit direkt nach entsprechenden Anschlägen die Wahrscheinlichkeit als höher eingeschätzt wird als vorher, etwa in dieser hier der R+V-Versicherung.
(Ob die Mehrheit der etwa 2.400 Befragten tatsächlich befürchtet, selbst Opfer eines Terroranschlags zu werden, lässt sich hieraus übrigens nicht ablesen. In der Umfrage sollten sie auf einer Skala von 1 bis 7 angeben, wie sehr sie Angst davor haben, dass „terroristische Vereinigungen Anschläge verüben“.)
Kahnemann schreibt, es sei möglich, aber anstrengend, dieser großen Zahl potenzieller Verfügbarkeitsfehler zu widerstehen – etwa mit einer Frage wie (S. 166):
„Ist unsere Einschätzung, dass Diebstähle durch Teenager ein großes Problem sind, nur darauf zurückzuführen, dass es in letzter Zeit in unserem Viertel einige Fälle gegeben hat?“
Es sei sehr anstrengend, vor solchen Verzerrungen auf der Hut zu sein, so Kahnemann, aber die Chance sei manchmal die Mühe wert. Es könnte der aufgeregten Diskussion sicherlich helfen, aber das scheint nicht die Absicht derjenigen zu sein, die diese Ängste für ihre Zwecke ausnutzen. Vereinfachte Darstellungen wie diese hier zeigen dies sehr deutlich:
Dass die Gefahr von Terroranschlägen tatsächlich erhöht sein mag, spielt bei dieser Betrachtung nur eine geringe Rolle. Denn in jedem Fall ist die Angst im Vergleich zur tatsächlichen Gefahr sehr viel stärker gewachsen.
Es sind vor allem die Willkür und die Zufälligkeit der Anschläge, die Angst und Furcht verbreiten.
Aber er hält auch fest, dass das Risiko äußerst gering sei, in Europa wegen eines Amoklaufs oder Terroranschlags zu sterben. Diesen Aspekt betonend, kann man der ungezügelten Angstlust von Populisten etwas entgegenhalten.
Wie die Abstimmung zum gestrigen Fernsehfilm „Terror“ im Ersten ausging, war schon vorher klar. Keine kluge Voraussage meinerseits, sondern eine rein statistische Abwägung, haben doch in den vorangegangenen Aufführungen der Theaterfassung im Gesamtschnitt 60 Prozent aller Zuschauer für einen Freispruch des Angeklagten gestimmt. Da die Ergebnisse separat gewertet werden, ist fast noch entscheidender, dass der Angeklagte in 93 Prozent aller Abstimmungen freigesprochen wurde.
Spätestens seit voriger Woche ist viel über den Film und seine juristischen und moralischen Implikationen gesprochen worden. Heute legt ZEIT-Kolumnist und Bundesrichter Thomas Fischer, der sich auch schon im Vorfeld dazu geäußert hat, nochmal nach und schreibt unter anderem:
Ich meine (…), dass Autor, Verlag und Medien ein übles Spiel zu Lasten der Bürger spielen.
Mehr dazu beim Link. Und noch der Verweis auf eine gute Zusammenfassung von Reaktionen heute im Altpapier auf evangelisch.de. Dort schreibt Juliane Wiedemann:
Knapp 87 Prozent der Zuschauer urteilten danach entgegen der derzeitigen Rechtslage, wobei nicht abzusehen ist, ob dieses eindeutige Ergebnis nicht auch durch die technischen Probleme oder die Tatsache zu erklären ist, dass Florian David Fitz seine Uniform so gut stand.
Gestern hat in dem Fernsehfilm, den Lars Kraume sensationell gut inszeniert hat, hat er die Rolle dieses Majors mit Florian David Fitz besetzt, dem alle Herzen zufliegen. Der Verteidiger war Lars Eidinger. Wenn jetzt Eidinger den Soldaten gespielt hätte, wäre ganz sicher die Abstimmung nicht mit 89 aufgelaufen, sondern eher vielleicht mit 65. Das heißt, die Entscheidung ist weniger eine Entscheidung der moralischen oder rechtlichen Bewertung, sondern es ist eine Entscheidung in einer Inszenierung, die auch groß als Staatstheater daherkam – im Hintergrund immer den Reichstag, der so langsam sich verdunkelt und verdämmert – und in einer Argumentation, die vielleicht hochkomplex war und vielleicht an manchen Stellen überkomplex war.
Das Theaterstück „Terror“ des Autors und Strafverteidigers Ferdinand von Schirach stellt eine heikle Frage: Darf der Staat ein Passagierflugzeug mit hunderten Menschen an Bord abschießen, wenn Terroristen drohen, es in ein vollbesetztes Stadion zu steuern?
Eine Frage, die das Bundesverfassungsgericht bereits beantwortet hat: Er darf es nicht – jedenfalls nicht in der Form des Luftsicherheitsgesetzes, das die rot-grüne Bundesregierung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf den Weg brachte. Der Tenor: Indem die an der Tat unbeteiligten Passagiere des Flugzeugs getötet werden, verstoße der Staat gegen die Menschenwürde, die im Grundgesetz garantiert wird.
Allein in Deutschland wurde und wird das Stück bisher an 39 Theatern gespielt. Es ist ein Gerichtsdrama, das den eingangs geschilderten Fall fiktiv durchspielt. Angeklagt ist ein Bundeswehrpilot, der ein entführtes Flugzeug abgeschossen hat, um zu verhindern, dass es in ein Stadion gelenkt wird. Am Ende stimmen die Zuschauer ab, ob der Pilot freigesprochen oder verurteilt wird.
39 Premieren innerhalb eines Jahres – selten war ein Stück erfolgreicher. Kein Wunder, dass der Produzent Oliver Berben daraus auch einen Film machen wollte, der am kommenden Montag gezeigt wird. Auch hier sollen die Zuschauer abstimmen
Anders als bei den Theaterinszenierungen gibt es dagegen jedoch Protest. Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum und der ehemalige Vizepräsident des Bundestags, Burkhard Hirsch, sprachen sich unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dagegen aus, die Zuschauer abstimmen zu lassen. Hirsch sagte dort über von Schirach:
Er verfälscht die Wirklichkeit und macht die Zuschauer zu Richtern in einer Sache, die sie für die Wirklichkeit halten, ohne die eigentliche Konfliktlage erkennen zu können.
Beide kritisieren, dass von Schirach das Stück so dramatisiere, dass den Zuschauern für ihre Entscheidung keine andere Wahl bleibe als die, den Piloten freizusprechen – auch wenn der Autor selbst den Piloten als schuldig bezeichnet hatte. Baum sagt:
Hier wird doch in Wahrheit über das Grundgesetz abgestimmt. Und die Richter sitzen im Wohnzimmer. Und welche Konsequenz soll eine solche Abstimmung haben? Wird dann noch der regionale Vergleich gezogen, wie die Zuschauer in den einzelnen Ländern abstimmen? Was soll daraus hervorgehen? Ich rate Herrn Herres, dem Programmdirektor der ARD: Lassen Sie das!
Damit entmündigen Sie den Zuschauer. Ich halte unsere Bevölkerung nicht für so beschränkt. Und den Film zu zeigen, ohne abzustimmen – was ist das denn für eine Idee? Der demokratische Hebel, der da drinsitzt, wird dann rausgenommen. Und was soll denn das dann sein am Ende? Sollen wir dann einfach aufhören?
Wenn Berben sagt, dass er die Bevölkerung nicht für so beschränkt halte, übersieht er, dass es durchaus schon Zahlen gibt. Der Verlag Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH hat die Ergebnisse der Abstimmungen nach allen Theateraufführungen weltweit gesammelt. Demnach gab es in bisher 438 Vorstellungen in Deutschland 411 Freisprüche. In den Worten von Baum und Hirsch also 411 verfassungswidrige Entscheidungen. Insgesamt 85.011 Zuschauer stimmten für einen Freispruch, 57.192 für eine Verurteilung des Piloten. Es ist also einigermaßen vorauszusehen, wie die Fernsehzuschauer abstimmen könnten.
Wer sich die Abstimmungsergebnisse im Gesamtverlauf seit der Uraufführung ansieht, könnte daraus sogar noch weitergehene Schlüsse ziehen. In der Grafik von Kiepenheuer wurde die Gesamtheit an prozentualen Stimmanteilen für einen Freispruch vermerkt. Die Terroranschläge von Paris im November 2015 sind mit einem P markiert, die von Brüssel mit einem B.
(Erfasst sind die Abstimmungsergebnisse von 33 Theatern in 6 Ländern im Zeitraum 03.10.2015 bis 10.10.2016.)
Hagen Rether ist der Mann mit Pferdeschwanz am Klavier. Er tourt seit Jahren mit seinem Programm „Liebe“ durchs Land – ein Programm, das sich ständig ändert, aber den Namen behält. Und alle ein bis zwei Jahre erscheint ein Zwischenstand auf CD. In diesen Tagen: „Liebe 6“ von und mit Hagen Rether.
Hagen Rether versteht nichts. Oder wenig. Das macht er als Kunstgriff zur Grundlage seiner Programme. Sein Satz „Ich versteh das nicht“ kommt immer wieder vor. Dabei versteht er ziemlich viel und legt schon mit seinen Fragen mehr offen als manch anderer mit Antworten.
Rether deckt mit Vorliebe Widersprüche auf, die zwischen verschiedenen Politikbereichen und Teilen der Gesellschaft bestehen, die selten aber so thematisiert werden. Und er betrachtet die Sache damit zugleich aus einer neuen Perspektive. So sind die vielen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, für Rether wie eine Art Konjunkturprogramm.
So setzt Rether einiges ins richtige Verhältnis. Etwa Milliardenausgaben des Staates. So hätten wir über Nacht 480 Milliarden Euro für die Bankenrettung locker gemacht, weil die Banken too big to fail waren. Dabei sei ja eher der Umgang mit den Flüchtlingen too big to fail.
Rether verzichtet meist auf vordergründige Pointen, er arbeitet sich nicht an der Bundeskanzlerin ab oder der SPD, obwohl es so einfach wäre. Er schaut hinter die Fassade der Politik, geht über die Tagespolitik hinaus. Und arbeitet damit im besten Sinne aufklärerisch, wie es der Anspruch eines Kabarettisten sein sollte. Rether geht dabei auch ins Alltägliche.
Einfach mal nach Kathmandu, um es gemacht zu haben. Auch Konsumverhalten stellt Rether in Frage. Dabei bedeutet sein Kunstgriff, Unverständnis zu äußern und einfach nur Fragen zu stellen, durchaus nicht, dass er keine Positionen vertritt. Schon in der Auswahl seiner Fragen spiegelt sich sein Zweifeln an den Zuständen. Und manchmal hilft es, sich diese Zustände einfach mal andersherum vorzustellen, die Sachen auf den Kopf zu stellen.
Früher hat Rether einige seiner Nummern noch auf dem Klavier begleitet und ihnen damit eine weitere Farbe gegeben. Etwa wenn er bekannte Melodien gespielt hat, die in einem gewissen inneren Widerspruch zum erzählten Text standen. Zumindest in der CD-Fassung spielt er aber nur noch am Schluss ein kurzes Stück. Und behauptet nach fast zwei Stunden auch mal, jetzt aber endlich mit dem Programm anfangen zu wollen. Genauso beiläufig wie diese Vorbemerkungen, die das eigentliche Programm sind, kommt auch Hagen Rether als Person rüber. Und bietet gerade dadurch eine starke Präsenz.
Wer sich Jan Böhmermanns sogenanntes Schmähgedicht gegen den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in seinem gesamten Kontext angesehen hat, dürfte bemerkt haben, dass es Böhmermann nicht wirklich darum ging, Erdogan zu beleidigen. Jedenfalls nicht so, wie er es offensichtlich durch das Gedicht getan hat.
Die Satire ist mehr als das Gedicht. Das Gedicht lässt sich nicht so einfach aus ihr herauslösen und separat behandeln, es ist Teil eines größeren Kunstwerks. Böhmermann und sein Sidekick Ralf Kabelka weisen in einem Dialog ausdrücklich darauf hin, dass es ihnen darum geht, die Grenzen von Satire auszuloten.
Böhmermann: „Also, das Gedicht. Das, was jetzt kommt, das darf man nicht machen?“
Kabelka: „Darf man NICHT machen.“
Das Landgericht Hamburg hat in einer bemerkenswerten Entscheidung Teile des Gedichts verboten, andere jedoch erlaubt, und schreibt dazu:
Diese Grenze sei nach Auffassung der Kammer durch bestimmte Passagen des Gedichts überschritten worden, die schmähend und ehrverletzend seien. Zwar gelte für die Einkleidung eines satirischen Beitrages ein großzügiger Maßstab, dieser berechtige aber nicht zur völligen Missachtung der Rechte des Antragstellers.
Auch das Gericht beschränkte sich in seiner Entscheidung offensichtlich auf das Gedicht. Absurderweise verbot es bestimmte Passagen daraus nicht, was sich in einem lustigen Anhang nachlesen lässt.
Als zweites befasste sich jetzt die Staatsanwaltschaft Mainz mit dem Fall. Sie hat die strafrechtlichen Ermittlungen im Hinblick auf Paragraph 170 Abs. 2 Strafprozessordnung geführt – und sieht den Fall völlig anders. Vor allem sieht sie den gesamten Kontext und nicht nur das Gedicht. Davon zeugt ihr bemerkenswert klares Statement.
Entstehungsgeschichte, aktuelle zeitgeschichtliche Einbindung und die konkrete über das bloße Vortragen des so genannten „Schmähgedichts“ hinausgehende Gestaltung des Beitrages ziehen in Anwendung dieser verfassungsrechtlichen Prinzipien die Verwirklichung des objektiven Straftatbestandes in Zweifel.
Sehr deutlich ordnet die Staatsanwaltschaft das Schmähgedicht auch als Kunst ein, weil es eben den wesentlichen Stilelementen der Kunstgattung Satire genügt: Übertreibung, Verzerrung und Verfremdung.
Zum einen kann Erdogan gegen die Entscheidung noch Beschwerde einlegen. Zum anderen läuft noch seine Privatklage gegen Böhmermann, die am 2. November in Hamburg verhandelt werden soll. Ganz aus dem Schneider ist dieser also noch nicht. Immerhin sollte in Hamburg die Chance bestehen, dass das Gericht sich nicht auf das Gedicht beschränkt, sondern sich den ganzen Kontext anschaut. Denn mit dem Zweiten sieht man besser.
Auch wenn die Satire im Moment noch nicht vollständig beim ZDF abrufbar ist – der Deutschlandfunk hat das Gedicht in voller Länge dokumentiert.
Der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Volker Kauder, beklagt sich im Interview mit dem „Spiegel“ über eine zunehmende Verrohung der Sprache. Er sagte unter anderem:
Wir erleben ein erschreckendes Maß von Anfeindungen gegen unsere Demokratie. Mal sind Politiker die Zielscheibe, mal die Medien, aber eben auch zunehmend unser Staat insgesamt. Die Wortwahl wird immer radikaler und schlägt auch in Gewalt um. Das bereitet mir große Sorgen.
Und weiter:
Wir sind noch längst nicht so weit wie in der Weimarer Republik. Aber auch damals haben sich Worte und Taten immer mehr hochgeschaukelt.
Dabei müsste Kauder bei sich selbst anfangen. Der Schriftsteller Roger Willemsen stellt ihm kein gutes Zeugnis aus. Er hat im Jahr 2013 an allen Sitzungen des Bundestags teilgenommen und den Parlamentsbetrieb beobachtet. In einem Interview im Deutschlandradio Kultur erzählte er:
Der schlimmste Flegel ist Volker Kauder, der Dinge reinruft, die nicht mal einen Ordnungsruf bekommen. Und das ist zum Teil schlimm. Der sagt dann: „Führen Sie doch die Blockwarte wieder ein.“ Also, das ist ein übler Assoziationsraum, der auch zum Teil der Ausputzer oder die Blutgrätsche für Merkel macht. Das heißt, der sagt dann auch, „ja, Friedensnobelpreis für Edward Snowden“ und macht sich über einen Mann lustig, den wir alle viel verdanken, weil diese Aufklärung wir niemals ohne ihn bekommen hätten und der sein Leben mehr oder weniger zu einem Teil der Zivilcourage geopfert hat.
Willemsen kritisierte damals nicht nur Kauder als schlimmsten Zwischenrufer des Bundestags, sondern auch die anderen Abgeordneten und vor allem das Präsidium, das nicht gegen solche Ausfälle vorgehe.
Es ist schlimm, dass der Bundestag an bestimmten Stellen, die Inhumanität bestimmter Standpunkte nicht rigider kenntlich macht. Ich finde nicht, dass jemand einen Parlamentarier als einen Blockwart-Rufenden bezeichnen darf, nur weil der sagt, „ich will eine Kontrolle des Abhörens“, und der dann höhnisch reinruft: „Sie sind doch nur böse, weil Gysis Handy nicht abgehört worden ist“ oder so etwas. Also, das ist einfach eine Verachtung gegenüber unseren Bürgerrechten und ich finde das nicht tolerierbar.