Wie Hashtags Wirklichkeit konstruieren

Ursprünglich dienten Hashtags mal dazu, einzelne Beiträge zu einem Thema leichter auffinden zu können. Vor allem bei Twitter spielen sie eine große Rolle. Ihre Verwendung kann aber mitunter kritisch sein, wie mehrere Beispiele aus den letzten Wochen gezeigt haben.

Zwei Tage, nachdem in Berlin ein Lastwagen in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gefahren war, berichteten Medien darüber, dass nach einem Tunesier gefahndet wurde. Sie und andere verwendeten bei Twitter den Hashtag #tunesier. Auch das Bundesinnenministerium schloss sich an – was sofort die Frage aufwarf, ob die Spekulationen in diese Richtung richtig seien. Daraufhin wiegelte das Ministerium ab:

Das heizte Spekulationen nicht nur an, sondern führte auch zu starker Kritik, so dass das Ministerium nur wenig später reagierte.

Damals fand ich die Begründung des Ministeriums einleuchtend. Im Sinne der Auffindbarkeit von Tweets wollte sich das Social-Media-Team in die Diskussion einmischen. Dass sich später herausstellte, dass der gesuchte Tatverdächtige tatsächlich Tunesier war, wirkte dann wie eine Panne. Schwierig zu sagen, ob die Verwendung beabsichtigt war oder versehentlich erfolgte. In jedem Fall konstruierte sie eine Wirklichkeit – ganz gleich, ob diese der Realität entsprach oder nicht.

Nach Silvester macht jetzt ein weiterer Hashtag die Runde, der auf einem von der Kölner Polizei ins Gespräch gebrachten Begriff beruht.

Der Begriff „Nafris“ wird auch jetzt noch bei Twitter kritisiert, aber oft mit dem Hashtag-Zeichen # versehen – und damit zum Schlagwort. Das macht ihn nicht nur leichter auffindbar, sondern legitimiert in gewisser Weise auch seine Verwendung.

Als Miturheber der sprachkritischen Webseite „Floskelwolke“ verweist der Nachrichtenjournalist Udo Stiehl auf die pejorative Konnotation des Begriffs, der aus der Polizeisprache übernommen wurde.

Wenn Journalisten solche Begriffe zum Hashtag machen, sollten sie sich der Wirkung jedenfalls bewusst sein. In der Abwägung gibt es aber unterschiedliche Standpunkte.

 

Ein Flüchtling als Täter? Journalisten müssen dem Subtext widerstehen

In Berlin ist ein Lastwagen in eine Menschenmenge gefahren. Viel mehr als das wissen wir eigentlich nicht. Zwar gehen sowohl Bundesinnenminister Thomas de Maizière als auch das Bundeskriminalamt von einem Anschlag aus. Allerdings wissen die Behörden viel zu wenig, um sich dabei ganz sicher sein zu können.

Sicherlich spricht vieles dafür, etwa der Modus Operandi, den wir aus Nizza kennen. Aber welche Motive den Fahrer, der offensichtlich auf der Flucht ist, angetrieben haben, bleibt offen. Bis dahin sollten wir vorsichtig sein, wie wir über den Fall reden.

Ich erinnere daran, dass nicht nur Journalisten, sondern auch Politiker und eine große Öffentlichkeit schon bei anderen Fällen daneben gelegen haben. Als im Regierungsviertel in Oslo eine Bombe explodierte, fiel der Verdacht schnell auf Islamisten. Es war aber ein Rechtsextremist. Als ein Flugzeug von Germanwings in den französischen Alpen abstürzte, ging man von einem Terroranschlag aus. Es war aber offensichtlich ein Selbstmörder.

Wer sagt, dass es nicht auch in Berlin andere Optionen gibt – überraschende, unerwartete Erkenntnisse?

Das macht die Ereignisse, die Tat nicht weniger schrecklich. Es ist aber wichtig für die Diskussion, die wir danach führen. Denn Konsequenzen können wir nur ziehen, wenn wir wissen, woraus eigentlich.

Wenn CSU-Chef Horst Seehofer eben wegen der Tat in Berlin eine andere Flüchtlings- und Einwanderungspolitik fordert, scheint er mehr über die Tat zu wissen als alle anderen. Wahrscheinlicher ist, dass er die Tat operationalisiert, um seine ohnehin bekannten Positionen erneut ins Gedächtnis zu rufen und durchzusetzen.

Trotz der Kritik daran hat der bayerische Innenminister Joachim Herrmann heute früh noch mal in dieselbe Kerbe geschlagen. Im Deutschlandfunk sagte er, unabhängig von dem Anschlag in Berlin gebe es ein erhöhtes Risiko von islamistischen Anschlägen. In Paris und Brüssel, aber auch bei den Anschlägen in Würzburg und Ansbach habe es sich jeweils um Personen gehandelt, „die im Rahmen des Flüchtlingsstroms nach Deutschland gekommen sind“, betonte Herrmann.

Ich fasse mal zusammen: In Berlin war es kein Flüchtling. Genau deswegen müssen wir die Flüchtlingspolitik ändern.

Journalisten müssen vorsichtig sein, wie sie mit solchen Äußerungen umgehen. Wenn wir sie ohne Einordnung weitergeben, setzen wir damit ein Narrativ in Kraft, das von der Realität nicht gedeckt ist. Wenn wir die AfD zitieren, Bundeskanzlerin Angela Merkel sei wegen ihrer Flüchtlingspolitik für die Tat verantwortlich, erzählen wir im Subtext, die Tat sei von einem Flüchtling begangen worden. Dabei lässt sich das weder mit Gewissheit sagen noch ausschließen. Es dient aber denjenigen, die diese Lesart durchsetzen wollen.

Journalisten können den Wettbewerb mit Social Media nicht gewinnen

Es erscheint paradox: Ausgerechnet bei dem mutmaßlichen Anschlag von Berlin, dem bisher größten in Deutschland in der aktuellen Terrorlage, bleibt die Diskussion in der Öffentlichkeit weitgehend ruhig. Verglichen mit den Anschlägen von Paris, Brüssel und Nizza hält sich die Aufgeregtheit in Grenzen. Dass „die Medien“ diesmal zu spät oder gar nicht reagiert hätten, habe ich als Vorwurf selten gelesen und gehört. Vielleicht, weil viele Redaktionen diesmal tatsächlich schnell auf Sendung und online waren – ganz gleich, was es zu berichten gab.

Genau das ist aber das Problem solch einer Berichterstattung, wie sich in diesem Fall wieder einmal daran gezeigt hat, dass sie sich zu stark auf eine Person konzentriert hat.

Hilfreich ist das nicht.

Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat die Berichterstattung im Deutschlandfunk analysiert. Er sagte, sie besitze eine offene Flanke – Ungewissheit verbunden mit Geschwindigkeitsrausch im digitalen Zeitalter sei eine fatale Kombination. Klassischer Journalismus stehe vor einem Dilemma. Das Publikum treibe ihn in den sozialen Medien, schneller und früher zu berichten – gleichzeitig gehöre es zum Markenkern von Journalismus, Fakten zu vermitteln. „Diesen Geschwindigkeitswettbewerb mit den sozialen Medien kann man gar nicht gewinnen“, sagte Pörksen.

Deswegen sollte man ihn am besten gar nicht erst beginnen. Getrieben dazu fühlen sich Journalisten aber nicht nur von Nutzern in sozialen Netzwerken, sondern auch von den Anbietern selbst.

Patrick Beuth schreibt bei Golem, in Gefahrenlagen wie denen in Berlin aktiviere etwa Facebook einen sogenannten Safety Check. Damit können Nutzer leicht und schnell bekanntgeben, dass sie sich nicht oder nicht mehr in Gefahr befinden.

Anfangs waren nur wenige Facebook-Mitarbeiter in der Lage, den Safety Check auszulösen. Mittlerweile tun das die Nutzer selbst. Stojanow sagt, sobald bestimmte Begriffe wie Feuer, Erdbeben oder auch Anschlag in einer Region so häufig von Facebook-Nutzern gepostet werden, dass sie einen Schwellenwert überschreiten und die entsprechende Nachricht auch von externen Dritten verbreitet wird, denen Facebook vertraut, löse die Funktion automatisch aus.

Damit konstruiert Facebook allerdings eine eigene Realität. So wurde der Safety Check zunächst „Der Anschlag von Berlin“ genannt, lange bevor die Polizei diesen Verdacht bestätigte. Später hieß es „Gewalttat“, dann „Der Vorfall am Weihnachtsmarkt in Berlin“. Safety Check ohne Faktencheck: Die Titel vergeben Facebook-Mitarbeiter und produzieren so Fake-News. Denn Nutzer gehen davon aus, zu den entsprechenden Schlagworten auch Informationen zu finden, was bei seriösen Medien in dieser Schnelligkeit nicht geht. So werfen sie ihnen vor, zu langsam zu sein.

Da hilft es auch nicht, wenn Journalisten mehr und mehr darauf setzen, nicht nur zu sagen, was sie wissen (was lange dauert), sondern auch, was sie nicht wissen (was recht schnell geht). Stefan Niggemeier hat bei Übermedien.de allerdings festgestellt, dass viele unter „Wissen“ jetzt nicht auflisten, was sie nicht wissen, sondern welche Gerüchte sie kennen – was so ziemlich das Gegenteil von Wissen sei. Allerdings sei es in so einer unübersichtlichen Situation wichtig, sich auf Fakten zurückzuziehen:

Hinter der Frage nach dem Umgang mit diesem Format steht ja eine sehr viel größere: In welchem Umfang Medien sich überhaupt auf Spekulationen einlassen sollen. Der Druck aus den digitalen Netzwerken, sofort das zu melden, was vermeintlich auf der Hand liegt, ist riesengroß. Die Lügenpresse-Rufer sahen schon in jeder korrekten Zurückhaltung, im Abwarten von Bestätigungen, einen Beweis, dass die etablierten Medien am liebsten die Wahrheit gar nicht melden wollten („die Wahrheit“, die sie selbst natürlich längst kannten).

Der freie Journalist Michael Hirschler hat bei Twitter gefordert:

Das finde ich problematisch. Denn dieser Wettbewerb läuft unter ungleichen Voraussetzungen. Oft haben sich Gerüchte schon auf ihren Weg durch die sozialen Netzwerke gemacht, während Journalisten immer noch nicht loslaufen können, weil sie erst Informationen recherchieren müssen. Und das braucht Zeit, wie man nicht müde werden kann zu betonen. Insofern ist Lisa Hegemann bei t3n zuzustimmen:

Die Medien sollten nur das berichten, was schon valide ist (…). Der Journalismus kann schnell sein, er muss dann aber auch richtig liegen. Er muss all das, was ungefiltert in unseren Feeds aufschlägt, einordnen und bewerten. Sonst unterscheidet er sich nicht von Facebook oder Twitter.

Den Wettbewerb mit sozialen Netzwerken können Redaktionen nicht gewinnen. Sie sollten sich gar nicht erst darauf einlassen.

Zweite Quelle? Braucht keiner mehr.

Manfred Krug 001

Der Tod des Schauspielers Manfred Krug ist ein gutes Beispiel dafür, wie schnell Informationen heute in der Welt sind, ohne dass sie bestätigt wären. Allein die BILD-Zeitung berichtete zunächst davon. Auf Nachfrage der Nachrichtenagentur EPD weiß selbst das Management von Manfred Krug erst mal nichts dazu zu sagen. Sie schreibt:

Krugs Management konnte die Meldung auf epd-Anfrage zunächst nicht bestätigen.

Trotzdem ist die Nachricht nicht aufzuhalten. In den deutschen Twitter-Trends steigt sie in kürzester Zeit auf Rang 2. Bei Google News finden sich schnell ein Dutzend Berichte, die sich alle auf die Bild-Zeitung berufen. Eigene Recherche? Fehlanzeige.

Gegen 14 Uhr kommen dann erste Bestätigungen. Die Tagesschau beruft sich auf das Management, das zwischenzeitlich offenbar eine Bestätigung einholen konnte. Auch der Mitteldeutsche Rundfunk berichtet unter Berufung auf das Management.

Es bleibt festzuhalten, wie schnell sich so eine Meldung inzwischen verbreitet, ohne dass es eine zweite Quelle gibt – eigentlich ein grundsätzliches Prinzip von Journalisten. Und die tragen zur Verbreitung in gleicher Weise bei wie Nutzer. Das zeigt, wie sehr das Zwei-Quellen-Prinzip mittlerweile geschliffen ist. Journalisten des einen Mediums berufen sich auf die des anderen – und für den Nutzer erscheint allein die Fülle der Meldungen wie eine Bestätigung, auch wenn sich alle auf dieselbe Quelle berufen.

„Terror“ und das erwartbare Urteil

Wie die Abstimmung zum gestrigen Fernsehfilm „Terror“ im Ersten ausging, war schon vorher klar. Keine kluge Voraussage meinerseits, sondern eine rein statistische Abwägung, haben doch in den vorangegangenen Aufführungen der Theaterfassung im Gesamtschnitt 60 Prozent aller Zuschauer für einen Freispruch des Angeklagten gestimmt. Da die Ergebnisse separat gewertet werden, ist fast noch entscheidender, dass der Angeklagte in 93 Prozent aller Abstimmungen freigesprochen wurde.

Spätestens seit voriger Woche ist viel über den Film und seine juristischen und moralischen Implikationen gesprochen worden. Heute legt ZEIT-Kolumnist und Bundesrichter Thomas Fischer, der sich auch schon im Vorfeld dazu geäußert hat, nochmal nach und schreibt unter anderem:

Ich meine (…), dass Autor, Verlag und Medien ein übles Spiel zu Lasten der Bürger spielen.

Mehr dazu beim Link. Und noch der Verweis auf eine gute Zusammenfassung von Reaktionen heute im Altpapier auf evangelisch.de. Dort schreibt Juliane Wiedemann:

Knapp 87 Prozent der Zuschauer urteilten danach entgegen der derzeitigen Rechtslage, wobei nicht abzusehen ist, ob dieses eindeutige Ergebnis nicht auch durch die technischen Probleme oder die Tatsache zu erklären ist, dass Florian David Fitz seine Uniform so gut stand.

Ein Aspekt, den heute früh auch der Medienwissenschaftler Dietrich Leder im Deutschlandfunk betont hat:

Gestern hat in dem Fernsehfilm, den Lars Kraume sensationell gut inszeniert hat, hat er die Rolle dieses Majors mit Florian David Fitz besetzt, dem alle Herzen zufliegen. Der Verteidiger war Lars Eidinger. Wenn jetzt Eidinger den Soldaten gespielt hätte, wäre ganz sicher die Abstimmung nicht mit 89 aufgelaufen, sondern eher vielleicht mit 65. Das heißt, die Entscheidung ist weniger eine Entscheidung der moralischen oder rechtlichen Bewertung, sondern es ist eine Entscheidung in einer Inszenierung, die auch groß als Staatstheater daherkam – im Hintergrund immer den Reichstag, der so langsam sich verdunkelt und verdämmert – und in einer Argumentation, die vielleicht hochkomplex war und vielleicht an manchen Stellen überkomplex war.

Dem ist wenig hinzuzufügen.

Günther H. Oettinger liest die Zeitung bei Google

Wahlweise EU-Digitalkommissar Günther Oettinger himself oder sein Social-Media-Team liefern sich seit gestern auf Twitter eine interessante Auseinandersetzung mit Netzexperten wie Mario Sixtus.

Wenn das tatsächlich so stimmt und ernst gemeint ist, hat Stefan Niggemeier bei uebermedien.de die Sachkompetenz des Kommissars noch überschätzt, als er dessen Aufruf an die Verleger kritisierte, die eigenen Redaktionen mehr oder weniger an neutraler Berichterstattung über das Leistungsschutzrecht zu hindern.

Oettinger bekommt als EU-Kommissar sicherlich jeden Tag einen Pressespiegel vorgelegt. Auf totem Holz – und das selbst dann, wenn der Pressespiegel digital zusammengestellt worden sein dürfte, wovon auszugehen ist. Dass Oettinger tatsächlich nach Nachrichten googelt und dort nur Überschrift und Anreißer liest, wie die Twitter-Meldungen nahelegen, halte ich für unwahrscheinlich. Was also geht im EU-Digitalkommissariat vor sich?

Nachtrag, 1. Oktober: Markus Reuter schreibt bei netzpolitik.org, dass die Verteidigungsstrategie von Günther Oettinger auf unpassenden Zahlen beruht. Inzwischen haben außerdem Die Zeit und die NZZ Zahlen veröffentlicht, die Oettinger widerlegen sollen. Beide Redaktionen mögen es offenbar, dass Google ihnen Nutzer zuleitet.

Live ist live

In Radiokreisen wird immer wieder mal darüber diskutiert, wie wichtig es ist, dass das Programm auch tatsächlich so live ist, wie es verkauft wird. In den „Informationen am Morgen“ im Deutschlandfunk sind die Interviews bis auf wenige Ausnahmen tatsächlich live, wie sich neulich gezeigt hat.

Weniger Ruhm für die Täter – die ersten Medien machen ernst

Es deutet sich ein Umdenken an in der deutschen Medienlandschaft. Nach praktisch jedem Terroranschlag, nach jedem Amoklauf interessierten sich Journalisten fast immer stärker für den Täter als für die Opfer. Das ist verständlich, versucht man doch, seine Motivation herauszufinden, um sein Handeln verstehen zu können. Doch das ist letztlich kontraproduktiv.

Einige Redaktionen haben das verstanden und für ihre Produkte eine Grundsatzentscheidung getroffen.

„Die Zeit“ zum Beispiel hat sich entschieden, den Täter und seine Symbole wie etwa seine Waffen unkenntlich zu machen. Auch wenn ich es noch besser finden würde, sie gar nicht zu zeigen, das heißt auf Fotos besser ganz zu verzichten, ist das ein guter Schritt in die richtige Richtung. Tätern, die Aufmerksamkeit wollen, sollte man diese Öffentlichkeit verweigern. Im Falle von Terroranschlägen wie auch bei Amokläufen geht es nach allem, was wir wissen, ja genau darum. Deswegen hatte ich neulich schon mal dazu aufgerufen, auf Bilder und eine zu große Berichterstattung über die Taten zu verzichten.

Der Kriminologe und Strafrechtler Henning Müller von der Universität Regensburg beschäftigt sich mit Amok und Schulmassakern. Er sagte im Interview mit wdr.de:

„Die Tat ist (…) für Amokläufer und Attentäter die Chance, es bis auf alle Titelseiten zu schaffen und Berühmtheit und Aufmerksamkeit zu erlangen. (…) Diese mediale Aufmerksamkeit wiederum kann Anreiz für andere potenzielle Täter sein, die genau diesen Effekt auch für sich wiederholen oder sogar übertreffen (…) wollen.“

Müller fordert, dass alle seriösen Medien darauf verzichten sollten, Bilder zu zeigen, die den Täter identifizierbar machen. Auch das WDR-Magazin „Aktuelle Stunde“ will deswegen laut seinem Chef Stefan Brandenburg auf solche Bilder verzichten.

Verzichten wollen auch in Frankreich einige Medien, etwa die Tageszeitung „Le Monde“, erläutert die Süddeutsche Zeitung. Und sie will auch kein Propagandamaterial mehr verbreiten. Ähnlich die katholische Tageszeitung „La Croix“ und der Nachrichtenfernsehsender BMFTV. Eine tiefgründige Berichterstattung über das Profil und den Werdegang der Täter verhindere dies nicht, berichtet der Tagesspiegel unter Berufung auf den Sender. Ein wenig Aufmerksamkeit könnte ihm also trotzdem noch zuteil werden, wenn auch nicht mit großen Bildern.

Boulevardblätter wie die „Bild“ und (auch) das Nachrichtenmagazin „Focus“ sind da skrupelloser. Sie bieten dem Attentäter die Bühne, die er braucht – und versprechen das damit indirekt auch seinen Nachahmern. Mit der Veröffentlichung von Bildern sowohl des Selbstmordattentäters von Ansbach als auch des Amokläufers von München hat es die „Bild“ jedenfalls wieder gezeigt. Denn auch wenn man laut schreit, wie schlimm die Propaganda ist, so verbreitet man sie damit doch.

Die B.Z. Berlin hat die Idee nur halbherzig umgesetzt. Sie brachte das Foto des Amokläufers von München zwar nicht auf der Titelseite und rühmte sich stattdessen dafür. Im Innenteil konnte man es jedoch trotzem sehen. Für mich macht das keinen großen Unterschied. Die Erklärung von Chefredakteur Peter Huth bei Meedia:

Wir müssen das, was wir über den Täter wissen, in Wort und Bild, darstellen.

Das überzeugt mich nicht. Wieso muss man? Im Wort, okay. Aber warum im Bild? Selbst wenn der Amokläufer ein Mensch war und keine Bestie, wie Huth ausführt, so geben wir ihm damit am Ende jene Aufmerksamkeit, die er sich (wie andere nach ihm) gewünscht haben mag, die er aber offenbar nur auf diese Weise bekommen konnte. Damit ist der Weg für Nachahmer bereitet. (In der FAZ äußert sich Huth noch mal zu dem Fall.)

Dass das Interesse der Zuschauer für die Berichterstattung ausschlaggebend sein soll, wie mancher Journalist glaubt, enthebt uns Journalisten der Verantwortung. Würden wir ständig danach handeln, was für Zuschauerinteresse hielten (aber nicht wüssten), würden viele Themen nicht ihren Weg in die Medien finden – und viele andere umso mehr.

Allerdings sind Zuschauer auch Bürger dieses Landes, die gleichermaßen ein Interesse an Sicherheit haben. Es liegt also auch in ihrem Interesse, wenn Nachahmer abgeschreckt oder zumindest nicht ermutigt werden. Insofern hat der Kriminologe Müller ganz recht, wenn er sagt:

„Wenn der Täter keinen ‚Ruhm‘ mehr bekommt und kein ’negativer‘ Held wird, dann geben die Medien potenziellen Nachahmern kein zusätzliches Motiv an die Hand.“

Bisher haben nur seriöse Medien angekündigt, keine Bilder des Täters mehr zu zeigen. Wie es andere deutsche Zeitungen im Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger halten, wollte dieser auf Anfrage des Deutschlandfunks nicht kommentieren. Auf solcherlei seriöse Berichterstattung kann so ein Täter wahrscheinlich am ehesten verzichten, solange er im Boulevard und im Fernsehen mit großen Bildern und wenigen Buchstaben rechnen kann. Aber ein Anfang ist gemacht.

Nachtrag, 30. Juli: Kolja Reichert kritisiert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass Medien den Fotos gerade durch das Nichtzeigen einen gewissen Nimbus verleihen.

Nachtrag, 31. Juli: Wibke Becker beschäftigt sich ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit der Nennung des Namens von Attentätern:

Die „damnatio memoriae“ für Attentäter wäre keine Auslöschung der Tat oder der Zeugnisse. Sie wäre eine gemeinschaftliche Verweigerung, einem Täter durch die Namensnennung den Platz in der Geschichte zu schaffen, den er sich selbst durch ein Verbrechen ausgesucht hat.

Weiterführend:

Bitte verfallen Sie in Panik

Eine Aufgabe von Journalisten ist es, auszuwählen, welche Themen relevant sind für ihre Leser, Hörer und Zuschauer. Seit den jüngsten Terroranschlägen zweifle ich aber daran, ob wir das wirklich tun. Denn die Horrormeldungen reißen nicht ab: Orlando, Nizza, Würzburg, Reutlingen, München, Ansbach – Orte, an denen es Gewalttaten gegeben hat. Nicht alle sind journalistisch gleich relevant. Die Tat in Reutlingen etwa ist insofern ein Ausreißer, da es sich dabei laut Polizei um eine Beziehungstat gehandelt hat, also die Relevanz für eine größere Öffentlichkeit über Reutlingen hinaus zweifelhaft ist. Dennoch sind wir Journalisten alle drauf angesprungen, war der Täter in Reutlingen doch ein Flüchtling aus Syrien, der einen Asylantrag gestellt hatte.

Jede Gewalttat weltweit scheinen wir offenbar erst mal als weiteren Anschlag einzustufen, bis das Gegenteil bewiesen ist. Das zeigte sich nicht nur an Reutlingen, sondern auch an Fort Myers in Florida. Dort hatte es eine Schießerei mit zwei Toten gegeben, die zugegebenermaßen an den Anschlag auf einen schwulen Club in Orlando erinnerte, aber nach derzeitigem Stand keinen terroristischen Hintergrund hat. Dennoch klingelten die Eilmeldungen und suggerierten einen solchen Zusammenhang. Denn die Tat fügt sich in das Narrativ dieser Tage ein, dass es überall Terrorismus gibt. Dabei sterben in den USA jedes Jahr mehr als 30.000 Menschen durch Schusswaffen, und die Tat von Fort Myers ist nach derzeitigem Ermittlungsstand wohl nur eine weitere in dieser Reihe. Wäre sie uns wirklich eine Eilmeldung wert, wenn sie nicht nach anderen Taten passiert wäre?

Ich finde, indem Journalisten bei jeder neuen dieser Taten erst mal hyperventilieren, ohne weitere Hintergründe zu kennen, ihn per Eil- oder Pushmeldung in die Welt blasen und ihn damit indirekt in das Narrativ einbauen, bauen sie ein Bedrohungsszenario auf, das mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Selbst wenn innerhalb der Meldungen differenzierter argumentiert wird. Die Relevanz solcher Meldungen – zumindest als Eilmeldung – ist für mich fraglich. Damit verfallen wir in das Narrativ von Terroristen, die Angst und Schrecken verbreiten wollen – und wir Journalisten komplettieren ihre Angstmache mit Taten, die damit nichts zu tun haben.

Nach dem Amoklauf von München: Lieber zurückhaltend berichten?

Eigentlich hatte sich ein Großteil der Journalisten mal darauf geeinigt, wie über Suizide berichtet werden soll. Gegossen wurde das in Richtlinie 8.7 des Pressekodex:

Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.

Der Hauptgrund dafür liegt im sogenannten Werther-Effekt. Demzufolge gehen Wissenschaftler davon aus, dass nach ausführlicher Berichterstattung über einen Suizid Nachahmer angeregt werden. Zahlen belegen das – wie im Fall des Fußballtorwarts Robert Enke, der sich im November 2009 das Leben nahm.

Was aber tut man, wenn die „näheren Begleitumstände“ so gravierende Ausmaße angenommen haben wie am Freitag in München?

Als die ersten Meldungen über Schüsse am Olympia-Einkaufszentrum eingingen, war die Lage völlig unklar. Später am Abend ging die Münchener Polizei von einer „akuten Terrorlage“ aus. Bei einer Pressekonferenz am Samstag sprach Polizeipräsident Hubertus Andrä dann schließlich davon, dass es sich wahrscheinlich um einen Amoklauf gehandelt habe. Ein Kennzeichen vieler Amokläufe ist auch, dass die Täter Öffentlichkeit herstellen wollen; sie enden oft damit, dass sich der Täter selbst tötet und das auch von Anfang an vorhatte. Auch im Fall von München war das so.

Marlene Halser schreibt heute in der taz:

Auswertungen zeigen, dass fast die Hälfte aller Amokläufe innerhalb von zehn Tagen nach einer ausführlichen Berichterstattung über einen anderen Amoklauf geschehen. Ist dieser „Werther-Effekt“ mit Grund für die hohe Schlagzahl an Schreckensereignissen, die wir erleben? Möglich ist das auf jeden Fall.

Damit geraten zwei Interessen in Konflikt: Einerseits sollen Journalisten im Fall eines Selbstmords Zurückhaltung üben, andererseits war die Öffentlichkeit durch den Fall so massiv beeinträchtigt, dass ein berechtigtes Interesse an Information besteht. Folgt man ersterer Maxime, hätte man die Berichterstattung am Samstag sofort auf ein Minimum beschränken müssen, um keine Nachahmer anzuregen.

Dabei gilt das nicht nur für Amokläufer, sondern auch für Terroristen, wie der Politikwissenschaftler Matthias Hermann im Schweizer Tagesanzeiger vorige Woche schrieb:

Längst ist bekannt, dass immer umfänglicher bebilderte terroristische Taten und Amokläufe nur noch mehr Nachahmungstäter auf den Plan rufen. Dazu kommt, dass mit der Bilderflut jeder nächste Täter von seinen Vorgängern lernen kann, ohne selbst vor Ort gewesen zu sein.

Wenn es Amokläufern wie Terroristen um Öffentlichkeit geht – ist es dann nicht die Aufgabe von Journalisten im Dienste der Öffentlichkeit, ihnen diese Medienpräsenz vorzuenthalten? Nur, wenn die Täter wissen, dass sie mit ihrer Tat nichts erreichen, verzichten vielleicht einige von ihnen darauf. Dann könnte man Matern Boeselager folgen, der bei VICE schrieb, die Medien müssten ihre Berichterstattung über Anschläge wie den in Nizza auf ein Minimum zurückfahren und nach kurzer Zeit sofort aufhören zu berichten.

Es ist eine schwierige Abwägung, die zu treffen ist. Wie viele Taten müssen noch folgen, bis wir Journalisten den Zusammenhang so klar sehen, dass wir handeln?

Update, 08.40 Uhr: Hinweis auf Artikel in der taz eingefügt.

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