Es gibt nur eine Wahrheit, wird Journalisten von Nutzern gerne entgegengerufen. Das klingt zunächst einleuchtend. Andererseits können aber durchaus mehrere Wahrheiten nebeneinander existieren, auch wenn sie sich auf den ersten Blick widersprechen. Ausschlaggebend ist, welchen Blickwinkel man wählt – und welchen man dann anschließenden Entscheidungen zugrundelegt.
Kraftfahrzeuge verursachen 96% aller Verkehrsunfälle, schreibt wiederum Schmidt.
Er begründet das so:
Nach Aussagen der Polizei sind Autofahrer und Radfahrer je zur Hälfte für die Unfälle verantwortlich. Dies ist zwar nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit, denn die Zahl bezieht sich auf alle Unfälle mit Fahrradbeteiligung, also z.B. auch Unfälle zwischen Radlern oder Alleinunfälle mit dem Rad. Bei diesen kann per se nur der Radfahrer der Verursacher sein, wenn man mal die wohl häufigste wahre Ursache – die schlechte Kölner Infrastruktur – außer acht lässt. Die ehrlichere Zahl hier ist, dass zwei Drittel der Unfälle zwischen Rad und Kraftfahrzeug vom Kraftfahrzeugführer verursacht werden.
Ein weiteres gutes Beispiel dafür, wie man Statistiken so auslegen kann, wie es einem auch politisch in den Kram passt. Beide Aussagen stimmen, es ist nur eine Frage der Perspektive.
Wer in der Öffentlichkeit eine Position begründen will, zieht gerne Daten und Statistiken heran, die die Position untermauern sollen. Manchmal wird auch klar, dass die Zahlen die Schlussfolgerung gar nicht hergeben.
Bei der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik Anfang der Woche war für jeden was dabei. Bundesinnenminister Thomas de Maizière von der CDU etwa lenkte den Blick auf die Zahl der Zuwanderer unter den Tatverdächtigen, die im vergangenen Jahr um fast 53 Prozent gestiegen sei und sagte:
Da gibt es nichts zu beschönigen, das gilt leider für nahezu alle Deliktbereiche. Und leider – das zeigen die Zahlen – geht der deutliche Anstieg im Bereich der Gewaltdelikte vor allem auf einen Anstieg der durch Zuwanderer verübten Gewaltdelikte zurück.
Mit dieser Zahl lässt sich prima Politik machen, wie etwa der Berliner AfD-Politiker Karsten Woldeit zeigte, der daraufhin pauschal die Abschiebung verurteilter Migranten forderte. Die Gewalttaten den Tätern aufgrund ihrer Herkunft zuzuordnen, greift allerdings zu kurz, denn der Anstieg dieser Zahl könnte auch auf einen statistischen Effekt zurückzuführen sein, sagte der Kriminologe Thomas Feltes im Deutschlandfunk:
Das liegt ganz schlichtweg daran, dass es sich bei den Zuwanderern primär um junge Männer handelt, und das ist die Gruppe, die am meisten Straftaten begeht. Auch bei den sogenannten Biodeutschen oder bei den Einwohnern in Deutschland ist diese Altersgruppe der jungen Männer am höchsten belastet, vier-, fünf- bis achtmal so viel wie andere Altersgruppen, und auch wie Frauen. Deshalb ist es klar, wenn junge Männer nach Deutschland kommen, wäre alles andere ein Wunder, wenn die hier nicht auch straffällig werden würden.
Mit den nackten Zahlen allein kommt man also nicht weit, man muss sie ins Verhältnis setzen – oder so vage formulieren, dass am Ende mehrere Deutungen möglich sind. Das hatte FDP-Chef Christian Lindner getan, als es um die Kriminalität in Nordrhein-Westfalen ging. Die BILD-Zeitung hatte ihn gefragt:
Leben die Menschen in NRW weniger sicher als in anderen Bundesländern?
Woraufhin Lindner antwortete:
Ganz offensichtlich. Die Einbruchskriminalität ist massiv gestiegen, die Aufklärungsquote aber stagniert.
Ganz so einfach kann man es sich aber nicht machen, denn Lindner lieferte – absichtlich oder unabsichtlich – entscheidende Informationen nicht mit: welchen Zeitraum er für seinen Vergleich heranzog – und was er mit dem Begriff Einbruchskriminalität überhaupt meinte.
Anfang März stellte NRW-Innenminister Ralf Jäger die Polizeiliche Kriminalstatistik 2016 vor – und freute sich über den „deutlichen Rückgang“ bei den Wohnungseinbrüchen. Die Zahl der Wohnungseinbrüche ging im vergangenen Jahr um 15,7 Prozent zurück. Von gut 62.000 Fällen in 2015 auf gut 52.000 Fälle in 2016. So steht es in einer Pressemitteilung des Innenministeriums in NRW.
Correctiv bezog sich also auf die Entwicklung von 2015 bis 2016, ohne dass Lindner selbst diesen Zeitraum angegeben hätte. Die Journalisten nahmen sich sicherheitshalber auch noch mal einen längeren Zeitraum vor, und zwar die Zeit von 2012 bis 2016, ohne dass sie begründen warum. Ich vermute, sie haben die laufende Legislaturperiode in Nordrhein-Westfalen als Aufhänger genommen, was durchaus Sinn ergibt, geht es doch in Lindners Aussage darum, die Kriminalitätsentwicklung dem SPD-Politiker Jäger in die Schuhe zu schieben. Das Urteil von Correctiv: Lindners Aussage sei „komplett falsch“.
Auf diesen Zeitraum bezogen: ja. Da Lindner allerdings vage blieb, konnte ihn sein Team bei Twitter verteidigen:
Bezogen auf diese Zeit hatte der FDP-Chef wiederum Recht – die Kriminalität stieg tatsächlich, wie das Bildblog in einem Faktencheck des Faktenchecks herausfand. Doch es ging noch ein wenig weiter: Daraufhin meldete sich der SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrich Kelber aus Bonn bei Twitter und schrieb:
Was sich wiederum die SPD gerne auf ihre Fahnen schreibt.
Schauen wir zum Schluss noch auf die Aufklärungsquote, die sich ebenfalls in der Grafik findet. Auf diese bezogen hatte Christian Lindner im BILD-Interview ja gesagt, diese stagniere. Die Grafik zeigt, dass er dabei keinesfalls denselben Zeitraum (= Bilanz seit Dienstbeginn Jäger) meinen kann, denn in dieser Zeit ist die Quote von 12,9 auf 16,2 Prozent gestiegen. Legt man das zugrunde, hat Lindner tatsächlich Unrecht. Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass er oder sein Team für diese Aussage gerne einen anderen Zeitraum zugrundelegen wollen. Ich habe sicherheitshalber mal nachgefragt:
So oder so: Welche Zahlen relevant sind, muss der Wähler entscheiden – aber er muss wissen, woher genau sie kommen. Was die Beteiligten gerne verschweigen oder vernebeln – im eigenen Interesse. So wirkt es, als würde höchstens einer echte Zahlen nutzen und die anderen lügen. Dabei ist die Wahrheit differenzierter.
Viele der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ sind offenbar von Angst angetrieben – zumindest viele derjenigen, die den Organisatoren folgen. Das ließ sich in den letzten zwei Jahren Äußerungen von Demonstranten entnehmen. Blenden wir einmal aus, dass die Motivation der Organisatoren nicht unbedingt ebenso auf Angst basiert, so sind bestimmte Ängste zumindest bei denen, die ihnen folgen, vorhanden. Ebenso bei den Wählern der AfD.
Dass die Rhetorik von Populisten dieses Schlages in starkem Maße auf Angst setzt, haben Tobias Döll und Anna Orth vorige Woche bei Panorama gezeigt. Sie beziehen sich dabei nicht nur auf vorhandene Ängste, sondern verstärken sie bewusst. Und machen sich dabei einen psychologischen Mechanismus zunutzen, dem sich Menschen nur schwer entziehen können. Sie docken ihre Angstszenarien an verfügbaren Fakten an. Und bedienen damit die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik, die der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann in seinem Standardwerk „Schnelles Denken, langsames Denken“ beschrieben hat. Heuristik beschreibt dabei die Kunst, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit dennoch zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen (Wikipedia).
Menschen greifen unbewusst dann auf diese Heuristik zurück, wenn sie zum Beispiel eine bestimmte Wahrscheinlichkeit abschätzen sollen. In der Diskussion über Ängste wäre das zum Beispiel die Frage, wie wahrscheinlich es ist, bei einem Terroranschlag zum Opfer zu werden. Was Menschen bei so einer Bewertung tun, sei einfach, so Kahnemann (S. 164):
Beispiele der jeweiligen Kategorien werden aus dem Gedächtnis abgerufen, und wenn der Abruf leicht und flüssig ist, wird die Kategorie als groß beurteilt.
Das heißt, es wird nicht die eigentliche Frage beantwortet, die möglicherweise in statistischen Werten angegeben werden könnte oder bei einem Blick auf die Toten durch Terrorismus in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten.
Diese Grafik zeigt etwa, dass in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten nur sehr wenige Menschen bei Terroranschlägen getötet wurden. Aber auch wenn man nicht in die Zukunft schauen kann (so waren die Toten des 11. September 2001 in New York, Washington und Pennsylvania auch nicht vorhersehbar), so lässt sich doch die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden, als eher gering bezeichnen.
Woran denken jedoch Menschen, wenn sie nach ihrer persönlichen Angst in dieser Hinsicht gefragt werden? Sie greifen auf die Verfügbarkeitsheuristik zurück und ersetzen damit eine Frage, die etwa auf der Grundlage solcher statistischer Daten beantworten werden könnte. Kahnemann schreibt (S. 165):
Sie wollen die Größe einer Kategorie oder die Häufigkeit eines Ereignisses abschätzen, aber Sie berichten darüber, wie leicht Ihnen Beispielfälle eingefallen sind.
Das führt dazu, dass etwa in Umfragen zur Terrorwahrscheinlichkeit direkt nach entsprechenden Anschlägen die Wahrscheinlichkeit als höher eingeschätzt wird als vorher, etwa in dieser hier der R+V-Versicherung.
(Ob die Mehrheit der etwa 2.400 Befragten tatsächlich befürchtet, selbst Opfer eines Terroranschlags zu werden, lässt sich hieraus übrigens nicht ablesen. In der Umfrage sollten sie auf einer Skala von 1 bis 7 angeben, wie sehr sie Angst davor haben, dass „terroristische Vereinigungen Anschläge verüben“.)
Kahnemann schreibt, es sei möglich, aber anstrengend, dieser großen Zahl potenzieller Verfügbarkeitsfehler zu widerstehen – etwa mit einer Frage wie (S. 166):
„Ist unsere Einschätzung, dass Diebstähle durch Teenager ein großes Problem sind, nur darauf zurückzuführen, dass es in letzter Zeit in unserem Viertel einige Fälle gegeben hat?“
Es sei sehr anstrengend, vor solchen Verzerrungen auf der Hut zu sein, so Kahnemann, aber die Chance sei manchmal die Mühe wert. Es könnte der aufgeregten Diskussion sicherlich helfen, aber das scheint nicht die Absicht derjenigen zu sein, die diese Ängste für ihre Zwecke ausnutzen. Vereinfachte Darstellungen wie diese hier zeigen dies sehr deutlich:
Dass die Gefahr von Terroranschlägen tatsächlich erhöht sein mag, spielt bei dieser Betrachtung nur eine geringe Rolle. Denn in jedem Fall ist die Angst im Vergleich zur tatsächlichen Gefahr sehr viel stärker gewachsen.
Es sind vor allem die Willkür und die Zufälligkeit der Anschläge, die Angst und Furcht verbreiten.
Aber er hält auch fest, dass das Risiko äußerst gering sei, in Europa wegen eines Amoklaufs oder Terroranschlags zu sterben. Diesen Aspekt betonend, kann man der ungezügelten Angstlust von Populisten etwas entgegenhalten.