Journalismus im Zeitalter der Echtzeitmedien: Wir können nicht mehr näher ran

Radiogerät von 1946
Das erste Echtzeitmedium: ein Radiogerät von 1946.

Im Mittelalter dauerte es mitunter lange, bis eine Information ihren Empfänger erreichte. Manchmal erfuhren viele Untertanen erst mehr als ein Jahr später, wenn ihr König gestorben war. Schrittweise wurde die Lücke zwischen unerwartetem Ereignis und Zeitpunkt, an dem die Information einen Empfänger erreicht, verringert. Tageszeitungen verkürzten die Lücke bis heute auf ein paar Stunden. Und selbst als Radio und Fernsehen dazu kamen und live sendeten, mussten sich trotzdem noch Journalisten zum Ereignis begeben, bevor sie berichten konnten – unter teils beträchtlichem finanziellen und personellen Aufwand.

Diese Lücke existiert heute praktisch nicht mehr. Von fast jedem Punkt der Erde können fast jederzeit bewegte Live-Bilder verbreitet werden – völlig ohne Journalisten. Mehr als ein Handy und eine Internetverbindung braucht es dafür nicht. Vor allem die letzten Terroranschläge in Paris, Brüssel und Nizza haben gezeigt, dass Augenzeugen mit Fotos und Videos, Periscope und Facebook live schneller sind; bei landesweiten Ereignissen wie dem Putschversuch in der Türkei sind sie sogar unschlagbar, weil es kaum so viele Journalisten an so vielen Orten geben kann.

Wenn die klassischen Medien versuchen, dem hinterherzuhecheln, sind sie tot. Sie müssen aus der Defensive raus und in die Offensive.

Heute kann jeder so nah dran sein an solchen Ereignissen, wie er möchte. Doch je näher er herantritt, desto weniger versteht er. Wir Journalisten können bei dieser Nähe nicht mehr mithalten. Also treten wir doch lieber einen Schritt zurück – und liefern, was soziale Medien nicht liefern können.

Twitter ist ein Aggregator von Quellen, nicht mehr, aber auch nicht weniger

Viele Nutzer verwechseln die soziale Medien mit redaktionellen. Natürlich kann eine Information, ein Foto, ein Video auf diese Weise schnell vom Tatort in die Welt gelangen, aber sie gibt eben nur einen kleinen Ausschnitt dessen wieder, was passiert ist. Und die Informationen kommen oft von Betroffenen. Von jemandem, der gerade Opfer wurde – das kann auch ein reiner Augenzeuge sein. Ein Blick von außen fehlt – jemand, der die Informationen prüft, verschiedene Wahrnehmungen eines Ereignisses abgleicht, Stellungnahmen von Experten einholt, Hintergründe erklärt. All das ist und bleibt eine journalistische Aufgabe. Das kann man nicht im selben Moment erwarten, in dem Erstinformationen über ein Ereignis verbreitet werden, wie mein Nachrichtenkollege Udo Stiehl richtig feststellt:

Die User möchten gerne möglichst in Echtzeit die Bestätigung oder Widerlegung aller in ihrer Gerüchteküche befindlichen Informationen von professionellen Journalisten. Nur Zeit zur Recherche wird nicht gewährt.

Es ist erschreckend, dass nicht mal manche Journalisten das verstehen. In der taz schrieb etwa Jürn Kruse gestern, das Argument „Wir recherchieren erst, bevor wir senden!“ sei „ärgerlich und frech“. Und Nils Jacobsen schrieb bei Meedia, Twitter habe seine Relevanz als das erste Echtzeitmedium bei Breaking-News-Situationen unterstrichen, wohingehen Online-Medien „am Ende selbst wie alte Medien“ wirkten. Dabei sind sowohl Twitter als auch Facebook zwar durchaus Medien, aber eben keine redaktionellen. Sie liefern Quellen – was nicht wenig ist – aber die Informationen dort müssen trotzdem noch geprüft werden.

Es ist eine Herausforderung, der nicht mal die Twitter-Nutzer gewachsen sind. Warum sonst fordern genau sie, nachdem sie doch angeblich durch die kleinteiligen sozialen Medien auf dem Laufenden sind, noch redaktionelle Berichterstattung? Weil sie wohl eben doch Einordnung, Hintergrund, Analyse brauchen. Aber sofort geht nicht.

Interesse an verlässlicher Information lässt nach

Vielen Nutzern scheint eine Grundregeln von Journalisten, nämlich das Zwei-Quellen-Prinzip, nicht mehr wichtig zu sein. Es geht nicht mehr um die verlässliche Information, sondern um die schnelle, auch wenn sie falsch ist. Dabei ist nichts so schwierig zu korrigieren wie eine falsche Informationen; hängen bleibt immer die erste. Man sieht das zum Beispiel daran, welche Karriere Gerüchte in sozialen Netzwerken noch Jahre nach ihrer Falsifizierung machen.

Dafür ist auch mangelnde Medienkompetenz verantwortlich. Eine Fähigkeit, die früher in der Schule nur rudimentär gelehrt wurde, heute aber wichtiger ist denn je, wie auch Udo Stiehl findet.

Was passiert, wenn Journalisten mit einer halbgar recherchierten Geschichte auf Sendung gehen, zeigten ausgerechnet die Tagesthemen, die sich in den vergangenen Tagen auf die erwähnte Position zurückgezogen hatten, erst zu recherchieren und dann zu senden.

Der Reporter bezieht sich auf Gerüchte, die noch nicht verifiziert werden konnten (in Sachen Axt hatte er Recht), er spricht von 21 Verletzten (körperlich verletzt waren es fünf, die übrigen traumatisiert, was sich in der Verkürzung aber nicht vermittelt) und erwähnt ausdrücklich, dass man keine Information über Tote habe (es gab bisher keine). Ohne die Schwere der Tat zu leugnen: Diese wurde damit zunächst größer gemacht als sie war. Zunächst das Schlimmste anzunehmen und dann schrittweise alles zurückzunehmen ist auch keine journalistische Vorgehensweise.

David Denk formulierte es in der Süddeutschen Zeitung ganz richtig:

Schnelligkeit ist schön und gut, aber doch kein Wert an sich.

Das könnten wir tun

Vielleicht sollten wir uns von dieser Form der Berichterstattung zurückziehen. Deutlich machen, was soziale Medien sind und was redaktionelle. Stattdessen bei Krisenlagen immer dazu sagen, was wir machen und was nicht – und warum. Wir sollten offen thematisieren, wenn wir eine Lageeinschätzung für schwierig halten, und warum. Wir sollten uns mit der Weitergabe von Gerüchten zurückhalten und auch das dazu sagen. Wir dürfen erwähnen, dass auch wir Posts, Fotos und Videos lesen und sehen, die das Ereignis zeigen sollen, dass wir sie aber verifizieren wollen. Vielleicht im Einzelfall dazu sagen, wie wir das tun. Dass Verstörendes darunter ist, das wir nicht ungefiltert weiterreichen wollen. Weil Gesagtes und Gesehenes nicht so leicht ungesagt und ungesehen gemacht werden kann.

Wir sollten keine verwackelten, schwer zu erkennenden, verängstigenden Videos senden, wenn sie den Interessen der Täter dienen, erst recht nicht live. Auch, um damit dem Terror keine Bühne für Propaganda zu bieten. Den Täter nicht verherrlichen. Stattdessen zusätzliche Informationen recherchieren, das Ereignis einordnen, Hintergründe und Analysen liefern, mit Fachwissen und Haltung kommentieren. Und auch eben mal nichts sagen, wenn schon alles gesagt ist, was man weiß. Keine Endlosschleifen mit Reportern in der Nähe des Tatorts, denen man damit die Zeit zur Recherche klaut. Dann ist auch die Gefahr nicht da, in Spekulationen zu verfallen. Die Sondersendung erst mal beenden, weil alles gesagt ist, was wir wissen. Versprechen, dass wir uns wiedermelden, sobald es Neuigkeiten gibt. Und das dann auch wirklich tun. Ansonsten untergraben wir auf Dauer unsere eigene Glaubwürdigkeit.

Weiterführend:

Monique Hofmann: Nichts Genaues weiß man nicht, Hauptsache auf Sendung?

Michael Hermann: Nicht die Welt ist aus den Fugen

Jan Fleischhauer: Nachrichten gefährden Ihre Gesundheit

Christian Neuner-Duttenhofer: Medien in der Krise. Ratlosigkeit als Betriebssystem

Christine Watty: Haben ARD und ZDF den Putsch verschlafen?

Stefan Niggemeier: Das Ende des Nachrichtenfernsehens, wie wir es kennen (exklusiv für Übermedien-Abonnenten)

Auf der Suche nach dem „Anhalter“ – eine transparente Recherche

Im Tagesgeschäft geben Journalisten eher selten Einblick in ihre Arbeitsmethoden. Wie sie auf ein Thema gestoßen sind. Warum sie entschieden haben, sich weiter damit zu beschäftigen. Welche Quellen sie angezapft haben. Was dabei herumgekommen ist.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens lässt ihnen dazu das journalistische Format oft keinen Raum. Eine Nachricht etwa soll kurz und knapp sein, das Wesentliche erzählen und nichts Unwesentliches etwa zur Entstehung der Meldung. Zweitens würde die genaue Wiedergabe des Rechercheweges die Ausspielung der Nachricht verzögern. Drittens ist es in vielen Fällen mehr oder weniger implizit klar oder irrelevant, wie ein Thema zu einem Thema geworden ist.

In manchen Fällen ist das anders. Die fünfteilige WDR5-Dokumentarserie „Der Anhalter“ von Sven Preger und Stephan Beuting macht vor, wie transparent man eine Recherche gestalten kann. In diesem Fall ist das nicht ganz überraschend, schließlich gehört die Recherche zur Geschichte, denn sie erzählt etwas über den Protagonisten der Reihe: Heinrich Kurzrock.

Preger und Beuting treffen ihn unabhängig voneinander, mit einem Jahr Abstand. Am selben Ort: einer Tankstelle am Kölner Verteilerkreis. Er erzählt ihnen, er habe seine Kindheit in der Psychiatrie verbracht, mehr als 14 Jahre lang. Weggesperrt, geschlagen, missbraucht – in den 1950er und 60er Jahren sei das gewesen. Nun will Heinrich nur noch Schluss machen und sucht eine Mitfahrgelegenheit.

Als die beiden Reporter sich zufällig davon erzählen, beschließen sie, sich auf die Suche zu machen: nach diesem Mann und nach der Wahrheit? Was ist, wenn nur ein Bruchteil von seinen Geschichten stimmt? Wenn er wirklich als Kind in einer Psychiatrie geschlagen und missbraucht wurde? Dann ist er eines von tausenden Kindern, die bis heute auf eine Entschädigung warten.

Schon im Ankündigungstext von WDR5 wird die Suche der Journalisten ausdrücklich angesprochen, die sie im Verlauf des Features immer wieder transparent machen. Man hört Preger beim Telefonieren mit Behörden, er erzählt, welche Auskünfte er rechtlich nicht bekommen kann, welche Recherchen in die Sackgasse führen. Anstatt Interviewpartner zu besuchen (was Journalisten für ein Feature bevorzugt tun), hört man sie auch mal am Telefon.

Als Preger und Beuting endlich Kontakt zu Heinrich Kurzrock bekommen und zu ihm fahren, hört man, wie sie sich im Auto über ihn unterhalten. Welche Gefühle und Gedanken sie mit dem bevorstehenden Treffen verbinden. Sie machen damit deutlich, dass auch Journalisten nicht rein objektiv an eine Geschichte herangehen können, sondern – wie alle Menschen – Gefühle damit verbinden.

Preger: Damals sagte er schon, dass er sozusagen Knochenkrebs im Endstadium hat, und jetzt ist es anderthalb Jahre später, wo ich genau wie du auch sagen würde: Dann kann er ja nicht mehr leben. Und jetzt lebt er. Was sofort die Frage auch danach stellt: Was davon war eigentlich wahr, was er mir damals erzählt hat?
Beuting: Ja, das ist die gute Frage. Wieviel erzählt er uns eigentlich, was wirklich wahr ist, wie gehen wir eigentlich damit um, wenn wir offensichtlich merken, dass was nicht wahr ist? Wieviel kann man Heinrich eigentlich gleich glauben? Das beschäftigt mich auch.

Sie machen zugleich deutlich, dass sie – trotz des menschlichen Interesses, das sie an Heinrich haben – ihm nicht alles glauben können. Und nicht alles glauben werden. Aber sie machen auch deutlich, worum es ihnen geht:

Wir wollen die Wahrheit, wittern eine Geschichte und wollen Heinrich helfen.

Immer wieder erzählen sie einer Kollegin von ihren Recherchen, die wertvolle Anregungen von außen liefert. Die sie zum Beispiel darauf hinweist, dass auch Heinrich sich von ihrem Treffen bestimmte Dinge verspricht, er also auch ein eigenes Interesse daran haben kann, dass über die reine Berichterstattung hinausgeht. In Folge 2 legen Preger und Beuting offen, dass sie Heinrich eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 300 Euro zahlen dafür, dass er ihnen ihre Geschichte erzählt. Dass sie das tun, halte ich in dem Zusammenhang für plausibel und vertretbar. Aber sie erwähnen auch, dass sie sich damit angreifbar machen.

Der erste von fünf Teilen endet damit, dass sie Heinrich wiedertreffen. Das macht Lust auf mehr.

Bisher sind von „Der Anhalter“ von Sven Preger und Stephan Beuting vier Folgen erschienen, die auf der Webseite von WDR5 und als Podcast abrufbar sind.

Disclaimer: Ich arbeite gelegentlich als freier Mitarbeiter für WDR5.