Dürfen Journalisten eine Meinung haben? Oder wenigstens eine Haltung?

Mehr oder weniger sichtbar: Pauline Tillmann, Franziska Augstein, Joachim Knuth, Kuno Haberbusch, Anja Reschke, Sarah Tacke (verdeckt), David Schraven (v.l.) (Foto: Stefan Fries)
Mehr oder weniger sichtbar: Pauline Tillmann, Franziska Augstein, Joachim Knuth, Kuno Haberbusch, Anja Reschke, Sarah Tacke (verdeckt), David Schraven (v.l.) (Foto: Stefan Fries)

Als Journalist begegnet man immer wieder Lesern, Hörern, Zuschauern und Nutzern, die glauben, es sei möglich, objektiv und neutral zu berichten. Eine Einschätzung, die Journalisten ihnen vermutlich im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte selbst vermittelt haben. Dabei prägen eigene Erfahrungen die Berichterstattung zwangsläufig, das eigene Interesse am Thema lenkt die Aufmerksamkeit, das Vorwissen befähigt zu unterschiedlicher Beschäftigung mit dem Thema.

Objektiv und neutral wird man also nie berichten können – schon deswegen nicht, weil gerade die Auswahl dessen, worüber man berichtet, und die Gewichtung der Aspekte innerhalb des Themas, die man auswählt, nicht mehr dem Anspruch der Objektivität genügen können. Denn beides ist essenzieller Part der Aufgabe von Journalisten: Sie wählen aus und gewichten. Diese Position müssen wir immer wieder deutlich machen, um dem Vorwurf zu entgehen, durch mangelnde Objektivität hinter unseren eigenen Ansprüchen zurückzubleiben.

Es liegt auf der Hand, dass eine Journalistin, deren Familie von der Erfahrung einer Flucht geprägt ist, mit einem anderen Verständnis und anderem Vorwissen über die nach Deutschland kommenden Flüchtlinge berichtet. Es ist klar, dass jemand, der sich für Aktien interessiert, anders über das Geschehen an der Börse berichtet. Es ist offensichtlich, dass ein Fußballfan andere Fragen an ein Spiel stellt als jemand, der nicht an Sport interessiert ist. Es sollte eine Fähigkeit von Journalisten sein, sich dieser Prägungen und Erfahrungen bewusst zu sein.

Was ist Haltung?

In diesen Zeiten diskutieren Journalisten viel darüber, auf welcher Position sie stehen, wenn sie über Themen berichten. Auf der Jahreskonferenz des Netzwerks Recherche in Hamburg gab es kontroverse Meinungen dazu, ob ein Journalist eine Haltung haben sollte und welche. Pauline Tillmann, seit 2015 Chefredakteurin und Geschäftsführerin des digitalen Magazins „Deine Korrespondentin“, definierte den Begriff Haltung für sie so:

Haltung ist Meinung auch bei viel Gegenwind.

Eine Definition, der sich auch Anja Reschke, Leiterin der Abteilung Innenpolitik beim NDR-Fernsehen, anschloss. Und sie ergänzte: Haltung sei auch die Verteidigung von Fakten bei Gegenwind. Es gebe aber auch eine Grundhaltung, wie wir als Journalisten unsere Grundaufgabe in diesem Land und in der Demokratie sehen würden. Das seine eine andere Form von Haltung.

Franziska Augstein von der Süddeutschen Zeitung erweiterte die Definition um ein Wort des Schriftstellers Martin Walser:

Eine Meinung könne man sich anziehen wie ein Kleid, eine Haltung habe man.

Das heißt, alle Meinungen zu verschiedenen Themen basieren auf einer inneren eher weniger veränderbaren Haltung. Augstein wandte sich dagegen, dass sie als Journalistin eine Position der völligen Neutralität einzunehmen habe. Journalisten müssten sich geradezu mit Sachen gemein machen, etwa mit dem Grundgesetz, mit Antirassismus, mit der Idee, dass ein menschenwürdiges Leben auch für Leute mit weniger Geld möglich sein sollte.

Einer Position, der ich mich grundsätzlich anschließe. Als AfD-Chefin Frauke Petry vor einigen Monaten von Journalisten eine Art von Neutralität verlangte, die auch Rassismus als eine akzeptable Haltung darstellen sollte, habe ich ihr widersprochen. Journalismus schwebt, anders als von ihr suggeriert, nicht im luftleeren Raum. Journalismus ist auch eine Errungenschaft von Demokratie, und er wird von ihr garantiert. Es liegt im ureigensten Interesse von Journalisten, sich für die Werte eben jener Gesellschaftsform einzusetzen, die ihre eigene Arbeit garantiert. Und die nach allen Erfahrungen auch für Menschen die beste Gesellschaftsform ist. Das schließt nicht aus, Fehlentwicklungen zu kritisieren.

Anja Reschke zeigte sich unentschlossen, ob sie sich Augsteins Meinung anschließen würde. „Verteidige ich die demokratische Grundordnung oder sage ich, ein großer Teil der Bevölkerung nimmt die nicht mehr an?“ Müsste ich das nicht also eigentlich hinterfragen? Reschke räumte ein, dass sie nicht wisse, wo sie sich positionieren wolle.

Auf welcher Seite stehen Journalisten?

David Schraven vom Recherchenetzwerk Correctiv fand in Hamburg eine Positionierung dagegen wichtig. Man müsse entscheiden, auf welcher Seite man stehe: auf der Seite der Macht gegen die Bevölkerung oder auf der Seite der Bevölkerung gegen die Macht. Eine Positionierung, die NDR-Hörfunkdirektor Joachim Knuth für sich nicht gelten lassen wolle:

„Ich stehe am liebsten zwischen den Stühlen, weil ich finde, da gehören Journalisten hin.“

Der Widerstandsimpuls sei ein Wesensmerkmal von Journalismus, den stelle man doch nicht mit einer Haltung, die ich in Grundsatzfragen habe, in Frage. Anja Reschke findet, die Formulierung „zwischen den Stühlen“ klinge zunächst gut, allerdings fragt sie sich angesichts von Zweifeln an der demokratischen Grundordnung bei Teilen der Bevölkerung:

„Jetzt könnte man auch sagen: Guck mal, ein Teil oder ein großer Teil der Bevölkerung nimmt das nicht mehr an, müsste ich mich nicht auf die Seite derer schlagen, die das hinterfragen? Da weiß ich nicht mehr, wie ich zwischen den Stühlen stehen soll.“

Zurück in die Vertrauenskette

David Schraven beklagt, dass Journalisten auf den klassischen Vertrauenswegen immer weniger Chancen hätten und immer seltener nicht mehr „Teil der Vertrauenskette“ seien – hier seine Ausführungen im Video:

Er bezieht sich auf den Strom von Neuigkeiten, den heute viele Nutzer nur noch über ihre Timelines etwa bei Facebook bekommen. Von dort beziehen sie ihre Informationen – oft, ohne auf die Quelle zu schauen und damit einschätzen zu können, wie verlässlich diese sind. Entscheidend ist eher, wer die Information verbreitet hat, wer sie geteilt und kommentiert hat. Vertraue ich demjenigen, vertraue ich auch der Quelle – ohne selbst noch mal Quellenkritik üben zu müssen.

So begegnet man als Journalist immer öfter dem Argument, diese oder jene Information „auf Facebook“ gelesen zu haben, ohne auf die eigentliche Quelle zu schauen. Dass viele Nutzer unfähig zur Quellenkritik sind und ein soziales Medium nicht von einem redaktionellen Medium unterscheiden können – also mitunter Facebook nicht von der FAZ – ist ein Grund dafür, dass viele Journalisten eine Vertrauenskrise beklagen, die auch in Umfragen belegt sei. Dabei vertrauen viele „den Medien“ insgesamt nicht mehr so stark; fragt man sie aber konkret nach Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern, sind die Zustimmungswerte deutlich höher. Die mangelnde Fähigkeit, diese Mediengattungen zu unterscheiden, mag eine Ursache für den Glauben an die Existenz einer solchen Vertrauenskrise sein. Dieser generelle Eindruck wird dann durch entsprechende Nutzerkommentare scheinbar bestätigt.

Zurück zu Schravens Vertrauenskette: Seit Facebook angekündigt hat, dass sein Algorithmus in den Timelines der Nutzer eher deren Freunde berücksichtigt als redaktionelle Angebote, droht den traditionellen Medien auch dort ein Präsenz- und vielleicht auch (weiterer) Vertrauensverlust.

Schraven fordert deshalb, dass Journalisten sich überlegen müssen, wie sie in diese Vertrauensketten wieder hineinkommen, um dann dort zu erklären, dass die eigene Berichterstattung im Gegensatz zu beliebigen Postings auf Standards beruht, dass verschiedene Seiten angehört worden seien, Informationen abgewogen wurden. An diesem Punkt hätten Journalisten nachgelassen.

Wie funktioniert Journalismus?

Auch Pauline Tillmanns forderte, dass Journalisten ihre Arbeit transparenter machen müssten. Meistens seien es sogar Ältere, denen nicht klar sei, wie wir arbeiten würden. Auch Anja Reschke wusste das von zahlreichen Diskussionsrunden und Podien aus dem letzten Jahr zu berichten:

„Ich stelle immer wieder fest, wie groß das Unwissen ist über sowohl unseren Job als auch übrigens über politische Prozesse. Also welche Vorstellungen Menschen von Neutralität von Journalismus haben, von Objektivität, oder überhaupt, wie eine Meldung zustandekommt, wie wir auf unsere Themen kommen. Also totale Basissachen, wo ich mir denke, das würde ich ja nie senden, weil das interessiert doch keine Katze.“

Die Zuhörer würden diese Informationen aufsaugen, sagte Reschke.

„All das ist ein Wissen, was wir hier vielleicht schick in unserem Kreis haben, aber da draußen ist das nicht vorhanden, und ich glaube, im Prinzip muss man wieder von vorne anfangen mit Erklärungen.“

David Schraven findet, dass man durchaus auch Erklärungen finden könne, die auch überzeugend seien. Er verwies auf die viel kritisierte Berichterstattung über die sexuelle Übergriffe und Diebstähle in der Kölner Silvesternacht. Wie er die Abfolge der Ereignisse und der Berichterstattung erklärt, lohnt sich zum Schluss kurz anzuhören:

Wir sollten uns auf den Weg machen, stärker die eigene Arbeit zu erklären. Anstatt sie uns von anderen erklären zu lassen.

Keine gute Figur – über die taz zur Putsch-Nacht

20160718_191714Jürn Kruse (@taz_kruse) kritisiert in der taz die Berichterstattung von ARD und ZDF in der Nacht des Putschversuchs in der Türkei. Er mag dabei nicht Unrecht haben; ich habe die Berichterstattung nicht verfolgt. Und für ihn bin ich jetzt wahrscheinlich auch nur so einer wie die Moderatoren, die er erwähnt, die in den sozialen Netzwerken „die eigenen Sender loben und immer wieder das gleiche Argument abfeuern: Wir recherchieren erst, bevor wir senden!“ Diese Kritik irritiert mich doch ein wenig. Wie arbeitet Kruse denn als Journalist?

Er nennt das Argument „in vierfacher Hinsicht ärgerlich und frech“. Weil es impliziere, dass alle anderen nur ungeprüften Schwachsinn hinausposaunen würde. Wenn er das so sieht…

„Zweitens macht nicht erst die offizielle ARD-ZDF-Verifikation eine Nachricht zu einer Nachricht.“

Aber bitte: Was denn sonst? Berichtet die taz etwa über Dinge, die sie nicht selbst verifiziert hat? Und unter Verifikation verstehe ich auch die Prüfung von Meldungen verschiedener Agenturen, auf die ich mich dann beziehe. Sicherlich macht das auch die taz, und nicht anders arbeiten nach meiner eigenen Erfahrung ARD und ZDF. Es ist eben nicht so, dass sie immer auf die Bestätigung eines eigenen Reporters warten.

„Warum lasst ihr die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht teilhaben an diesem Prozess des Sortierens und Einordnens?“

fragt Kruse weiter – und landet damit einen Punkt. Das, finde ich, ließe sich durchaus machen. Obwohl ich dabei unterscheiden würde, über welches Sujet eigentlich berichtet wird. Geht es um einen Terroranschlag, habe ich meine Bedenken über die atemlose Vor-Ort-Berichterstattung schon gestern hier deutlich gemacht.

Ja, vielleicht haben ARD und ZDF Fehler gemacht in dieser Nacht. Aber nicht alle Argumente dagegen ziehen, bloß weil man sich selbst ärgert. Nein, lieber Jürn Kuse, das haben Sie nicht ganz so gut gemacht.

Terroranschläge in den Medien: Brauchen wir diese Bilder?

(Screenshot: Twitter)
(Screenshot: Twitter)

Nach jedem neuen Terroranschlag in Europa flammt eine Diskussion darüber auf, ob zu spät oder zu wenig berichtet wurde. Mich ermüdet das. Weniger deswegen, weil viele Kritiker glauben, es besser zu wissen und besser machen zu können, auch wenn sie keine Journalisten sind. Mehr deswegen, weil sie damit indirekt fordern, dass wir Journalisten das Geschäft des Terrors erledigen – nämlich, Schrecken zu verbreiten.

Würde es Terroristen im Kern nur darum gehen, möglichst viele Menschen zu töten, wären sie in Europa noch nicht weit gekommen. Rechnet man die Opferzahlen der größten Anschläge von Madrid, London, Brüssel, Paris, Kopenhagen, Istanbul und Nizza zwischen 2004 und 2016 zusammen, kommt man auf etwa 550. Angesichts von mehreren hundert Millionen Europäern eine verschwindend geringe Summe.

Bedenkt man aber die Auswirkungen dieser Anschläge auf unser Leben, die sich schon allein in der Verschärfung von Gesetzen, der Einschränkung von Freiheiten und der Aufstockung bei Sicherheitskräften zeigen, sind sie nicht zu verkennen. Entscheidend dürfte aber diese Folge sein: Die Täter sorgen für Angst und Schrecken.

Wenn sie mit dem Flugzeug in Hochhäuser fliegen, mit Bomben Bahnen sprengen, mit Schusswaffen ins Museum laufen, mit dem Lastwagen in eine Menschenmenge fahren, gibt das immer wieder neue und spektakuläre Bilder für die Öffentlichkeit. Nicht nur Bilder in Form von Fotos oder Videos, sondern auch Vorstellungen, die sich Menschen durch detaillierte Erzählungen machen.

So filmte der Journalist Richard Gutjahr zufällig das Tatwerkzeug in Nizza, den Lastwagen, wie er Fahrt aufnimmt; schon dieser Anlauf ist erschreckend. SPIEGEL online betitelt einen Artikel mit Berichten von Augenzeugen mit dem Zitat: „Die Menschen sind weggeflogen wie Bowling-Kegel“. Und BILD-Chefredakteurin Tanit Koch twitterte bzw. retweetete Fotos und Videos von Leichen – zum Glück nicht ohne Kritik.

Was sollen wir zeigen?

Im Pressekodex heißt es in Ziffer 11:

Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid.

Und in Ziffer 11.2 führt der Kodex etwas detaillierter aus:

Bei der Berichterstattung über Gewalttaten, auch angedrohte, wägt die Presse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgsam ab. Sie berichtet über diese Vorgänge unabhängig und authentisch, lässt sich aber dabei nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen.

Der erste Satz wird im Großen und Ganzen befolgt, solange Journalisten nicht, wie Tanit Koch, die Persönlichkeitsrechte von Opfern und Betroffenen verletzen. Das geschieht auch noch nicht dadurch, dass über den Ablauf des Anschlags, die Waffe, das Vorgehen, den mutmaßlichen Täter usw. berichtet wird. Aber halten wir Journalisten uns auch an den zweiten Satz?

Berichten wir wirklich unabhängig, wenn wir grausame Bilder zeigen und Details schildern, die bei unserem Publikum zu Angst und Schrecken führen? Machen wir uns nicht abhängig von den Bildern, lassen uns von ihrer Existenz dazu verleiten, sie auch zu zeigen? Ist es das, was wir uns unter authentisch vorstellen, wenn wir einfach draufhalten, ohne jede Distanz? Denn ist schließlich nicht die mediale Verbreitung der Taten ein großer, vielleicht der wichtigste Teil eines Anschlags?

Journalisten als Handlanger von Terroristen?

Die Bild-Zeitung ging in der Vergangenheit sogar noch weiter und berichtete selbst über Bilder, die ohne sie keine Öffentlichkeit gefunden hätten, nämlich Videos der Terrormiliz IS, die sie detailliert schilderte, zugleich als „widerliche Propaganda-Aktion“ angeblich verurteilte und die Propaganda damit perfekt machte.

Anders bei öffentlich sichtbarer Kriminalität wie Terroranschlägen. Für Journalisten war es dabei immer schon schwierig, das im Pressekodex genannte Informationsinteresse der Öffentlichkeit abzuwägen gegen die gleichermaßen benannte Warnung davor, sich nicht zum Werkzeug von Verbrechern zu machen. Gerade in der aktuellen Berichterstattung, kurz nach einem Anschlag, wenn nur wenige Informationen und wenige Bilder vorliegen, greifen sie auf das zurück, was sie haben. Dabei bleibt wenig Zeit fürs Nachdenken, für Analyse, Einordnung, Hintergrund. Stattdessen wird das Geschehen eins zu eins wiedergegeben – und damit die Botschaft der Terroristen transportiert. Das ist der Preis, wenn man früh und über alles informiert werden möchte. Dessen muss man sich zumindest bewusst sein.

Moderator Philipp Banse fasste das Dilemma in der Mediensendung „Breitband“ im Deutschlandradio Kultur in eine Frage:

„Wieviel Horror müssen wir als eine Gesellschaft ertragen, um uns informiert und aufgeklärt nennen zu können, und welche Sachen müssen wir einfach nicht wissen?“

Der Kulturjournalist Arno Frank antwortete, dass zum Beispiel ein Foto der „Daily Mail“, wie der Terrorist in Nizza erschossen wird, kein Informationsbedürfnis befriedige, sondern eher ein pornographisches.

„Ich behaupte (…), dass diese Bilder eine gewisse Verführungsmacht haben, sie werden uns ja schließlich angeboten. Und das ist alles nur einen Klick entfernt und schon ziemlich zudringlich, solange ich Smartphones habe und im Internet überhaupt unterwegs bin.“

Frank verwies indirekt darauf, dass Journalisten die Verantwortung hätten, was sie davon an ihre Nutzer weitergeben; sie böten ihnen einen Filter, indem sie ihnen diese Bilder vorenthielten.

Marion Müller, Professorin für Massenkommunikation an der privaten Jacobs University Bremen, sagte, Bilder würden assoziativ wahrgenommen und seien mächtiger, was emotionale Reaktionen angehe, während Text eher auf argumentativer Ebene verstanden werde. Bilder könnten traumatische Wirkungen haben.

Das Aus für die Gatekeeper

Dass Journalisten überhaupt vorgeworfen werden kann, zu langsam, zu zögerlich, zu zurückhaltend zu berichten, liegt vor allem daran, dass sich Nutzer auch anders informieren können. Sie sehen, wie Informationen zum Beispiel über einen Anschlag via Twitter und Facebook, per Facebook live und Periscope verbreitet werden. Arno Frank glaubt:

„Das ist den klassischen oder herkömmlichen Medien inzwischen sogar entglitten, die Kontrolle über die Bilder, die wir sehen. Die finden ihren Weg, und die finden sie über Kanäle, auf die der klassische oder herkömmliche Journalist keinen Zugriff mehr hat.“

Die Nutzer sind damit zwar einen Schritt näher am Geschehen, aber damit auch einen Schritt näher an Angst und Schrecken der Terroristen und zugleich einen Schritt weiter weg davon, zu verstehen, was passiert ist.

Ich finde nicht, dass Journalisten diesen Schritt auf ihre Nutzer zugehen sollten. Sie sollten sich vielmehr trauen, den Schritt zurückzutreten, um sich nicht in der Angst und dem Schrecken zu verlieren, den die Terroristen provozieren wollen. Wenn Journalisten in ihrer Berichterstattung auf schreckenerregende Details verzichten, wenn sie sachlich und unemotional über den Ablauf der Tat berichten, wenn sie Einordnung und Hintergrund liefern, erledigen sie ihre Arbeit.

Sie sollten aber zugleich thematisieren, wie sie mit Bildern und Informationen umgehen. Wenn sie Details auslassen oder Bilder nicht zeigen, obwohl es sie gibt, sollten sie ihre Entscheidungen transparent machen und begründen. Auch auf die Gefahr hin, dass sich die Nutzer diese Bilder im Netz selber suchen. Aber dafür müssen sie aktiv werden, und sie wissen, was sie erwartet.

Zu dieser Einstellung gehört aber auch, sich Zeit zu nehmen, Abstand zu gewinnen, ein zweites und drittes Mal darüber nachzudenken, welche Bilder man zeigt und welche nicht, welche Informationen mal als verifiziert weitergibt und welche man lieber länger prüft. Dann muss man auch Vorwürfe aushalten, man berichte zu spät oder zu wenig.

Nachtrag, 18. Juli: Matern Boeselager (@m_boeselager) geht in seinem Text bei VICE noch weiter als ich, wenn er schreibt: „Warum ignorieren wir den Terror nicht einfach?“ Er plädiert für Zurückhaltung und schlägt etwa vor, dass die Medien nach einem Anschlag nur meldeten, dass er passiert ist, wie viele Menschen getötet worden, ob der Täter noch auf freiem Fuß sei oder nicht, ob der Flughafen gesperrt sei.

Niemand würde den Namen des Täters nennen, niemand seine Tagebücher oder Fotos seines Hauses veröffentlichen. Niemand würde ihn unsterblich machen.

Nachtrag, 19. Juli: Stefan Winter hat sich bei Meedia auch mit der Bilderflut beschäftigt. Auf die Frage, was man zeigen soll, hat er keine Antwort:

Diese Fragen sind schwierig und sie müssen wohl jedesmal aufs Neue gestellt und aufs Neue beantwortet werden. Auch diesmal.

Nachtrag, 20. Juli: Der Politikwissenschaftler Matthias Herrmann (@mhermann) schrieb im Schweizer Tagesanzeiger:

Längst ist bekannt, dass immer umfänglicher bebilderte terroristische Taten und Amokläufe nur noch mehr Nachahmungstäter auf den Plan rufen. Dazu kommt, dass mit der Bilderflut jeder nächste Täter von seinen Vorgängern lernen kann, ohne selbst vor Ort gewesen zu sein.

Weiterführend:

Mathias Müller von Blumencron: Ohne Kompass. Wie soziale Medien den Terror anfachen

Frank Lübberding: Soziale Netzwerke als Propagandainstrument

Sandra Schulz ist nicht Malu Dreyer, auch wenn Julia Klöckner das so vorkommt

Die CDU-Fraktion im rheinland-pfälzischen Landtag hat heute versucht, Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) mit eine Misstrauensantrag aus dem Amt zu heben. Gelungen ist ihr das nicht. Am Morgen vor der Entscheidung hat CDU-Fraktionschefin Julia Klöckner dem Deutschlandfunk ein Interview gegeben.

Die Fragen von Moderatorin Sandra Schulz sind ein gutes Beispiel dafür, mit welcher Haltung Journalisten ein solches Meinungsinterview führen sollten. Klöckner legt diese Methode sogar zweimal indirekt offen, indem sie Schulz im Ton der Empörung darauf anspricht:

„Denn die Geschichte, die Sie jetzt erzählen, ist die Lesart der Landesregierung.“

„Das ist auch wieder die Lesart der Landesregierung, der Ampelkoalition.“

Und auf eine weitere Frage sagt Klöckner empört:

„Also Frau Schulz! Jetzt muss ich mal ganz kurz einhaken. Sie verwechseln gerade Täter und Opfer.“

Und dann ruft sie als Auftakt zu einer Antwort:

„Ja, einen Moment!“

Durch Julia Klöckners Reaktion wird deutlich, dass Sandra Schulz genau die richtigen Fragen stellt. Sie lässt Klöckner nämlich auf Positionen reagieren, die deren Meinung konträr gegenübersteht. Da Klöckner sich gegen die Landesregierung stellt, ist diese Position zu Teilen deckungsgleich mit deren Haltung. Damit gibt Schulz Klöckner die Gelegenheit, ihre Position genau abzugrenzen und klar darzustellen.

Einige Hörer unterstellen Journalisten, die ein Interview führen, gerne mal, dass diese unzulässige, unverschämte oder „nicht neutrale“ Fragen stellen. Das ist jedoch nicht die Aufgabe eines Interviewers. Er soll stattdessen in einem Interview wie dem mit Klöckner den Hörern deren Meinung kenntlich machen. Das gelingt umso leichter, je klarer – und in gewisser Weise auch provokanter – die Fragen sind. Sandra Schulz hat das hier in vorbildlicher Weise getan.

Nachtrag, 17.20 Uhr: Offenbar findet Sandra Schulz‘ Moderations- und Interviewstil glücklicherweise auch Anhänger, die ihre Art nicht missverstehen.

Offenlegung: Ich arbeite regelmäßig als freier Mitarbeiter für den Deutschlandfunk.

Das Geschäftsmodell von stern.de

Werbung ist wichtig, um ein Angebot wie stern.de zu finanzieren. Ad-Blocker gefährden dieses Geschäftsmodell.

Schreibt stern.de heute in einem Text, „um Aufklärung zum Thema Adblocker zu betreiben“ – und zwar „mit einem Augenzwinkern, aber doch ernst“. Wer stern.de mit aktiviertem Adblocker ansurfe, bekomme eines von vier Motiven der Kampagne „BLOCKxit“ angezeigt, heißt es da. Und wer die Seite ohne Adblocker ansurft, für den sieht sie zum Beispiel so aus:

(Screenshot: stern.de)
(Screenshot: stern.de)

Das gefährdet das Geschäftsmodell des Stern natürlich nicht.

Mit Dank an Boris Rosenkranz, der mich auf die Kampagne gestoßen hat.

 

Der Umgang mit Fehlern – immer noch eine schwierige Übung für Journalisten

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Es ist erstaunlich, wie ausführlich immer noch darüber diskutiert wird, ob Journalisten Fehler machen. Als es auf der Jahrestagung des Netzwerks Recherche in Hamburg um eine neue Fehlerkultur ging – also die Frage, wie Journalisten mit Fehlern umgehen sollten – wurde überraschend lange darüber diskutiert, ob sie überhaupt Fehler machen und was eigentlich als Fehler angesehen wird. Das zeigt, wie wenig entwickelt diese Fehlerkulturen in vielen Redaktionen eigentlich sind.

Zwar gab es recht schnell Einigkeit in der Frage, ob sachliche Fehler, Rechtschreibfehler, Vertauschungen, falsche Fernsehbilder, falsch übersetzte fremdsprachliche O-Töne korrigiert werden müssen. (Ja, müssen sie.) Wie das passiert, war allerdings umstritten. Medienkritiker Stefan Niggemeier fordert schon seit Langem, dass Journalisten damit an die Öffentlichkeit gehen sollten. Ihre Situation habe sich geändert, findet er; heute müssten die Leute nicht mehr glauben, was ihnen Journalisten erzählen, sie könnten sich stattdessen aus den besten und schlechtesten Quellen informieren. „Das ist das Dramatischste, was sich verändert, dass dieses Monopol weg ist“, sagte Niggemeier in Hamburg. Medien müssten darauf mit mehr Transparenz und einer Fehlerkultur reagieren.

Tagesschau-Chefredakteur Kai Gniffke zeigte sich skeptisch, dass diese Offenheit wirklich zielführend ist und belohnt wird. Angesprochen auf das Tagesschau-Bild von der falschen Deutschlandflagge sagte Gniffke, manche Fehler ließen sich nur schwer kaschieren. Allerdings würden alle Fehler analysiert, berichtigt und transparent gemacht. Man müsse jedoch aus taktischen Gesichtspunkten überlegen, ob das insgesamt zum Erfolg führe, sagte Gniffke. Er ist gegen einen Transparenzkult, denn durch das öffentliche Eingeständnis selbst kleinster Fehler würden diese erst richtig groß gemacht.

Selbstkritik wird nicht belohnt

Tatsächlich haben öffentlich-rechtliche Sender damit in der Vergangenheit keine guten Erfahrungen gemacht. So hatte Gniffke laut Focus eingeräumt:

„Wenn Kameraleute Flüchtlinge filmen, suchen sie sich Familien mit kleinen Kindern und großen Kulleraugen aus.“ Tatsache sei aber, dass „80 Prozent der Flüchtlinge junge, kräftig gebaute alleinstehende Männer sind“.

Ein Eingeständnis, für das Gniffke geprügelt wurde, so dass er heute sagt: „Fehler muss man korrigieren, man muss sie aber auch nicht zelebrieren.“ Man müsse immer abwägen: Wie schwer ist der Fehler, der gemacht wurde? Wie schwer ist das Geschütz, das wir dann auffahren? Gniffke sieht sich nicht belohnt durch das öffentliche Eingeständnis von Fehlern. Er sagte, je öfter wir über unsere Glaubwürdigkeit und unsere Fehler redeten, desto mehr würden die Leute ihre Zweifel bekommen.

Auch ZDF-Chefredakteur Elmar Theveßen hat eine Welle von Kritik abbekommen. Nachdem die Hauptausgabe von „heute“ am 4. Januar nicht über die Silvesterübergriffe in Köln berichtet hatte, obwohl deren Dimension durch eine Pressekonferenz am Nachmittag offenbar geworden war, entschuldigte sich Theveßen öffentlich – und wurde dafür angegriffen. Er sprach in Hamburg von einer seltsamen Situation.

Auch Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer hatte die Berichterstattung von ARD und ZDF damals kritisiert – und bezog sich ausgerechnet auf die beiden Beispiele, in denen Fehler eingestanden wurden. Stefan Niggemeier schrieb daraufhin:

(…) Eigentlich wollen wir doch, dass Medien sich endlich zu mehr Selbstkritik durchringen. Dass sie öffentlich einräumen, wenn sie Fehler gemacht haben; dass sie sich gegebenenfalls entschuldigen; dass sie zu ihren Versäumnissen stehen.

Was ist aber, wenn diese Eingeständnisse ausschließlich als Munition gegen diejenigen verwendet werden, die sie äußern? Wenn sie nicht als Indiz dafür genommen werden, dass sich die Verantwortlichen kritisch mit ihrer eigenen Arbeit auseinandersetzen, sondern als vermeintlichen Beleg dafür, dass die Situation so schlimm ist, dass selbst die Verantwortlichen nicht mehr alles leugnen können?

In Hamburg sagte er jetzt, da müssten die Medien jetzt erst mal durch. Was als Selbstkritik gedacht war, wie bei Gniffke, sei als Eingeständnis genommen worden, dass die Zuschauer belogen werden, sagte Niggemeier in Hamburg. Er glaube trotzdem, dass das der einzige Weg sei – die einzige Chance, dass man Medien trauen kann. Langfristig helfe das.

Es versendet sich nichts mehr

Der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo, der heute das Recherchebündnis von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung leitet, stimmt zu. Alte Journalistenweisheiten wie „Nichts ist älter als die Zeitung von gestern“ und „Das versendet sich“ stimmten heute einfach nicht mehr. Mascolo gab sich beschämt für die gesamte Branche und sein eigenes berufliches Leben, dass sich viele Journalisten nie dazu verpflichtet sahen, Fehler transparent zu korrigieren. Dabei könnten wir Journalisten davon nur profitieren.

Mascolo verwies auf Kritik von Zuschauern, die fragen würden: Legt Ihr die gleichen harten Maßstäbe, die Ihr an andere anlegt, auch an Euch selbst an? Für den Unwillen, mit eigenen Fehlern umzugehen, habe unser Publikum ein ganz gutes Gespür. Das Korrigieren von Fehlern müsse eine Verpflichtung gegenüber dem Publikum sein, so Mascolo, aus Liebe zum eigenen Beruf und handwerklichen Standards. „Das darf in Zukunft nicht mehr verhandelbar sein“, egal wie die Reaktionen ausfallen.

Mascolo und Niggemeier brachten das Amt eines Ombudsmanns ins Spiel. In den USA haben einige Medien Ansprechpartner für ihre Nutzer benannt, die deren Fragen an die Redaktion weitergeben können. So hat etwa Margret Sullivan bei der New York Times vier Jahre lang Anregungen und Kritik der Nutzer aufgenommen und in der eigenen Redaktion recherchiert, wie mit Themen umgegangen wurde, warum so und nicht so berichtet wurde, wie es zu Fehlern kam. Mascolo fordert, dass so ein Ombudsmann oder eine Ombudsfrau intern nach denselben Maßstäben recherchieren müsste, mit denen Journalisten sonst außerhalb auch recherchierten.

Niggemeier als Ombudsmann beim Spiegel?

Als Mascolo Chefredakteur des Spiegel war, wollte er solch einen Ombudsmann installieren. In Hamburg verriet er, dass er dafür Stefan Niggemeier gewinnen wollte. Warum es nicht dazu kam, dazu haben beide allerdings unterschiedliche Erinnerungen.

Mascolo sagte, ein gut eingesetzter Ombudsmann könne der Glaubwürdigkeit des ganzen Systems dienen. Gniffke lehnte das für seine Redaktion allerdings ab. Er beschäftige ohnehin jeden Tag zwei Leute damit, Beschwerden nachzugehen. Theveßen verwies auf Entwicklungen im ZDF: Es gebe inzwischen eine Korrekturspalte auf heute.de, Programmbeschwerden seien einfacher geworden, seit sie auch per Mail eingereicht werden könnten, „unsere Antworten sind sachlicher geworden“ und auch selbstkritischer, sagte Theveßen. Man stelle sich per Talk und Chat dem Zuschauer, auf Wegen wie heute plus und Facebook. „Ich glaube, wir sind gar nicht so schlecht“, sagte er.

Moderator Peter Grabowski brachte eine Erfahrung ins Spiel, die ich als Journalist auch immer wieder mache: Leser, Hörer, Zuschauer, Nutzer sind ziemlich schnell in ihren Urteilen und, so Grabowski, sie maßen sich Urteile über hochkomplexe politische Dinge an, die sie etwa der Bundeskanzlerin über ihren eigenen Job nie zugestehen würden. Er habe das Gefühl, dass viele Leute nicht verstünden, wie dieses Land funktioniert, geschweige denn die Medien. Zwischen „würfeln“ und „die CDU ruft an und sagt, was wir berichten müssen“ sei alles dabei. Wir sollten vielleicht viel deutlicher erklären, was wir machen, so Grabowski. Und die freie Journalistin Andrea Hansen fügte aus dem Publikum hinzu, dass wir uns zum einen mehr in die Karten schauen lassen müssten, zum anderen aber auch zeigen, was uns immer noch zum Profi mache bei der Berichterstattung über sowie der Einordnung und Kommentierung von Ereignissen. Vorbildlich gelungen ist das übrigens bei der Featurereihe „Der Anhalter“, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe.

ZDF-Chefredakteur Elmar Theveßen sagte, sein Sender habe jeden Freitag bei heute plus und bei Facebook live gezeigt, wie sie was gemacht hätten. Moderator Daniel Bröckerhoff nimmt regelmäßig vor den Sendungen Zuschauer per Periscope mit in die Redaktion oder ins Studio.

Theveßen hält das aus zwei Gründen für notwendig, sagte er in Hamburg: Erstens sei es eine Frage des Anstands, und zweitens: „Es wird nicht besser werden, was das wachsende Misstrauen in Medien angeht durch die Vervielfältigung der Medien.“ Man müsse uns mehr vertrauen können als andere Medien, die genau das nicht täten.

Keine Diskussion über die eigentlichen Vorwürfe

Dennoch sieht Theveßen auch Grenzen: Die, die am lautesten schrien, schauten sich genau das eben nicht an, weil es nicht in ihren Kram passe. Die wollten gar nicht so genau wissen, wie wir arbeiten und wie sorgfältig das ist, weil es ihnen ihre Schreierei kaputt machen könnte.

Faktische Fehler sind das eine. Ihnen zu begegnen, halte ich trotz der langen Diskussion für vergleichsweise einfach. Schwerer wiegen für mich jedoch Vorwürfe von Nutzern, die in Hamburg höchstens gestreift wurden: die Kritik, Journalisten würden tendenziös berichten. Dass wir Akteure mit verschiedenen Maßstäben messen würden (Russland/Ukraine), dass wir bei den einen kritisieren, was wir den anderen durchgehen lassen (Russland/NATO), dass wir Fakten verdrehen, damit sie zu unserer Gesamtaussage passen, kurz: dass wir Propaganda betreiben und nicht neutral seien.

Solche Vorwürfe sind es, die das Verhältnis zu einem bestimmten Teil der Nutzer ernsthaft belasten. Die einzelne, detailliertere Kritik hat teilweise durchaus ihre Berechtigung, allerdings ignorieren Journalisten selbst diese gerne. Manche davon ist durch Verweis auf weitere Fakten auszuräumen, manche durch ein Eingeständnis, zum fraglichen Zeitpunkt nicht die gesamte Lage überblicken zu können. Aber es sind auch Fehleinschätzungen darunter, die einzugestehen einen Journalisten nicht unglaubwürdig, sondern wesentlich glaubwürdiger machen würde.

Es sind zugegebenermaßen auch Vorwürfe darunter, die nicht auszuräumen sind, wenn die Gegenseite faktenfrei argumentiert und lediglich ihre Sicht auf die Dinge bestätigt haben möchte. In Hamburg blieb jedoch völlig offen, wie man sowohl diesen Nutzern begegnet als auch mit berechtigter Kritik in dieser Hinsicht umgeht. Von einer umfassenden Fehlerkultur scheinen zumindest die bei dieser Diskussion auf der Jahreskonferenz vertretenen Redaktionen noch entfernt zu sein.

Journalismus heute: An der Grenze

In Hamburg hat die Jahreskonferenz des Netzwerks Recherche begonnen. Nachfolgend ein paar Tweets aus einigen Veranstaltungen.


In den kommenden Tagen werde ich möglicherweise einzelne Themen noch detaillierter aufgreifen.

Nicht mehr unter dem Radar

Vor vier Jahren sorgte der Bundestag für Aufregung. Aber es bekam keiner mit. Deutschland spielte bei der Fußball-EM gegen Italien. Das dauerte länger als 57 Sekunden. So schnell ging es aber mit einer folgenschweren Entscheidung, als das Meldegesetz geändert wurde.

Bundestagspräsident Norbert Lammert erinnerte sich noch daran, als er heute die Sitzung eröffnete, und bat die Abgeordneten darum, sich kurz zu fassen, damit alle rechtzeitig fertig werden. Derartige Entscheidungen wie 2012 sind also heute nicht geplant.

Böttinger vs. Podolski: So erfinden Kölner Zeitungen einen Streit

Es läuft gut beim Express. Lukas Podolski hat der Boulevardzeitung aus Köln neue Aufmerksamkeit verschafft. Weil er auf einen irreführenden Tweet reagiert hat. Der auf einen irreführenden Beitrag des Express verlinkt. Weil der wiederum ein Interview im Kölner Stadt-Anzeiger (aus demselben Verlag) sinnentstellend wiedergegeben hat. Peinlich ist das beim Express offenbar niemandem, stattdessen genießt man die Aufmerksamkeit und dreht die Geschichte weiter.

Am Anfang stand das Interview des Stadt-Anzeigers mit Bettina Böttinger, in dem sie über Köln und Düsseldorf sprach und beide Städte für einiges lobte und für einiges kritisierte. Insgesamt aber überwog das Lob für Köln, denn:

Ich habe mich ja als gebürtige Düsseldorferin nicht zufällig für Köln entschieden – und auch nicht nur, weil hier meine Arbeitsstätte ist. (…) Ich bin eine Frau, die gerne hier lebt, gerne hier arbeitet und gerne mit den Leuten zu tun hat. Die Atmosphäre macht’s.

Dem Express war das offenbar zu wenig krawallig – und er sorgte selbst dafür. In seiner Zusammenfassung des Interviews ließ er kurzerhand das Lob für Köln ebenso weg wie die Kritik an Düsseldorf und strickte daraus einen Beitrag mit folgender Überschrift:

Express Böttinger ÜberschriftIch habe gestern schon gezeigt, dass die Grundaussage des Interviews damit schon ziemlich verfälscht wurde. Entsprechend war auch der dazu passende Tweet:

Fußballnationalspieler Lukas Podolski, überzeugter Kölner, las den Tweet, vielleicht noch das Stück im Express, aber wahrscheinlich nicht das Originalinterview – und twitterte:

Anstatt das selbst ausgelöste Missverständnis aufzuklären, dreht der Express die Geschichte einfach weiter – und fragt bei Bettina Böttinger nach. Die muss jetzt also richtigstellen, was sie nie falsch gemacht hat – und führt noch einmal sehr ähnlich das Interview auf, das am Samstag im Stadt-Anzeiger erschienen war.

So sagte Böttinger etwa im Stadt-Anzeiger:

Wenn ich mir etwa die öffentlichen Verkehrsmittel angucke – da will mir manches nicht in den Kopf. Ich kann auch nicht begreifen, dass man keinen Plan B für die Oper hat. Es nervt mich wahnsinnig, dass Köln relativ dreckig ist. Da ist Düsseldorf nun wirklich mal weit voraus.

Und jetzt im Express zur Frage, was sie nervt:

Dass die Stadt so dreckig ist. Wenn ich in der Südstadt aus dem Haus rauskomme, ärgere ich mich jedes Mal, wie es in und an manchen Ecken aussieht. Das müsste die Stadt mal in Griff bekommen, anderswo ist es ja auch nicht so.

Und mich nervt sehr, dass die KVB vieles nicht auf die Reihe bekommt. In Berlin zum Beispiel komme ich mit S-Bahn und U-Bahn super zurecht, hier ist es oft die reinste Katastrophe.

Am Ende steht also im Express genau jene differenzierte Meinung Böttingers über Köln, die ihr die Zeitung am Samstag abgesprochen hat. Und mit allem zusammen verarschen die beiden Zeitungen aus der Kölner DuMont-Mediengruppe ihre Leser.

Den Kölner Stadt-Anzeiger hat das alles übrigens nicht davon abgehalten, den künstlich angefachten Streit wiederum in einem eigenen Beitrag zu würdigen, ohne die Verfälschung der Kollegen zu thematisieren.

Klammheimlich ließ Markus Söder seinen Tweet wieder verschwinden

Da lag der bayerische Finanzminister Markus Söder mit einem Tweet etwas daneben. Nach dem Elfmeterschießen beim EM-Spiel Deutschland gegen Italien fordert er, unter anderem Mesut Özil an der Stelle künftig nicht mehr antreten zu lassen.

Originaltweet von Markus Söder
Originaltweet von Markus Söder

Viele Nutzer verstanden den Tweet rassistisch. Vor allem deshalb, weil Söder mit dem Alter ein Argument anführte, das nicht trug. Denn Mesut Özil, der verschossen hat, ist mit 27 ziemlich genau so alt wie die meisten anderen tatsächlich erfolgreichen Elfmeterschützen: Toni Kroos ist 26, Mats Hummels 27, Jerôme Boateng 27, Jonas Hector 26. Nur Joshua Kimmich (21) und Julian Draxler (22) sind „junge Spieler“, um Söders Terminologie zu folgen. Tatsächlich haben mit Thomas Müller (26) und Bastian Schweinsteiger (31) zwei weitere „Ältere“ auch nicht getroffen. Insgesamt aber ergibt die Begründung wenig Sinn.

Söder löschte den Tweet kurz darauf und setzte einen neuen ab, ohne die Korrektur zu thematisieren. Dabei erwähnte er nicht nur Özil, sondern auch Müller und Schweinsteiger.

Korrigierter Tweet von Markus Söder
Korrigierter Tweet von Markus Söder

Der neue Tweet macht die Sache allerdings kaum besser, denn die Statistik spricht weiter gegen Söder. Wer sich wie er immer wieder latent ausländerfeindlich äußert, darf sich über Kritik an einem solchen möglicherweise harmlos gemeinten Tweet nicht wundern.

 

Update, 13.45 Uhr: Später twitterte Söder übrigens noch mal.

Ich stehe vielleicht auf dem Schlauch, aber ich verstehe nicht, worauf er sich bezieht. Wollte er sagen, ausgerechnet die erfahrenen Spieler hätten verschossen? Was ist dann mit Kroos (70 Länderspiele), Hummels (50 Länderspiele), Boateng (64 Länderspiele)? Ab wann fängt Erfahrung an?