Welcher Einstieg in einen Artikel zieht Sie mehr an?
Variante 1:
Die Mehrheit der Deutschen lehnt es ab, die deutsche Sprache durch neue Regeln zu ergänzen, die zu einer stärkeren Berücksichtigung unterschiedlicher Geschlechter in der Grammatik führen sollen.
Variante 2:
Die Mehrheit der Deutschen lehnt es ab, die deutsche Sprache zwanghaft zu verweiblichen.
Egal, wie man zum Thema steht, Variante 2 wird die meisten von uns wohl stärker triggern.
Es sind zwei Varianten eines ansonsten weitgehend ähnlichen Textes, den die „Welt am Sonntag“ bereits Anfang Juni veröffentlicht hat. Sie hat Infratest Dimap eine Umfrage durchführen lassen, in der es um die Akzeptanz bestimmter Formen der geschlechtergerechten Sprache geht. Um die scheint es den Zahlen zufolge nicht gut bestellt, aber dazu später mehr.
Online-Fassung polarisiert
Interessant ist, dass sie ihre Ergebnisse in diesen zwei Varianten präsentiert: Die erste ist die Variante für die Print-Ausgabe der „Welt am Sonntag“, die zweite die Online-Fassung.
Die @welt hat zwei Varianten ihres Artikels über geschlechtergerechte Sprache verfasst. Eine gemäßigte Fassung für Print, eine polarisierende für Online. Hier der Einstieg zum Vergleich. pic.twitter.com/tpuO1vkmOO
— Stefan Fries (@stfries) June 2, 2020
Unterschiede gibt es nicht nur beim Einstieg, sondern auch an weiteren Stellen, etwa bei der Überschrift. Im Print heißt es:
Mehrheit der Deutschen lehnt „Gender“-Sprache ab
Online mit Betonung eines anderen Aspekts:
Mehrheit der Frauen will keine Gendersternchen
Im Print lautet der Vorspann:
56 Prozent der Bevölkerung sind gegen Binnen-I und Gendersternchen. Talkmaster Markus Lanz: Solche Formalismen seien „Unfug“. Befürworter dagegen halten die deutsche Sprache für „ausgrenzend“
Online fehlen im Vorspann die Argumente der Befürworter, stattdessen vertritt die Redaktion die Argumente der Gegner:
Eine Umfrage im Auftrag der WELT AM SONNTAG zeigt: Die Mehrheit der Deutschen hält nichts von Binnen-I und Gendersternchen, mit denen politische Aktivisten ihre Mitbürger erziehen wollen. Kritiker sprechen von „Gender-Unfug“.
Online wird im Vorspann die geschlechtergerechte Sprache ausschließlich negativ dargestellt; Formulierungen wie „zwanghafter Verweiblichung“, Erziehung durch politische Aktivisten und „Gender-Unfug“ finden sich dagegen im Print-Artikel nicht. Online fehlt außerdem ein Absatz mit Argumenten für eine geschlechtergerechte Sprache der Schriftstellerin und Übersetzerin Andrea Paluch, der den Print-Artikel ausgewogener macht.
Problematische Fragestellung
Mal davon abgesehen, dass die „Welt am Sonntag“ mit ihrem Artikel gegen den Pressekodex verstößt (Richtlinie 2.1), weil sie die Metadaten der Umfrage nicht veröffentlicht, ist die Interpretation der Ergebnisse nicht von der Umfrage selbst gedeckt. Wie man bei Infratest Dimap nachlesen kann, wurde gefragt:
Nun eine Frage zur geschlechterneutralen Sprache, also der sogenannten Gendersprache. Dafür wird beispielsweise beim ‚Binnen-I‘ nicht von Wählerinnen und Wählern, sondern in einem Wort von ‚WählerInnen‘ gesprochen, d.h. mit kurzer Pause vor dem ‚i‘. Außerdem werden beispielsweise aus den Zuhörern die Zuhörenden. Wie stehen Sie zur Nutzung einer solchen Gendersprache in Presse, Radio und Fernsehen sowie bei öffentlichen Anlässen? Befürworten Sie dies voll und ganz, eher, lehnen Sie dies eher ab oder voll und ganz ab?
Welche Antworten Befragte geben, hängt immer auch von der Wortwahl der Fragestellung ab (und von den Antwortmöglichkeiten, die hier keine neutrale Position zulässt, nur eine Enthaltung). Dabei lässt es sich nicht immer komplett vermeiden, über die Wortwahl eine bestimmte Sicht zu transportieren. Hier wurden „geschlechterneutrale Sprache“ und „Gendersprache“ als Begriffe gewählt; man hätte auch von „geschlechtergerechter Sprache“ reden können und den Begriff „Gendersprache“, der gerade bei ablehnenden Kreisen ein gewisses Triggerpotenzial hat, vermeiden können.
Problematischer finde ich, dass hier einerseits ganz allgemein nach der Verwendung solcher Formen gefragt wird, aber dann nur zwei davon tatsächlich benannt werden, obwohl es sehr viele Varianten geschlechtergerechter Sprache gibt. Ich gehe davon aus, dass, je nachdem, welche Varianten man zur Auswahl stellt, man unterschiedlich viel Zuspruch für die Formen bekommen könnte. Alle über einen Kamm zu scheren, heißt aber, dass die Befragten ihre Meinung anhand einiger der polarisierendsten Varianten äußern sollen, wenngleich sie durchaus einige Formen begrüßen würden.
Zu weitgehende Interpretation
Aber selbst, wenn wir diesen Aspekt außen vor lassen, begeht die „Welt am Sonntag“ m.E. einen Fehler in der Interpretation dieser Ergebnisse. Denn die Frage wurde sehr spezifisch gestellt: nach geschlechterneutraler Sprache im Allgemeinen und zwei Varianten davon im Speziellen. Im Text heißt es aber:
Demnach halten 56 Prozent der Bevölkerung nichts vom „Gendern“ von Begriffen durch ein großes Binnen-I, ein Gendersternchen oder einen Unterstrich in journalistischen und literarischen Texten sowie in politischen Reden.
Dabei wurde nach dem Gendersternchen oder einem Unterstrich überhaupt nicht gefragt, und es ist auch nicht erkennbar, ob den Befragten diese Varianten bekannt waren. Deswegen ist schon der Einstiegssatz (hier zitiert aus Print, nicht zu schweigen von Online, s.o.) eine zu weitgehende Interpretation:
Die Mehrheit der Deutschen lehnt es ab, die deutsche Sprache durch neue Regeln zu ergänzen, die zu einer stärkeren Berücksichtigung unterschiedlicher Geschlechter in der Grammatik führen sollen.
Dabei gibt es durchaus mehr Varianten „geschlechtergerechter Sprache“, mit denen die Befragten vielleicht mehr anfangen könnten, wie ein Blick zum Beispiel auf genderleicht.de zeigt. Neben Doppelformen („Lehrer und Lehrerinnen“) sind das auch neutrale Formen („Team“, „Personal“) oder eine Umformulierung des Satzes.
Die Polemik in der Online-Variante zeigt m.E. aber, worauf es der „Welt am Sonntag“ ankam: eine Verächtlichmachung dieser Varianten der geschlechtergerechten Sprache, gestützt durch eine Umfrage, die das Ergebnis nicht hergibt.
Die Ironie der Gegner
Nebenbei bemerkt: In beiden Texten kommt die Schriftstellerin Monika Maron zu Wort, die so zitiert wird:
Die politische Bereinigung der Sprache ist eine geradezu diktatorische, auf jeden Fall eine ideologische Anmaßung, die nur Leute mit Hoheitsgewalt durchsetzen können: in Behörden, Rathäusern, Universitäten, öffentlich-rechtlichen Sendern
Woher die Hoheitsgewalt in öffentlich-rechtlichen Sendern kommt, erschließt sich mir nicht. Aber die Ironie solcher Äußerungen liegt ja darin, dass Gegner solcher Entwicklungen in der Sprache beklagen, dass andere ihnen angeblich vorschreiben wollen, wie sie zu reden haben. Sie dagegen tun nichts anders: Sie wollen den Befürwortern solcher Entwicklungen vorschreiben, wie sie zu reden haben – auf jeden Fall nicht so.