„Terror“ und das erwartbare Urteil

Wie die Abstimmung zum gestrigen Fernsehfilm „Terror“ im Ersten ausging, war schon vorher klar. Keine kluge Voraussage meinerseits, sondern eine rein statistische Abwägung, haben doch in den vorangegangenen Aufführungen der Theaterfassung im Gesamtschnitt 60 Prozent aller Zuschauer für einen Freispruch des Angeklagten gestimmt. Da die Ergebnisse separat gewertet werden, ist fast noch entscheidender, dass der Angeklagte in 93 Prozent aller Abstimmungen freigesprochen wurde.

Spätestens seit voriger Woche ist viel über den Film und seine juristischen und moralischen Implikationen gesprochen worden. Heute legt ZEIT-Kolumnist und Bundesrichter Thomas Fischer, der sich auch schon im Vorfeld dazu geäußert hat, nochmal nach und schreibt unter anderem:

Ich meine (…), dass Autor, Verlag und Medien ein übles Spiel zu Lasten der Bürger spielen.

Mehr dazu beim Link. Und noch der Verweis auf eine gute Zusammenfassung von Reaktionen heute im Altpapier auf evangelisch.de. Dort schreibt Juliane Wiedemann:

Knapp 87 Prozent der Zuschauer urteilten danach entgegen der derzeitigen Rechtslage, wobei nicht abzusehen ist, ob dieses eindeutige Ergebnis nicht auch durch die technischen Probleme oder die Tatsache zu erklären ist, dass Florian David Fitz seine Uniform so gut stand.

Ein Aspekt, den heute früh auch der Medienwissenschaftler Dietrich Leder im Deutschlandfunk betont hat:

Gestern hat in dem Fernsehfilm, den Lars Kraume sensationell gut inszeniert hat, hat er die Rolle dieses Majors mit Florian David Fitz besetzt, dem alle Herzen zufliegen. Der Verteidiger war Lars Eidinger. Wenn jetzt Eidinger den Soldaten gespielt hätte, wäre ganz sicher die Abstimmung nicht mit 89 aufgelaufen, sondern eher vielleicht mit 65. Das heißt, die Entscheidung ist weniger eine Entscheidung der moralischen oder rechtlichen Bewertung, sondern es ist eine Entscheidung in einer Inszenierung, die auch groß als Staatstheater daherkam – im Hintergrund immer den Reichstag, der so langsam sich verdunkelt und verdämmert – und in einer Argumentation, die vielleicht hochkomplex war und vielleicht an manchen Stellen überkomplex war.

Dem ist wenig hinzuzufügen.

„Terror“: Oliver Berbens beschränkte Bevölkerung

Das Theaterstück „Terror“ des Autors und Strafverteidigers Ferdinand von Schirach stellt eine heikle Frage: Darf der Staat ein Passagierflugzeug mit hunderten Menschen an Bord abschießen, wenn Terroristen drohen, es in ein vollbesetztes Stadion zu steuern?

Eine Frage, die das Bundesverfassungsgericht bereits beantwortet hat: Er darf es nicht – jedenfalls nicht in der Form des Luftsicherheitsgesetzes, das die rot-grüne Bundesregierung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf den Weg brachte. Der Tenor: Indem die an der Tat unbeteiligten Passagiere des Flugzeugs getötet werden, verstoße der Staat gegen die Menschenwürde, die im Grundgesetz garantiert wird.

Allein in Deutschland wurde und wird das Stück bisher an 39 Theatern gespielt. Es ist ein Gerichtsdrama, das den eingangs geschilderten Fall fiktiv durchspielt. Angeklagt ist ein Bundeswehrpilot, der ein entführtes Flugzeug abgeschossen hat, um zu verhindern, dass es in ein Stadion gelenkt wird. Am Ende stimmen die Zuschauer ab, ob der Pilot freigesprochen oder verurteilt wird.

39 Premieren innerhalb eines Jahres – selten war ein Stück erfolgreicher. Kein Wunder, dass der Produzent Oliver Berben daraus auch einen Film machen wollte, der am kommenden Montag gezeigt wird. Auch hier sollen die Zuschauer abstimmen

Anders als bei den Theaterinszenierungen gibt es dagegen jedoch Protest. Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum und der ehemalige Vizepräsident des Bundestags, Burkhard Hirsch, sprachen sich unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dagegen aus, die Zuschauer abstimmen zu lassen. Hirsch sagte dort über von Schirach:

Er verfälscht die Wirklichkeit und macht die Zuschauer zu Richtern in einer Sache, die sie für die Wirklichkeit halten, ohne die eigentliche Konfliktlage erkennen zu können.

Beide kritisieren, dass von Schirach das Stück so dramatisiere, dass den Zuschauern für ihre Entscheidung keine andere Wahl bleibe als die, den Piloten freizusprechen – auch wenn der Autor selbst den Piloten als schuldig bezeichnet hatte. Baum sagt:

Hier wird doch in Wahrheit über das Grundgesetz abgestimmt. Und die Richter sitzen im Wohnzimmer. Und welche Konsequenz soll eine solche Abstimmung haben? Wird dann noch der regionale Vergleich gezogen, wie die Zuschauer in den einzelnen Ländern abstimmen? Was soll daraus hervorgehen? Ich rate Herrn Herres, dem Programmdirektor der ARD: Lassen Sie das!

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verteidigte Produzent Oliver Berben die Abstimmung nach dem Film.

Damit entmündigen Sie den Zuschauer. Ich halte unsere Bevölkerung nicht für so beschränkt. Und den Film zu zeigen, ohne abzustimmen – was ist das denn für eine Idee? Der demokratische Hebel, der da drinsitzt, wird dann rausgenommen. Und was soll denn das dann sein am Ende? Sollen wir dann einfach aufhören?

Wenn Berben sagt, dass er die Bevölkerung nicht für so beschränkt halte, übersieht er, dass es durchaus schon Zahlen gibt. Der Verlag Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH hat die Ergebnisse der Abstimmungen nach allen Theateraufführungen weltweit gesammelt. Demnach gab es in bisher 438 Vorstellungen in Deutschland 411 Freisprüche. In den Worten von Baum und Hirsch also 411 verfassungswidrige Entscheidungen. Insgesamt 85.011 Zuschauer stimmten für einen Freispruch, 57.192 für eine Verurteilung des Piloten. Es ist also einigermaßen vorauszusehen, wie die Fernsehzuschauer abstimmen könnten.

Wer sich die Abstimmungsergebnisse im Gesamtverlauf seit der Uraufführung ansieht, könnte daraus sogar noch weitergehene Schlüsse ziehen. In der Grafik von Kiepenheuer wurde die Gesamtheit an prozentualen Stimmanteilen für einen Freispruch vermerkt. Die Terroranschläge von Paris im November 2015 sind mit einem P markiert, die von Brüssel mit einem B.

(Screenshot: http://terror.theater/cont/results_main/de)
(Screenshot: http://terror.theater/cont/results_main/de)

(Erfasst sind die Abstimmungsergebnisse von 33 Theatern in 6 Ländern im Zeitraum 03.10.2015 bis 10.10.2016.)

Hagen Rether, der Aufklärer

Hagen Rether ist der Mann mit Pferdeschwanz am Klavier. Er tourt seit Jahren mit seinem Programm „Liebe“ durchs Land – ein Programm, das sich ständig ändert, aber den Namen behält. Und alle ein bis zwei Jahre erscheint ein Zwischenstand auf CD. In diesen Tagen: „Liebe 6“ von und mit Hagen Rether.
"Liebe 6" von Hagen Rether (Bild: Random House Audio)
„Liebe 6“ von Hagen Rether (Bild: Random House Audio)

Hagen Rether versteht nichts. Oder wenig. Das macht er als Kunstgriff zur Grundlage seiner Programme. Sein Satz „Ich versteh das nicht“ kommt immer wieder vor. Dabei versteht er ziemlich viel und legt schon mit seinen Fragen mehr offen als manch anderer mit Antworten.

O-Ton 1

Rether deckt mit Vorliebe Widersprüche auf, die zwischen verschiedenen Politikbereichen und Teilen der Gesellschaft bestehen, die selten aber so thematisiert werden. Und er betrachtet die Sache damit zugleich aus einer neuen Perspektive. So sind die vielen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, für Rether wie eine Art Konjunkturprogramm.

O-Ton 2

So setzt Rether einiges ins richtige Verhältnis. Etwa Milliardenausgaben des Staates. So hätten wir über Nacht 480 Milliarden Euro für die Bankenrettung locker gemacht, weil die Banken too big to fail waren. Dabei sei ja eher der Umgang mit den Flüchtlingen too big to fail.

Rether verzichtet meist auf vordergründige Pointen, er arbeitet sich nicht an der Bundeskanzlerin ab oder der SPD, obwohl es so einfach wäre. Er schaut hinter die Fassade der Politik, geht über die Tagespolitik hinaus. Und arbeitet damit im besten Sinne aufklärerisch, wie es der Anspruch eines Kabarettisten sein sollte. Rether geht dabei auch ins Alltägliche.

O-Ton 3

Einfach mal nach Kathmandu, um es gemacht zu haben. Auch Konsumverhalten stellt Rether in Frage. Dabei bedeutet sein Kunstgriff, Unverständnis zu äußern und einfach nur Fragen zu stellen, durchaus nicht, dass er keine Positionen vertritt. Schon in der Auswahl seiner Fragen spiegelt sich sein Zweifeln an den Zuständen. Und manchmal hilft es, sich diese Zustände einfach mal andersherum vorzustellen, die Sachen auf den Kopf zu stellen.

O-Ton 4

Früher hat Rether einige seiner Nummern noch auf dem Klavier begleitet und ihnen damit eine weitere Farbe gegeben. Etwa wenn er bekannte Melodien gespielt hat, die in einem gewissen inneren Widerspruch zum erzählten Text standen. Zumindest in der CD-Fassung spielt er aber nur noch am Schluss ein kurzes Stück. Und behauptet nach fast zwei Stunden auch mal, jetzt aber endlich mit dem Programm anfangen zu wollen. Genauso beiläufig wie diese Vorbemerkungen, die das eigentliche Programm sind, kommt auch Hagen Rether als Person rüber. Und bietet gerade dadurch eine starke Präsenz.

O-Ton 5

Hagen Rethers Programm „Liebe“ – auch das sechste Update auf CD lohnt sich.

Hagen Rether: „Liebe 6“, erschienen bei Random House Audio

 

Anmerkung (20.05.2018): Wegen der Datenschutzgrundverordnung habe ich Widgets, die sich ursprünglich im Text befanden, entfernt.

Der Fall Böhmermann: Mit dem Zweiten sieht man besser

Wer sich Jan Böhmermanns sogenanntes Schmähgedicht gegen den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in seinem gesamten Kontext angesehen hat, dürfte bemerkt haben, dass es Böhmermann nicht wirklich darum ging, Erdogan zu beleidigen. Jedenfalls nicht so, wie er es offensichtlich durch das Gedicht getan hat.

Die Satire ist mehr als das Gedicht. Das Gedicht lässt sich nicht so einfach aus ihr herauslösen und separat behandeln, es ist Teil eines größeren Kunstwerks. Böhmermann und sein Sidekick Ralf Kabelka weisen in einem Dialog ausdrücklich darauf hin, dass es ihnen darum geht, die Grenzen von Satire auszuloten.

Böhmermann: „Also, das Gedicht. Das, was jetzt kommt, das darf man nicht machen?“
Kabelka: „Darf man NICHT machen.“

Das Landgericht Hamburg hat in einer bemerkenswerten Entscheidung Teile des Gedichts verboten, andere jedoch erlaubt, und schreibt dazu:

Diese Grenze sei nach Auffassung der Kammer durch bestimmte Passagen des Gedichts überschritten worden, die schmähend und ehrverletzend seien. Zwar gelte für die Einkleidung eines satirischen Beitrages ein großzügiger Maßstab, dieser berechtige aber nicht zur völligen Missachtung der Rechte des Antragstellers.

Auch das Gericht beschränkte sich in seiner Entscheidung offensichtlich auf das Gedicht. Absurderweise verbot es bestimmte Passagen daraus nicht, was sich in einem lustigen Anhang nachlesen lässt.

(Screenshot: http://justiz.hamburg.de/contentblob/6103298/6b1b7ae264e23809630af9d7716ef2fd/data/schmaehgedicht-jan-boehmermann-pdfanhang.pdf)
(Screenshot: Justiz Hamburg)

Als zweites befasste sich jetzt die Staatsanwaltschaft Mainz mit dem Fall. Sie hat die strafrechtlichen Ermittlungen im Hinblick auf Paragraph 170 Abs. 2 Strafprozessordnung geführt – und sieht den Fall völlig anders. Vor allem sieht sie den gesamten Kontext und nicht nur das Gedicht. Davon zeugt ihr bemerkenswert klares Statement.

Entstehungsgeschichte, aktuelle zeitgeschichtliche Einbindung und die konkrete über das bloße Vortragen des so genannten „Schmähgedichts“ hinausgehende Gestaltung des Beitrages ziehen in Anwendung dieser verfassungsrechtlichen Prinzipien die Verwirklichung des objektiven Straftatbestandes in Zweifel.

Der Anwalt Udo Vetter kommentiert aus juristischer Perspektive:

Sehr deutlich ordnet die Staatsanwaltschaft das Schmähgedicht auch als Kunst ein, weil es eben den wesentlichen Stilelementen der Kunstgattung Satire genügt: Übertreibung, Verzerrung und Verfremdung.

Zum einen kann Erdogan gegen die Entscheidung noch Beschwerde einlegen. Zum anderen läuft noch seine Privatklage gegen Böhmermann, die am 2. November in Hamburg verhandelt werden soll. Ganz aus dem Schneider ist dieser also noch nicht. Immerhin sollte in Hamburg die Chance bestehen, dass das Gericht sich nicht auf das Gedicht beschränkt, sondern sich den ganzen Kontext anschaut. Denn mit dem Zweiten sieht man besser.

Auch wenn die Satire im Moment noch nicht vollständig beim ZDF abrufbar ist – der Deutschlandfunk hat das Gedicht in voller Länge dokumentiert.

„Die Wortwahl wird immer radikaler“, sagt Volker Kauder, meint aber nicht sich

Der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Volker Kauder, beklagt sich im Interview mit dem „Spiegel“ über eine zunehmende Verrohung der Sprache. Er sagte unter anderem:

Wir erleben ein erschreckendes Maß von Anfeindungen gegen unsere Demokratie. Mal sind Politiker die Zielscheibe, mal die Medien, aber eben auch zunehmend unser Staat insgesamt. Die Wortwahl wird immer radikaler und schlägt auch in Gewalt um. Das bereitet mir große Sorgen.

Und weiter:

Wir sind noch längst nicht so weit wie in der Weimarer Republik. Aber auch damals haben sich Worte und Taten immer mehr hochgeschaukelt.

Dabei müsste Kauder bei sich selbst anfangen. Der Schriftsteller Roger Willemsen stellt ihm kein gutes Zeugnis aus. Er hat im Jahr 2013 an allen Sitzungen des Bundestags teilgenommen und den Parlamentsbetrieb beobachtet. In einem Interview im Deutschlandradio Kultur erzählte er:

Der schlimmste Flegel ist Volker Kauder, der Dinge reinruft, die nicht mal einen Ordnungsruf bekommen. Und das ist zum Teil schlimm. Der sagt dann: „Führen Sie doch die Blockwarte wieder ein.“ Also, das ist ein übler Assoziationsraum, der auch zum Teil der Ausputzer oder die Blutgrätsche für Merkel macht. Das heißt, der sagt dann auch, „ja, Friedensnobelpreis für Edward Snowden“ und macht sich über einen Mann lustig, den wir alle viel verdanken, weil diese Aufklärung wir niemals ohne ihn bekommen hätten und der sein Leben mehr oder weniger zu einem Teil der Zivilcourage geopfert hat.

Willemsen kritisierte damals nicht nur Kauder als schlimmsten Zwischenrufer des Bundestags, sondern auch die anderen Abgeordneten und vor allem das Präsidium, das nicht gegen solche Ausfälle vorgehe.

Es ist schlimm, dass der Bundestag an bestimmten Stellen, die Inhumanität bestimmter Standpunkte nicht rigider kenntlich macht. Ich finde nicht, dass jemand einen Parlamentarier als einen Blockwart-Rufenden bezeichnen darf, nur weil der sagt, „ich will eine Kontrolle des Abhörens“, und der dann höhnisch reinruft: „Sie sind doch nur böse, weil Gysis Handy nicht abgehört worden ist“ oder so etwas. Also, das ist einfach eine Verachtung gegenüber unseren Bürgerrechten und ich finde das nicht tolerierbar.

Günther H. Oettinger liest die Zeitung bei Google

Wahlweise EU-Digitalkommissar Günther Oettinger himself oder sein Social-Media-Team liefern sich seit gestern auf Twitter eine interessante Auseinandersetzung mit Netzexperten wie Mario Sixtus.

Wenn das tatsächlich so stimmt und ernst gemeint ist, hat Stefan Niggemeier bei uebermedien.de die Sachkompetenz des Kommissars noch überschätzt, als er dessen Aufruf an die Verleger kritisierte, die eigenen Redaktionen mehr oder weniger an neutraler Berichterstattung über das Leistungsschutzrecht zu hindern.

Oettinger bekommt als EU-Kommissar sicherlich jeden Tag einen Pressespiegel vorgelegt. Auf totem Holz – und das selbst dann, wenn der Pressespiegel digital zusammengestellt worden sein dürfte, wovon auszugehen ist. Dass Oettinger tatsächlich nach Nachrichten googelt und dort nur Überschrift und Anreißer liest, wie die Twitter-Meldungen nahelegen, halte ich für unwahrscheinlich. Was also geht im EU-Digitalkommissariat vor sich?

Nachtrag, 1. Oktober: Markus Reuter schreibt bei netzpolitik.org, dass die Verteidigungsstrategie von Günther Oettinger auf unpassenden Zahlen beruht. Inzwischen haben außerdem Die Zeit und die NZZ Zahlen veröffentlicht, die Oettinger widerlegen sollen. Beide Redaktionen mögen es offenbar, dass Google ihnen Nutzer zuleitet.

Eine unverschämte Frage oder: Was ein Interviewer tun soll

Die CDU-Politikerin Vera Lengsfeld hat sich in ihrem Blog darüber beklagt, dass man „Verfehlungen einzelner Einwanderer nicht auf alle Migranten beziehen“ dürfe, das bei „den Sachsen“ aber tue.

Es geht so weit, dass der Moderator des Deutschlandfunks ein Interview mit der ehemaligen sächsischen Spitzenpolitikerin der Grünen mit der unverschämten Frage eröffnete: „Frau Hermenau, fühlen Sie sich noch wohl in Sachsen?“

Die Frage als unverschämt zu bezeichnen und dem Interviewer damit eine persönliche Positionierung zu unterstellen, greift allerdings zu kurz.

Wer die Frage in dem Interview mit Antje Hermenau von heute morgen im gesamten Zusammenhang betrachtet, den Lengsfeld ausspart, versteht Sinn und Zweck der Frage.

Dirk Müller: Bautzen, Heidenau, Freital, Meißen, Dresden – immer wieder Sachsen und immer wieder auch Dresden. Zwei Sprengstoffanschläge erschüttern einmal mehr die offizielle Weltoffenheit der barocken Stadt an der Elbe. Ein Anschlag galt einer Moschee, der zweite Sprengsatz ging vor dem Internationalen Kongresszentrum der Stadt hoch. Niemand wurde bei der Detonation verletzt. Die Polizei geht von einer ausländerfeindlichen Tat aus, das Ganze wenige Tage, bevor in Dresden der Tag der Deutschen Einheit gefeiert werden soll.

Die Sprengsätze in Dresden – Sachsen und die zunehmende Gewalt – das ist unser Thema jetzt mit der Unternehmerin und Politikberaterin Antje Hermenau, früher Spitzenpolitikerin der Grünen. Guten Morgen nach Dresden.

Antje Hermenau: Guten Morgen! Ich grüße Sie.

Müller: Frau Hermenau, fühlen Sie sich in Sachsen noch wohl?

Hermenau: Natürlich. Ich fühle mich in Sachsen wohl, das ist meine Heimat und es gibt sehr viele interessante Menschen. Natürlich fühle ich mich wohl. Aber ich habe gerade Ihre Anmoderation entnommen, in der Sie sagten, immer wieder Sachsen, dass offensichtlich 15 Bundesländer der Meinung sind, sie haben kein Problem und können zufrieden auf Sachsen blicken, das dieses Problem hat. Ich wäre da vorsichtig. Gerade aus Unternehmersicht glaube ich, dass wir in Gesamtdeutschland ein Problem haben, und das ist eine Melange aus den unaufgearbeiteten Fehlern der letzten Jahrzehnte bei mangelhafter Integration vor allem im Westen Deutschlands und jetzt einer aufschwappenden zornigen Entladung im Osten, weil nicht öffentlich diskutiert wird, was die Zuwanderung bringen soll.

Die Frage wirkt: Hermenau tritt der von Müller geäußerten Meinung entgegen, besonders in Sachsen würden besonders viele Menschen zu Gewalt neigen, indem sie das als gesamtdeutsches Problem bezeichnet. Sie bekommt Gelegenheit, ihre Überzeugung darzulegen. Wie jeder aus persönlichen Diskussionen weiß, ist es um so leichter, sich seine Meinung zu bilden, wenn man sich an denen anderer abarbeiten kann. Müller erfüllt also seine Aufgabe als Interviewer.

In journalistischen Seminaren empfehlen Trainer, möglichst genau die Position des Interviewpartners zu recherchieren. Bei öffentlichen Personen wie Politikern haben sich diese ohnehin schon mal in anderen Zusammenhängen über das Thema oder einem Aspekt dazu geäußert, so dass ihre grundsätzliche Haltung tendenziell ermittelbar ist. Ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, einem Unternehmen, einem Unternehmensverband, einer NGO usw. legt außerdem den Schluss nahe, dass sie ebenfalls deren bekannte politische Positionen vertreten. Dieser Position tritt der Interviewer dann mit einer möglichst kontroversen Gegenmeinung gegenüber – sei es, dass es sich um eine tatsächlich in der Öffentlichkeit geäußerte Position handelt oder lediglich als solche denkbar ist.

Wie wirksam dieses Entgegenhalten von Meinungen ist, lässt sich noch deutlicher als im Fall Hermenau exemplarisch im Interview von Tobias Armbrüster mit Uwe Junge, dem Vorsitzenden der rheinland-pfälzischen AfD, zeigen. Armbrüster gelingt es, Junge durch beharrliches Nachfragen immer wieder auf Ungereimtheiten und Widersprüche in Aussagen von AfD-Politikern zu stoßen, die am Ende dazu führen, dass Junge seine ursprüngliche stark vereinfachende Position aufgibt und eine differenziertere Haltung einnimmt.

Das ist in der Tat ein extremes Beispiel. Denn dass ein Politiker innerhalb eines Interviews so stark umschwenkt wie Junge ist ungewöhnlich – und nicht das Ziel des Interviewers. Seine Aufgabe ist es, die Position seines Interviewpartners verständlich zu machen. Wenn dieser durch kritische Nachfragen zum Schluss gelangt, dass er sie auch vor sich selbst nicht verteidigen kann, ist das ein Erkenntnisgewinn nicht nur für ihn selbst, sondern vor allem für die Hörer.

Das Interview ist für den Deutschen Radiopreis 2016 nominiert worden. Die Jury begründet das unter anderem so:

Dieses kontrovers geführte Interview zeigt, wie sich politische Thesen und Behauptungen durch beharrliches Nachfragen zerlegen und widerlegen lassen. Der Interview-Partner kann seine Behauptungen über den Islam in Deutschland nicht mit Fakten unterfüttern und wird daher zunehmend unsicher. Trotz einiger Versuche des Politikers lässt sich der Interviewer nicht vom eigentlichen Thema des Interviews abbringen und hält Kurs. Ein hörenswerter Schlagabtausch, hoch-politisch und  unterhaltsam zugleich.

Aus der Fragestellung eines Interviewers auf seine persönliche Meinung zu schließen, greift deshalb deutlich zu kurz. Eigentlich sollte das eine erfahrene Politikerin wie Vera Lengsfeld wissen.

Offenlegung: Ich arbeite als freier Mitarbeiter für den Deutschlandfunk.

Live ist live

In Radiokreisen wird immer wieder mal darüber diskutiert, wie wichtig es ist, dass das Programm auch tatsächlich so live ist, wie es verkauft wird. In den „Informationen am Morgen“ im Deutschlandfunk sind die Interviews bis auf wenige Ausnahmen tatsächlich live, wie sich neulich gezeigt hat.

Warum fast jeder Erdenbürger einmal mit Bus und Bahn durch Deutschland fuhr

Seilbahn in Köln
Auch ein Verkehrsmitteln mit Fahrgästen, wird aber nicht gezählt: Seilbahn in Köln. (Foto: Stefan Fries)

Es ist ein Wahnsinn. Im ersten Halbjahr war fast die ganze Welt in Deutschland – zumindest für eine kurze Weile. Nämlich, um eines der öffentlichen Verkehrsmittel in Deutschland zu nutzen.

Im ersten Halbjahr 2016 nutzten in Deutschland nach vorläufigen Ergebnissen über 5,7 Milliarden Fahrgäste den Linienverkehr mit Bussen und Bahnen.

Das schreibt das Statistische Bundesamt. Bei einer Weltbevölkerung von mehr als 7 Milliarden Menschen stellt das dem deutschen ÖPNV ein gutes Zeugnis aus, würde ich sagen. Sogar erstaunlich, dass das noch nicht zu eine Überlastung geführt hat. Einige Medien haben die Meldung des Statistischen Bundesamts ausgewertet und formulieren die Sachlage genauso. Erst im zweiten Satz ihrer Pressemitteilung wird das Amt präziser:

Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, bedeutet dies einen Zuwachs des Fahrgastaufkommens um 2,0 % gegenüber dem ersten Halbjahr 2015. Durchschnittlich legte damit im ersten Halbjahr 2016 jeder Einwohner 70 Fahrten zurück, bundesweit waren dies täglich fast 32 Millionen Fahrten.

Es handelt sich also nicht um 5,7 Milliarden Fahrgäste, sondern um 5,7 Milliarden Fahrten – das sind die erwähnten im Schnitt 70 Fahrten pro Bundesbürger. In dieser Dimension ergibt die Zahl wieder Sinn. Dankenswerterweise gibt das Amt noch einen Hinweis zur Methodik der Zählung:

Im Nahverkehr werden Fahrgäste, die während einer Fahrt zwischen den Verkehrsmitteln eines Unternehmens umsteigen, in die Gesamtzahl nur einmal einbezogen, in die nach Verkehrsmitteln untergliederten Angaben jedoch mehrmals. Als Fahrgäste werden Beförderungsfälle erhoben. Fahren im Berichtszeitraum Personen mehrfach, so werden sie auch mehrfach gezählt.

Diese Differenzierung fließt in der Regel nicht in die Berichterstattung mit ein. Wünschenswert wäre es allerdings, um die unvorstellbare Zahl besser einzuordnen.

Das Raunen als Argument

Die öffentliche Diskussion, wie sie in sozialen Netzwerken auftritt, leidet unter einem Paradox (sicher sogar unter mehreren, aber mir geht es um eines): die Unfähigkeit vieler, zu argumentieren. Wie leicht ist eine Meinungsäußerung, ein Medienbericht, eine Meinung kommentiert, die dann aber nicht argumentativ unterfüttert wird. Und auch auf Nachfrage gibt es keine weiteren Erläuterungen.

Ich nenne es das Raunen als Argument.

Beispielhaft zeigte es sich heute morgen. Da gab die Juristin und Publizistin Liane Bednarz dem Deutschlandfunk ein Interview, in dem sie ihre Position ausführlich darlegte. Man muss damit nicht einverstanden sein, aber man kann sich keiner Diskussion stellen, die ohne Argumente daherkommt. So schrieb der Publizist Hugo Müller-Vogg:

Das ist natürlich eine zulässige Meinungsäußerung. Sie sollte aber argumentativ gestützt werden können. Wenn man das Interview liest oder hört, sehe ich jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür, wie Müller-Vogg zu seiner Schlussfolgerung kommt. Bednarz ruft dazu auf, bewusst mit Sprache umzugehen, und sagt etwa auch:

Ich meine, man kann diese Gedanken ja nicht verbieten. Das soll man auch gar nicht. Aber diskutieren heißt auch, dass man es problematisiert, weil es ja nun tatsächlich auch problematisch ist, und Meinungsfreiheit wirkt in alle Richtungen. Das heißt, die Kritik an dieser Entwicklung ist natürlich auch von der Meinungsfreiheit und der Debatte gedeckt. Das vergessen häufig diejenigen, die diese Vokabeln benutzen und sich sofort, wenn sie kritisiert werden, zensiert fühlen zum Beispiel.

Wo da oder an anderen Stellen im Interview die Forderung nach einer Sprachpolizei – mit diesem Begriff verbinde ich Zensur, wie auch der Hashtag #1984 nahelegt – zu finden ist, erschließt sich mir nicht. Auf entsprechende Nachfragen nicht nur von mir hat Müller-Vogg bisher nicht reagiert. Er zeigte sich vielmehr gereizt davon, dass Bednarz selbst sein Geraune thematisierte.

So bleibt nur ein Raunen stehen. Es wurde etwas gesagt, das laut ihrem Urheber offenbar keinerlei Beleg verlangt. Es ist dies eine Methode, wie sie auch von Pegida-Anhängern oder AfD-Politikern verwendet wird: Man stellt eine Behauptung auf, die die Diskussion prägen wird, weist aber deren Plausibilität nicht nach.

Es ist eine Argumentation, die man in sozialen Netzwerken immer wieder findet, und bei deren Hinterfragung man Formulierungen erntet wie „Ist ja wohl klar, was ich meine“, „Wer das nicht sieht, ist blind“, „Das ist so offensichtlich, dazu muss ich nicht mehr sagen“. Tatsächlich entzieht man sich damit aber einer Auseinandersetzung, obwohl man diese selbst begonnen hat. Auf Kritik reagiert man dünnhäutig. Man pocht auf sein Recht, seine Meinung sagen zu dürfen, und erträgt es dann nicht, dass jemand anderes eben jenes Recht auch wahrnimmt, den anderen zu kritisieren.

Der politischen Auseinandersetzung ist nicht gedient, wenn sie nur durch Raunen geführt wird.

Nachtrag, 22.09., 13.40 Uhr: Mittlerweile hat Hugo Müller-Vogg geantwortet, allerdings nicht auf die von mir gestellte Frage.

Womit er meiner Argumentation einen weiteren Beleg geliefert hat. Danke dafür.

Nachtrag, 26.09., 12.45 Uhr: Das Raunen als Argument hat bei Müller-Vogg offenbar Methode. Mehrere Tweets, die sich auf die Seximusvorwürfe der Berliner CDU-Politikerin Jenna Behrends beziehen, erheben sehr diffuse Vorwürfe, ohne dass zu erkennen ist, was Müller-Vogg damit meint. Er zweifelt ihre Glaubwürdigkeit an, ohne ein Argument zu liefern, wieso er das tut.

Man würde gerne über die Sachlage diskutieren – aber Müller-Vogg zieht es vor, keine Argumente zu liefern. Das scheint seiner Sache mehr zu dienen. Für einen Journalisten keine Glanzleistung.