Das Nachrichtenmagazin Focus fährt groß auf. In einem Artikel gestern wirft es Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor, den Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) rassistisch beleidigt zu haben. Er solle ihn als Hofnarren beleidigt haben.
Die entscheidende Stelle im Focus-Artikel über Scholz ist aber überraschend dünn. Dort heißt es:
„Als CDU-Politiker Joe Chialo einwandte, ob er das wirklich so meine mit dem Rassismus der CDU, jener Partei also, in deren Bundesvorstand er sitzt, fuhr Scholz ihn an, er, der Schwarze, sei nicht mehr als ein Feigenblatt. „Jede Partei hat ihren Hofnarren“, sagte der Kanzler an Chialo gerichtet.“
Die Satzkonstruktion ist interessant, mal davon abgesehen, dass sie für eine Webseite wie die von Focus online viele Nebensätze hat. Denn die Aussage zum „Hofnarr“ wird wörtlich zitiert, „der Schwarze“ aber nicht. So bleibt unklar, ob das von Scholz stammen soll oder ein Kommentar des Focus ist, der Chialo hier von sich aus zum „Schwarzen“ macht – um der Beleidigung noch eine rassistische Note anzudichten.
Wir wollten darüber heute im Deutschlandfunk mit Focus-Chefredakteur Georg Meck sprechen, der die Szene beobachten haben will und darüber geschrieben hat, aber er war leider nicht zu erreichen, obwohl wir es auf vielen Wegen versucht haben. Am Vormittag sprach Meck darüber bei Welt TV.
Ich habe dafür heute im Dlf über den Fall gesprochen und Textexegese betrieben. Scholz geht mittlerweile juristisch gegen den Focus vor und spricht von einem Falschzitat.
Wie angesichts der ARD-Reaktion zu erwarten war, geht die Diskussion über den Fall Thilo Mischke weiter. Harald Staun hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aufgeschrieben, wie Mischke überhaupt zu seinem Job gekommen ist, den er mittlerweile wieder verloren hat.
Ich will noch mal nachzeichnen, wie die Beteiligung der ARD und Thilo Mischkes an der Debatte aussah. Vor allem deshalb, weil ARD-Programmdirektorin Christine Strobl am Wochenende der Deutschen Presse-Agentur gegenüber den Stil der Debatte beklagt hat. Zitat:
„Ich wünsche mir, dass wir wieder zu einer Form zurückkommen, die nicht eine Debatte unmöglich macht.“
Und weiter:
„Die Entscheidung der Kulturchefinnen und -chefs ((gegen Mischke)) beruht auf der Erkenntnis, dass eine Diskussion nicht mehr möglich ist.“
Das kann man aus ihrer Sicht so sehen, aber man muss auch sagen, dass sich weder die ARD insgesamt noch Christine Strobl noch Thilo Mischke in den vergangenen zweieinhalb Wochen wirklich an der Debatte beteiligt haben, obwohl sie darauf ja hätten Einfluss haben können. Die einzigen Debattenbeiträge bestanden in Stellungnahmen in Form von Insta-Posts und Pressemitteilungen sowie einem Statement per E-Mail.
Die Bekanntgabe
Am 19. Dezember verkündete die ARD-Programmdirektion per Pressemitteilung und der Account von „titel thesen temperamente“ bei Instagram die Personalie.
Die erste Reaktion
Daraufhin kritisierten in vielen Kommentaren Nutzerinnen und Nutzer die Entscheidung. Einige Tage geschah nichts, bis die Redaktion antwortete:
wir verstehen, dass die Besetzung von Thilo Mischke als neuen Moderator von ttt vor dem Hintergrund seines vor 15 Jahren veröffentlichten Buches Fragen aufwirft, zu denen wir uns hiermit äußern wollen.
Seit Erscheinen des Buches „In 80 Frauen um die Welt“ im Jahr 2010 hat sich Thilo Mischke vielfach mit den Vorwürfen, darin ein sexistisches Frauenbild vermittelt und stellenweise rassistische Sprache verwendet zu haben, selbstkritisch auseinandergesetzt, sich öffentlich der Kritik gestellt und für seine Ausdrucksweise entschuldigt. Unter anderem in einem Podcast, den er im März 2021 veröffentlichte.
Wir, die Redaktion von ttt, haben ihn selbst hierzu befragt. Mischke distanziert sich bis heute vom Titel und Inhalt des Buches und hat den Druck einer Neuauflage untersagt.
Das Zitat, in dem sich Mischke in einem Podcast zu Vergewaltigungen äußert und das hier vielfach kritisiert wird, kommentiert Mischke so:
„Das Zitat stammt aus einem Podcast-Gespräch mit der Autorin Caroline Rosalis, in dem wir beide über einen Text (und Feminismus) von ihr sprechen. Es ist aus dem Zusammenhang gerissen. Wir sprechen kurz über den evolutionsbiologischen Grund, warum es überhaupt Vergewaltigungen in urmenschlichen Gesellschaften gab, kurz nach dieser Aussage, betone ich, wie beschämend das fürs männliche Geschlecht ist. Und betone im Gespräch, ich meine nicht meine Sexualität, sondern die von Urgesellschaften.“
ttt stellt sich gegen jede Form von Sexismus und Rassismus, wir stehen für Meinungsvielfalt und Toleranz. Wer unsere Sendung und unsere Social-Kanäle kennt, weiß das. Daran wird sich auch nichts ändern. Thilo Mischke hat seine Kompetenz als Journalist und Reporter vielfach unter Beweis gestellt. Wir freuen uns auf ihn und auf seine Sicht auf Kultur.
Genauere Quellen für die genannten Verweise gab die Redaktion nicht.
Der Podcast
Die Kritik riss aber nicht ab. Am 23. Dezember veröffentlichten Annika Brockschmidt und Rebekka Endler eine Sonderausgabe ihres Podcasts „Feminist Shelf Control“, in dem sie mit der Hilfe Dutzender anderer Autor*innen und Journalist*innen die Belege noch mal zentral zusammentrugen und kommentierten. Dabei präsentierten sie noch mehr Belege als die, auf die die ttt-Redaktion eingegangen war.
Die zweite Reaktion
An Heiligabend reagierte der ttt-Account bei Instragram, diesmal mit einem eigenen Post:
vergangene Woche haben wir Thilo Mischke als neuen Moderator für „ttt“ vorgestellt. WIr haben daraufhin nicht nur Unterstützung, sondern auch kritische Rückmeldungen von euch erhalten. Eins vorweg: Wir hören euch.
„ttt“ versteht sich als Magazin und Social-Media-Marke, die sich konsequent mit Themen wie Sexismus und toxischer Männlichkeit auseinandersetzen. Ein Blick in unseren Feed zeigt das. Feministische Perspektiven prägen unsere Arbeit und werden es auch weiterhin tun. Diese Werte sind nicht verhandelbar.
Wir nehmen eure Kritik ernst. Deswegen gibt es bereits seit Tagen intensive Gespräche, um die Vorwürfe zu prüfen.
Wir bitten euch an dieser Stelle um eines: Zeit. Wir wollen das Thema aufarbeiten und uns gründlich mit den geäußerten Sorgen auseinandersetzen. Wir sitzen das nicht aus.
Vielen Dank für euer Engagement und eure ehrlichen Rückmeldungen.
Euer ttt_social Team“
Dann passierte zunächst wieder einige Tage nichts.
Die dritte Reaktion
Ich hatte schon vor Weihnachten für eine Berichterstattung danach im Deutschlandfunk auch Thilo Mischke um eine Stellungnahme gebeten. Entweder bin ich der einzige, der das überhaupt je gemacht hat, oder ich bin der einzige, dem er geantwortet hat. Darin schrieb er unter anderem:
„Meine Person und mein Wirken belegen, dass ich weder Sexist, Rassist, homophob noch ableistisch bin. Soweit es um die von Ihnen genannten Buch-Veröffentlichungen geht, die bald 15 Jahre zurückliegen, so habe ich mich hiervon schon seit vielen Jahren öffentlich distanziert und auch eine Neuauflage und die weitere Verwertung dieser Veröffentlichungen verhindert. All das ist hinlänglich bekannt und dokumentiert, und es ist schlicht überflüssig, dass Sie mich nun noch einmal fragen, wie ich heute zu diesen Büchern stehe.
Was meinen Podcast von 2019 angeht, stelle ich anheim, dass Sie mich auf konkrete Passagen ansprechen, die eine Vergewaltigung „rechtfertigen“ sollen.
Gegen diesen völlig aus der Luft gegriffenen Vorwurf, ebenso wie den Vorwurf, dass ich Gewaltphantasien gegenüber Frauen geäußert hätte, setze ich mich entschieden zur Wehr.
Mit sachlicher Kritik setze ich mich gerne auseinander. Mit Diffamierung und Rufmord nicht.“
Daraus zitierte ich auch am 27. Dezember im Deutschlandfunk. Am Abend kommentierte ich die Kommunikationsstrategie ebenfalls dort und in Deutschlandfunk Kultur.
Die vierte Reaktion
Später am Tag berichteten dann mehrere Zeitungen (z.B. das RND) plötzlich über eine Stellungnahme der ARD-Programmdirektion, die diese diesmal nicht selbst veröffentlicht hatte, sondern den Redaktionen hatte zukommen lassen. Ich habe mir das dann auch noch mal schicken lassen, weil ich stutzte: Am 24. Dezember wird eine Prüfung angekündigt, die am 27. Dezember bereits vollzogen ist?
Es stellte sich heraus, dass gar nicht geprüft worden war. Bei der Prüfung sollte es nie um den Job an sich gehen, nur um die Frage, wie man mit den Vorwürfen umgeht und mit der Community darüber diskutiert.
Die ARD schrieb:
„Die Verkündung, dass Thilo Mischke ab 2025 neben Siham El-Maimouni das ARD-Kulturmagazin „ttt – titel thesen themperamente“ moderieren wird, hat neben viel Zustimmung auch einige kritische Äußerungen hervorgerufen.
Dabei ist uns wichtig: ‚ttt‘ stellt sich gegen jede Form von Sexismus und Rassismus und steht, genauso wie Thilo Mischke, für Meinungsvielfalt und Toleranz. Seit der Veröffentlichung seines Buches ‚In 80 Frauen um die Welt‘ (2010) hat sich Thilo Mischke deshalb u.a. intensiv und selbstkritisch mit Vorwürfen zu Sexismus und rassistischer Sprache in dieser lang zurück liegenden Veröffentlichung, deren Nachdruck er verhindert hat, auseinandergesetzt.
Als vielfach ausgezeichneter Journalist gelingt es Thilo Mischke kraft seiner authentischen Neugier an den drängenden Fragen der Gegenwart, kulturelle Debatten und Fragestellungen einem breiteren und jüngeren Publikum zugänglich zu machen. Damit werden sich Thilo Mischke und Siham El-Maimouni als Moderatoren von ‚ttt‘ 2025 hervorragend ergänzen.“
Doch auch dieses Festhalten war nicht von Dauer.
Der Offene Brief
Am 2. Januar und nachdem die Kritikerinnen und Kritiker im Netz weitere Belege vorgelegt hatten, erschien dann im Tagesspiegel ein offener Brief. Es ist unklar, ob innerhalb der ARD ohnehin weiter über die Personalie gesprochen wurde oder ob der Brief noch mal eine neue Dynamik ausgelöst hat. Am Tag selbst jedenfalls wollte aus der ARD-Programmdirektion niemand mit uns im Deutschlandfunk darüber reden. Für den 3. Januar wurde ein Statement angekündigt.
Die fünfte Reaktion
Das kam dann aber an dem Tag gar nicht. Offenbar zogen sich die Entscheidungsfindung und Verhandlungen auch mit Thilo Mischke länger hin als gedacht. Am 4. Januar berichtete dann die Süddeutsche Zeitung vorab über die Trennung, die dann kurze Zeit später von der ARD-Programmdirektion bestätigt wurde:
Thilo Mischke und ARD erklären gemeinsam: Die Kulturchefinnen und Kulturchefs der an der ARD-Gemeinschaftsproduktion „ttt – titel thesen temperamente“ beteiligten Landesrundfunkanstalten haben entschieden, von Journalist Thilo Mischke als Moderator abzusehen.
Thilo Mischke ist ein anerkannter Journalist und mehrfach preisgekrönter Reporter.Doch die in den vergangenen Tagen entstandene heftige Diskussion um die Personalie Thilo Mischke überschattet die für uns zentralen und relevanten Themen, die wir mit der Sendung und Marke „ttt“ transportieren und gemeinsam mit der Community diskutieren möchten so, dass dies nicht mehr möglich ist. Thilo Mischke und die ARD sind sich einig darin, dass es nun vor allem darum geht, einen weiteren Rufschaden von „ttt“ und Thilo Mischke abzuwenden. Daher haben die Kulturchefinnen und Kulturchefs der ARD-Gemeinschaftsproduktion „ttt – titel thesen temperamente“ heute entschieden, Thilo Mischke nicht mehr im Zusammenhang mit „ttt“ einzusetzen. Thilo Mischke befindet sich in einem noch andauernden Prozess der Auseinandersetzung mit den Ereignissen und wird sich zu gegebener Zeit selbst zur Sache äußern.
Christine Strobl, ARD-Programmdirektorin: „Wir setzen auf einen respektvollen, menschlichen Umgang – das gilt auch bei aller Kritik. Daher haben wir in den vergangenen Tagen viele Gespräche geführt, auch mit Thilo Mischke, den wir schätzen. Diese setzen wir in den nächsten Tagen fort und werden gemeinsam mit Thilo Mischke die Thematik journalistisch aufarbeiten.“
Die Sendung „ttt – titel thesen temperamente“ wird 2025 von Siham El-Maimouni moderiert. „ttt“ wird im wöchentlichen Wechsel von sechs Redaktionen der ARD-Landesrundfunkanstalten verantwortet: BR, hr, MDR, NDR, WDR, rbb.
Die Debatte
Es ist also durchaus nicht so, dass sich die ARD und Thilo Mischke nicht mit Beiträgen an der Debatte beteiligt hätten. Wenngleich man die Stellungnahmen inhaltlich kritisieren kann, etwa dass sie die Kritikpunkte oft nur streiften, darin Versatzstücke aus vorhergehenden Stellungnahmen wiederholt wurden und auch keine konkreten Verweise genannt wurden.
Einen direkten Austausch zwischen Kritisierenden und Kritisierten gab es jedenfalls nicht, auch keine persönliche öffentliche Stellungnahme, nur die hier zitierten schriftlichen Äußerungen.
Mein Eindruck ist: Eine Diskussion wäre möglich gewesen, aber man hätte früh reagieren müssen, was weder die ARD-Programmdirektion noch Thilo Mischke getan haben. (So ähnlich habe ich schon früh kommentiert.) Man kann aber auch nicht darauf wartet, bis eine Diskussion nicht mehr möglich wird, um das dann zu beklagen.
Der Investigativjournalist Thilo Mischke wird doch nicht neuer Moderator des Kulturmagazins „titel thesen temperamente“ im Ersten. Gegen Mischke gab es massive Sexismusvorwürfe, er hatte sich in Büchern und Podcasts abfällig über Frauen geäußert. Die ARD zieht jetzt Konsequenzen und verzichtet auf die Zusammenarbeit mit ihm. Über Gründe und Hintergründe habe ich im Deutschlandfunk berichtet.
Nachtrag, 5.1.: In meinem Beitrag für Deutschlandfunk Kultur habe ich noch etwas mehr über die Vorwürfe berichtet und O-Töne von Thilo Mischke eingebaut.
Jetzt hat sich ein Mitglied des Aufsichtsrates von Axel Springer gemeldet – Martin Varsavsky – und bei X geschrieben, die Initiative dazu sei von ihm ausgegangen – und er habe dann nach Zustimmung von Welt-Chefredakteurin Jennifer Wilton den Gastbeitrag selbst bei Elon Musk bestellt.
Der Springer-Verlag weist darauf hin, dass er sich nicht dazu äußert, wie Beiträge zustande kommen. Aber wenn Beteiligte wie Martin Varsavsky das täten, sei das ihr gutes Recht.
Darüber hätten wir im Deutschlandfunk gerne mit dem neuen Welt-Chefredakteur Jan Philipp Burgard gesprochen, der aber nicht zugesagt hat – wie der Springer-Verlag insgesamt. Stattdessen hat sich der Journalismusprofessor Tanjev Schultz von der Universität Mainz bereit erklärt, mit uns über den Fall zu sprechen. Dabei ging es unter anderem um die Frage, wie weit es mit der Trennung von Redaktion und Verlag her ist, wenn ein Aufsichtsratsmitglied einen Beitrag vermittelt.
Eigentlich soll das Kulturmagazin „titel thesen temperamente“ im Ersten einen neuen Moderator bekommen – und zwar den Investigativjournalisten Thilo Mischke. Er hat für Magazine wie GQ und Vice geschrieben und viel beachtete Dokumentationen für ProSieben produziert.
Gegen Thilo Mischke gibt es aber seit zwei Wochen Vorwürfe u.a. wegen Sexismus. Die ttt-Redaktion hatte an Weihnachten angekündigt, die Vorwürfe zu prüfen; nach Weihnachten erklärte die ARD aber, an Mischke festhalten zu wollen – offenbar unabhängig von dieser Prüfung.
Unterzeichnet haben unter anderem die Publizistin Teresa Bücker, die Schriftsteller Saša Stanišić, Dana Vowinckel, Anne Rabe und Ulrike Draesner, der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der Kabarettist Jess Jochimsen – und auch Simon Sahner, Autor und Lektor. Mit ihm habe ich im Deutschlandfunk über die Forderungen der Initiative gesprochen.
Sahner hatte zuvor bereits auf 54books.de aus seiner Sicht über den Fall geschrieben.
Die ARD-Programmdirektion wollte sich heute nicht zum Offenen Brief und zum Fall Thilo Mischke äußern, hat das aber für Freitag (3. Januar 2025) angekündigt.
Elon Musks Wahlaufruf zugunsten der AfD in der „Welt am Sonntag“ war ein journalistischer Fehler. Trotzdem sollten wir dafür dankbar sein: Der umstrittene Gastbeitrag hat eine Debatte erzeugt, die wir brauchen. Mein Kommentar im Deutschlandfunk.
Die Berichterstattung über das Hamas-Massaker und den Gaza-Krieg stellt Korrespondenten und Korrespondentinnen und Medien seit Monaten vor enorme Herausforderungen. Wann spricht man von Terroristen, wann von einem Krieg? Wo verläuft die Grenze zwischen klarer Sprache und einer über die Sachlichkeit hinausgehenden Bewertung?
Darüber haben bei der Jahreskonferenz des Netzwerks Recherche diskutiert: Holger Stark, stellvertretender Chefredakteur der ZEIT, die Kommunikationswissenschaftlerin Nadia Zaboura und die Filmemacherin und Korrespondentin Hanna Resch (ARD). Es moderiert Pinar Atalay.
Seit einigen Tagen wird in der Medienbranche noch mal über die Correctiv-Berichterstattung über das sogenannte Potsdamer Geheimtreffen diskutiert. Der Medienjournalist Stefan Niggemeier, der Rechtsjournalist Felix Zimmermann und der Journalistenausbilder Christoph Kucklick werfen dem Artikel erhebliche Mängel vor. Correctiv weist das im Kern zurück.
Correctiv-Chefredakteur Justus von Daniels hat darauf unter anderem in einem Post bei LinkedIn reagiert: „Die drei Autoren finden unseren Text doof. Das ist ihr gutes Recht. Aber statt fundierter Kritik ist es eine Vermischung aus Stilkritik, Auseinandersetzung mit den juristischen Folgen und wie andere Medien die Recherche aufgenommen haben.“ (02. August 2024)
Ausführlich hat sich Correctiv als Redaktion am selben Tag auf der eigenen Seite in einer Erklärung geäußert: „Die Kritik der drei Autoren von Übermedien, die unseren Text als unzureichend empfinden, beruht überwiegend auf stilistischen Anmerkungen und der Wahrnehmung anderer Medienberichte über unsere Recherche.“
In Interviews geäußert haben sich Christoph Kucklick und Justus von Daniels (allerdings getrennt) im Medienmagazin von Radio Eins. Der Podcast ist hier zu finden (ggf. muss man etwas herunterscrollen). (03. August 2024)
Die Debatte ist von mehreren Kollegen öffentlich kommentiert worden:
Der Investigativjournalist Daniel Drepper, als Vorsitzender der Journalistenvereinigung „Netzwerk Recherche“ mitverantwortlich für den Leuchtturm-Preis für Correctiv, hat den o.g. Post von Justus von Daniels ebenfalls bei LinkedIn kommentiert.
Ich habe neulich bei Übermedien über mein „Hasswort“ geschrieben – wenngleich ich den Begriff „Hass“ etwas zu stark finde für das Wort „Streit“, um das es ging (aber so heißt nun mal die Rubrik). Unter dem Artikel gibt es auch eine kleine Diskussion darüber.
Die größere allerdings findet bei LinkedIn statt. Dort schreibt SWR-Intendant und ARD-Vorsitzender Kai Gniffke:
Selten habe ich mich in einem Text so wiedergefunden wie im kurzen Artikel „Streit“ von Stefan Fries in Übermedien. (…) Genauso sehe ich es. Und Achtung: Ich nehme uns (SWR/ARD) dabei überhaupt nicht aus. Auch in unseren Nachrichten ist aus meiner Sicht oft von „Streit“ die Rede – warum nicht Begriffe wie Debatte, Diskussion und Diskurs? (…) Klar, mit griffigen O-Tönen garniert und einer gepfefferten „Streit“-Überschrift lässt sich Politikberichterstattung womöglich erfolgreicher verkaufen – und auch das ist ein Wert in einer Zeit, in der viele Menschen Nachrichten grundsätzlich vermeiden (…)
Gniffke spricht in seinem Post aber noch einen anderen Aspekt an, um den es in der Rubrik nicht geht, den ich aber auch für wichtig halte:
Mir erscheint es aber zu einfach, nur danach zu fragen, wer in einem „Streit“ gewonnen oder verloren hat. Klar, mit griffigen O-Tönen garniert und einer gepfefferten „Streit“-Überschrift lässt sich Politikberichterstattung womöglich erfolgreicher verkaufen…
Den Aspekt finde ich viel wichtiger. Denn oft fokussiert sich die Berichterstattung nicht nur auf den Streit an sich, sondern sie beschreibt Politik auch als Spiel von Sieg und Niederlage. Da geht es dann inhaltlich und auch bei der Wortwahl darum, wer sich durchgesetzt hat, wer eine Niederlage erlitten hat, wer zurückstecken musste.
Medien schauen zu viel auf Akteure und zu wenig auf Inhalte
Der Fokus liegt hier also auf den Akteuren, nicht auf den Inhalten. Medien schauen also nicht darauf, ob sich gute Ideen durchgesetzt haben, ob ein kluger Gesetzentwurf durchgekommen ist, ein schlechtes Konzeptpapier verworfen wurde oder ein toller Plan einem Kompromiss zum Opfer gefallen ist. Oder umgekehrt: ob ein schlechter Gesetzentwurf durchgekommen ist oder ein schlechter Plan verworfen wurde.
Sondern sie projizieren die Auseinandersetzung auf die dahinterstehenden Personen. Es geht also um die Frage, ob sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in der Verhandlung über den Bundeshaushalt 2025 durchgesetzt hat, ob die Bundesregierung vor Gericht eine Niederlage erlitten hat oder Bundeskanzler Olaf Scholz in der Auseinandersetzung siegen konnte.
Diese Personalisierung in der Politik ist natürlich nicht neu. Sie ist deshalb aber auch nicht per se so gut, dass wir sie beibehalten sollten. Denn es ärgert mich jedes Mal, wenn ich Nachrichten so formuliert sehe. Wenn die Süddeutsche Zeitung zum Beispiel darüber schreibt, dass Boris Pistorius für sein Bundesverteidigungsministerium nicht so viele Mittel im Haushalt bekommt wie erwünscht, heißt es: „Seine erste Niederlage“. Dabei bekommt (gerade jetzt) fast kein Minister so viel wie er wünscht, weil natürlich alle Ministerien immer mehr anmelden, um das zu bekommen, was sie aus ihrer Sicht brauchen. Inwiefern das eine Niederlage ist, erschließt sich mir nicht. Hätte er besser nichts fordern sollen, um so eine „Niederlage“ zu vermeiden?
Die Debatte um den Haushalt ist dafür überhaupt ein gutes Beispiel, weil es damals viele Schlagzeilen gab, die die Sache in den Kategorien von Sieg und Niederlage dargestellt haben – etwa auch in Bezug auf Bundesfamilienministerin Lisa Paus, wie etwa ntv schrieb:
Wenn politische Auseinandersetzungen darauf verkürzt werden, wer gewinnt oder verliert, leidet die Debatte. Denn letztlich geht es um die Frage, wessen Meinung (oder Gesetzentwurf oder politischer Plan) in konkretes politisches Handeln umgesetzt wird, aus welchem politischen Plan also reale Politik wird. Mit Sieg oder Niederlage hat das aber nichts zu tun.
Ereignisse lassen sich auch ohne diese Kategorie beschreiben
Ein banales Beispiel zum Vergleich: Wenn ich zu Hause mit meinem Partner darüber diskutiere, welches Bild wir an die Wand hängen, wir dazu aber verschiedene Meinungen haben, wie würden wir dann das Ergebnis beurteilen? Entweder wird das Bild aufgehängt, das er bevorzugt, jenes, das ich bevorzuge, es wird ein weiteres Bild gewählt oder gar kein Bild aufgehängt.
Wenn ich aber zum Beispiel nachgebe, weil mir die Frage nicht so wichtig ist oder mein Bild woanders Platz findet, heißt das dann, dass der andere gewonnen hat? Müsste man dann titeln: Niederlage für Stefan? Sieg für Stefans Partner? Würde man Freunden in dieser Art und Weise davon erzählen, wenn sie danach fragen, welches Bild jetzt an der Wand hängt? Geht es nicht oft ohnehin um Kompromisse?
Leider wird Journalismus aber oft so betrieben. Natürlich müssen wir darüber berichten, welches Bild es ist, und wir können auch sagen, wer sich dafür eingesetzt hat und aus welchen Gründen. Aber wir müssen auf den Inhalt schauen und die Situation danach bewerten, welcher Inhalt jetzt dort ist. Also ob das Bild dort sinnvoll hängt, wie es aussieht usw. Und nicht danach, wer es ausgewählt hat und ob das nun ein Sieg oder eine Niederlage für denjenigen ist.
Variante des Horse-Race-Journalismus
Dieser Journalismus, der in Sieg und Niederlage denkt, ist übrigens eine Variante des Horse-Race-Journalismus, über den Michael Borgers und ich zur vergangenen Bundestagswahl 2021 bereits eine längere Sendung im Deutschlandfunk gemacht haben. Im Horse-Race-Journalismus wird Berichterstattung allein an Umfragewerten ausgerichtet und über politische Akteure in Kategorien von Siegern und Verlierern, von Vorsprüngen und Aufholjagden berichtet – analog zu einem Pferderennen.
In diesem Fall dienen externe, scheinbar verlässliche Zahlen als Referenz. Beim Journalismus von Sieg und Niederlage ist der Maßstab, wie viele der politischen Vorstellungen jeder Seite ins Ergebnis eingeflossen sind. Weder im einen noch im anderen Fall wird aber auf die politischen Inhalte geschaut, sondern es werden die politischen Akteure bewertet. Das aber ist kein objektiver inhaltsgetriebener Journalismus, sondern Kommentierung.
Eine Ausnahme möchte ich übrigens machen: Wenn es um Wahlergebnisse geht, kann man natürlich durchaus von Sieg und Niederlage sprechen. Schließlich geht es dabei nicht um einen Wettstreit von Ideen, sondern um eine Verteilung von Macht, die sich eben auch in Prozenten und Mandaten ausdrückt. Wo eine Partei zulegt oder verliert, kann man dann auch aus guten Gründen von Sieg oder Niederlage sprechen.
Berichterstattung nicht an fiktiven Erwartungen ausrichten
Auch wenn Journalisten dabei vorsichtig sein müssen. Denn die Fixierung auf Umfragen führt mittlerweile dazu, dass Parteien nicht nach ihrem Wahlergebnis im Vergleich zur vorherigen Wahl beurteilt werden, sondern danach, wie sie im Vergleich zu den letzten Umfragen abgeschnitten haben. So wurde etwa von einigen Medien der Sieg des Rassemblement National in Frankreich zur Niederlage umgeschrieben, weil die rechtspopulistische Partei zwar zugelegt hatte, aber nicht in dem Maße wie erwartet – oder im zweiten Wahlgang schlechter als im ersten, aber immer noch besser als zuvor. Die ZEIT etwa schrieb von „Niederlage“ und der Spiegel von einem „Sieg gegen die Rechtsextremen“.
Auch bei Gerichtsentscheidungen wird natürlich davon geredet, wer gewonnen und wer verloren hat. Und in mancherlei Hinsicht kann man das sicher auch so berichten. Bei Gerichtsentscheidungen über politische Beschlüsse wird die Sache aber wieder schwieriger, vor allem, wenn es Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind, die ja nicht nur Schwarz und Weiß kennen.
Das Urteil zum Wahlrecht zum Beispiel ist in dieser Hinsicht schon auf den ersten Blick ambivalent, weil eben nicht das gesamte Gesetz verworfen wurde, sondern nur Teile davon. Was andererseits aber auch heißt, dass große Teile des Gesetzes, sogar der eigentliche Kern, vom Gericht ausdrücklich gebilligt worden sind.
Gerichtsurteile sind nicht schwarz und weiß
Die Fokussierung in der anfänglichen Berichterstattung darauf, dass die Entscheidung eine Niederlage für die Ampel-Koalition ist, erweckte dabei teilweise einen irreführenden Eindruck des Tenors des Urteils, wie etwa bei ntv:
So müsste man zumindest vom Sieg einzelner Akteure oder vom Sieg in bestimmten Punkten sprechen, aber so differenziert wird es ja vor allem in Überschriften nicht. Glücklicherweise gab es aber auch Medien wie etwa den Tagesspiegel, die die Sache differenzierter dargestellt haben (vor allem, nachdem sich die Aufregung über das Leak des Urteils gelegt hatte).
Ich plädiere dafür, Politik nicht in den Kategorien von Sieg und Niederlage zu beschreiben und sich weniger auf Akteure zu konzentrieren, sondern mehr auf Inhalte zu schauen.
Schwimmerin Isabel Gose wurde bei Olympia auf ihre Rolle als Ex-Freundin des Gold-Gewinners Lukas Märtens reduziert, anstatt ihre deutsche Rekordleistung zu würdigen. Medienforscher Christoph Bertling ordnet diesen journalistischen Fauxpas ein. Ich habe mit ihm für @mediasres gesprochen.