Beim Deutschlandfunk habe ich darüber geschrieben, welche Konnotationen beim “Wort des Jahres” mitschwingen könnten.
Kategorie: Deutschlandfunk
Die Vertrauenskrise der Medien: Versuche einer Therapie
Minuten später steuerten andere Medien schnell angeblich Details aus Bayreuth teil. Die Kanzlerin sei in der Pause in einem Restaurant vom Stuhl gefallen, sie habe unter dem Tisch gelegen, sie sei – hieß es hier und da in einzelnen Meldungen – minutenlang bewusstlos gewesen. Von einem Kollapsdrama – Zitat – war die Rede, von einem Schockmoment. Mehrere Personen hätten sofort Erste Hilfe geleistet, darunter Bundestagspräsident Norbert Lammert. Usw. Also ich war dabei. Das ist das einzige, was an dieser Meldung zutrifft. Zusammengebrochen ist nicht die Kanzlerin, sondern der Stuhl. Und meine strenge Vermutung ist, wenn wir zwischen Kanzlerstühlen und Kanzlerstürzen wieder etwas sorgfältiger unterscheiden würden, wächst vielleicht auch das Vertrauen in die Veranstaltung.
Für Lammert illustriert diese Geschichte den Alarmismus, den er im Journalismus sieht. Der Bundestagspräsident war als einer von zwei Politikern Gast bei der Konferenz „Formate des Politischen. Medien und Politik im Wandel“, die vom Deutschlandfunk, der Bundespressekonferenz und der Bundeszentrale für politische Bildung ausgerichtet wurde. Die Vertrauenskrise ist in Lammerts Augen hausgemacht – und zwar von Journalisten wie auch von Politikern. Er sieht eine „Neigung, Probleme nicht nur zu entdecken, sondern als die jeweils größten zu behaupten“. Gerade Oppositionspolitiker, aber auch Journalisten sagen dann, die Probleme seien seit langem absehbar gewesen – ob es um die Ukraine gehe, Griechenland oder die Flüchtlinge. „Ich fürchte, das schafft kein Vertrauen, und zwar weder in der Politik noch in den Medien.“
Dabei ist Lammert jemand, der die Sache noch relativ differenziert betrachtet. Auf Pegida-Aufmärschen in Dresden, bei AfD-Demonstrationen in Erfurt und in Kommentarspalten im Internet gibt es deutlich mehr Gegenwind für Journalisten. Das Schlagwort lautet: Lügenpresse.
Woher kommt die Kritik?
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen spricht im Zusammenhang mit diesem Wandel vom Publikum als der „fünften Gewalt“; er spricht von „der neuen Macht des Publikums. Denn vor allem durch das Internet könnten sich Leser, Hörer, Zuschauer heute stärker selbst zu Wort melden und auch die Medien kritisieren. Gezeigt habe sich das etwa im Januar 2014, als ZDF-Talker Markus Lanz die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht befragte und nach Ansicht vieler in eine Ecke zu drängen versuchte. Daraufhin schlossen sich Tausende einer Petition an, die Lanz’ Absetzung forderte. Erfolglos zwar, für Pörksen zeigte sich darin aber „eine neue Macht in der Arena der Gegenwart“.
Auch Margreth Lünenborg, Professorin für Journalistik an der Freien Universität Berlin, beobachtet, dass inzwischen nicht nur die Politik öffentlich kritisiert wird, sondern auch Leistungen und Fehlleistungen im Journalismus. Die Blickwinkel der Redaktionen seien einer öffentlichen Diskussion ausgesetzt.
Medienwissenschaftler Pörksen sieht darin Vor- und Nachteile. Einerseits kreideten Nutzer zurecht falsche Symbolfotos, übertriebene Skandalisierung und Recherchefehler an, andererseits zöge das auch Verschwörungstheoretiker an, die hinter jedem Fehler gleich eine gewollte und womöglich von der Regierung gesteuerte Manipulation sehe. Pörksen sagt: „Es bildet sich eine fünfte Gewalt der vernetzten Vielen. Das mächtig gewordene Publikum.“
Was sind die Ursachen?
Bei der Konferenz waren sich die meisten Teilnehmer einig, dass sich der Journalismus an sich eigentlich wenig verändert habe, dafür aber die Rahmenbedingungen, unter denen Journalisten heute arbeiteten. Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, sagte, der Journalismus sei nicht schlechter, sondern die Leser kritischer geworden. Fehler fielen stärker auf und würden öffentlich gemacht. Roland Tichy, früherer Chefredakteur der Wirtschaftswoche und Vorsitzender der Ludwig-Erhardt-Stiftung, sagte, die einfache Tätigkeit von Journalisten, Nachrichten zusammenzuführen, machten Nutzer heute selbst. Sie würden dann die Arbeit von Journalisten überprüfen und Fehler entdecken.
All das führt dazu, dass Journalisten ihre Gatekeeper-Funktion weitgehend verloren haben, wie auch Ines Pohl konstatierte, frühere Chefredakteurin der Tageszeitung taz und künftige Korrespondentin der Deutschen Welle in Washington. Das Internet macht es heute allen möglich, sich noch mal selbst eine Bundestagssitzung oder eine Pressekonferenz anzuschauen, Pressemitteilungen zu lesen, direkt und schnell mit Abgeordneten in Kontakt zu kommen und die Informationen der Journalisten zu überprüfen. Roland Tichy sieht darin gar einen „Machtverlust im Journalismus“. Es gebe eine sinkende Reichweite durch Zersplitterung der Leserschaft und einen Kompetenzverlust: Denn jeder habe die Nachricht und viele Quellen inklusive Filmen etwa bei YouTube sofort verfügbar.
Bernhard Pörksen spricht von einer „radikalen Demokratisierung der Enthüllungs- und Empörungspraxis“ und nennt dafür drei Elemente:
1. Es gebe neue Enthüller, die für Nachrichten und Aufmerksamkeit sorgten. Neben Journalisten, die ihre Rechercheergebnisse präsentierten, seien das Menschen, die sich über ein Interview ärgerten, es seien Freiheitskämpfer des Arabischen Frühlings, Plagiatsjäger wie die, die die Doktorarbeit des damaligen Bundesverteidigungsministers Theodor zu Guttenberg untersuchten – oder auch einfach eine Schülerin, die Fotos von verkochtem Schulessen macht, ins Netz stellt und Empörung über Schulmensen auslöst.
2. Es gebe neue Tools, die heute allen zur Verfügung stünden. Fast jedes Handy hat heute eine Kamera, man hat Zugang zum Internet, dort gibt es soziale Medien, mit denen man sofort eine große Reichweite erreichen kann.
3. Es gebe neue Organisations- und Vernetzungsmuster. Man bildet Gruppen je nach Bedarf, die sich leicht übers Netz organisieren lassen bzw. sich sogar selbst organisieren. So entsteht zum Beispiel leicht ein gemeinsamer Protest gegen die Nominierung von Xavier Naidoo für den Eurovision Song Contest; der Protest ist nicht organisiert, keiner führt ihn an, aber es können sich viele ganz leicht beteiligen. Pörksen nennt das ein „Konnektiv“ – eine neue Form von Individualität und Gemeinschaft.
Was bedeutet das für die Öffentlichkeit?
Dass sich Nutzer zunehmend kritisch mit dem etablierten Journalismus beschäftigen und sich eigene Gegenöffentlichkeiten schaffen, hat auch Konsequenzen für die politische Diskussion. Pörksen stellte deshalb drei Diagnosen:
1. Im Übergang von Medien- zu Empörungsdemokratie werden zunehmend gespaltene Öffentlichkeiten sichtbar und manifest. Einer Medienempörung steht heute die Publikumsempörung gegenüber, die auseinanderklafften. Während etwa Thilo Sarrazin von Journalisten dämonisiert worden sei, sei er von vielen Bürgern glorifiziert worden. Ähnliches lasse sich beobachten bei der Skandalisierung von zu Guttenberg und Wulff. Beim Gedicht von Günther Grass zu Israel. Bei der Ukraine-Krise. Beim Germanwings-Absturz. Im Umgang mit Flüchtlingen.
2. Die Medienkritik, Medienschelte und Medienverdrossenheit habe gezeigt, dass die Fiktion, es gebe nur eine Öffentlichkeit, endgültig offenbar geworden sei. Früher wurde „die Öffentlichkeit“ durch den Meinungsdiskurs in relativ wenigen Massenmedien dargestellt; heute zeige sich durch die Diversifizierung der Kommunikation, dass es diese eine Öffentlichkeit nie gegeben habe.
3. Es bildet sich eine fünfte Gewalt der vernetzten Vielen. Das mächtig gewordene Publikum.
Welche Konsequenzen ziehen Journalisten?
Bisher offenbar noch keine. Kein Journalist, sei er Mitarbeiter oder Chefredakteur, konnte bei der Konferenz ein umfassendes Konzept anbieten, auf die neue Kritik einzugehen. Der Intendant von Radio Bremen, Jan Metzger, gestand zwar zu, dass Journalisten heute auch mit Hörern einen qualifizierten Dialog über das Programm führen müssten, sagte aber auch: „Das können wir bisher überhaupt nicht.“ Wir sendeten und warteten ab, ob Hörer und Zuschauer reagieren.
Journalistik-Professorin Margreth Lünenborg spricht von einem „emanzipatorischen Element“; sie fordert, Journalisten müssten die sichtbar werdende Skepsis als Form kompetenten Medienwandels begreifen und in journalistische Prozesse integrieren. Journalisten müssten die „spezifische Gemachtheit journalistischer Produktion“ sichtbar machen, auch um die Autorität von Journalismus zu dekonstruieren. Das sollte Bestandteil der Darstellung werden. Journalisten müssten sich vom Gestus des Objektiven und Authentischen abkehren, das reflexive Vermitteln des Making of zum Bestandteil der Berichterstattung machen. Kritik müsse aufgegriffen, ihr vielleicht sogar vorgebeugt werden, Recherchen transparent gemacht, die Quellen und auch die Interessen der Quellen offengelegt werden, unterstreicht auch Thomas Krüger von der Bundeszentrale für politische Bildung.
Eine Möglichkeit wäre es etwa, die Öffentlichkeit stärker einzubeziehen und auch ihre Kompetenzen zu nutzen. Schließlich findet sich bei jedem Thema außerhalb von Redaktionen ein Experte, der es besser weiß als der Journalist. So lasse sich die Kompetenz der Nutzer einbeziehen. Sie können nach Ansicht von Bernhard Pörksen kluge und wichtige Hinweise liefern, auch wenn man Nutzer in Kauf nehmen müsse, die diffamieren und attackieren. Pörksen spricht davon, dass sich die digitale Gesellschaft im besten Fall zu einer „redaktionellen Gesellschaft“ verändert, in der journalistisches Bewusstsein in gutem Sinne zu einem Element der Allgemeinbildung wird.
In der Auseinandersetzung mit Hörern und Lesern sahen viele Teilnehmer der Diskussion auch Grenzen. Nadine Lindner, Landeskorrespondentin des Deutschlandradios für Sachsen, findet ein Eingehen auf Hörer geboten, wenn sie ernsthaft das Interesse erkennen ließen, sich auf Argumente einzulassen. Es gebe aber „Grenzen der Responsivität“, wenn Hörer sich auf keinerlei Diskussion einlassen wollten. Lindner stellte die Frage, inwiefern solche Bürger überhaupt noch für eine echte politische Diskussion erreichbar seien.
Während der Anschläge von Paris wurde in sozialen Netzwerken sehr viel kommentiert, es wurden ungesicherte Informationen weiterverbreitet, etwa über die Zahl der Toten, über die Orte der Angriffe, auch über Solidaritätsbekundungen. Von dem war vieles nicht wahr. Lügen wurden hier also meistens nicht von Journalisten verbreitet, sondern von jedermann. Für Pörksen ist klar: Während sich früher Journalisten fragen mussten, was glaubwürdig ist, was relevant, was veröffentlichungsreif, müssten heute alle beantworten. Und danach handeln.
Der Theaterregisseur und Autor Hans-Werner Kroesinger, der als Beobachter von außen auf die Konferenz eingeladen wurde, sagte, offenbar glaubten Journalisten in solchen Fällen, den Menschen schnell etwas sagen zu müssen. Vielleicht müsse man die Verunsicherung aber aushalten, bis man etwas wisse.
Christina Holtz-Bacha, Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, findet aber auch, dass die Notwendigkeit des professionellen Journalismus vielen nicht klar sei und deutlich gemacht werden müsse. Schließlich nähmen Journalisten den Bürgern Arbeit ab, weil diese mit der Informationsflut nicht umgehen könnten.
Wie kann die Zukunft aussehen?
Einen Vorschlag hat Robert J. Rosenthal gemacht, der Direktor des gemeinnützigen Center for Investigative Reporting aus Kalifornien. Er glaubt nicht, dass etablierte Medien in der Lage sind, grundsätzliche Strukturen zu ändern, und arbeitet deswegen seit 2008 beim CIR. Das recherchiert erst mal unabhängig von Medien Geschichten und bietet sie dann Medien zur Veröffentlichung an. Es seien Recherchen, die aus einer etablierten Redaktion heraus nie angestellt wurden, sagte Rosenthal bei der Konferenz in Berlin.
Wichtig: Die Geschichten würden auf die Zielgruppen ausgerichtet. Weil es zum Beispiel für eine Reportage über einen jungen Gefängnisinsassen keine Bilder gab, wurde ein Comic gezeichnet, der das illustrieren sollte. Eine weitere Recherche wurde in einem Animationsfilm umgesetzt, die Musik steuerte ein Rapper bei und brachte damit diese Inhalte auch bei seinen Fans und Fans von Rapmusik unter.
Auch Rosenthal spricht sich für mehr Transparenz aus: Das CIR veröffentliche nicht nur die Ergebnisse von Recherchen, sondern auch zugrundeliegende Dokumente und Interviews. Das Internet sei dafür hervorragend geeignet.
Zusammenfassung
Dass ein Wandel in den Medien notwendig ist, haben viele Konferenzteilnehmer so gesehen. Über mögliche Fehler in der Berichterstattung der vergangenen Monate und Jahre, die von den Differenziertern unter den „Lügenpresse“-Rufern immer wieder angebracht werden, wurde kaum ein Wort verloren. Die Wissenschaftler waren in ihren Ansätzen radikaler, sie forderten einen stärkeren und schnelleren Wandel. Viele Journalisten taten sich aber im Allgemeinen recht schwer damit, mit der neuen Kritik umzugehen und ihr adäquat zu begegnen.
Fast alle Vorträge und Diskussionsrunden bei der Tagung können Sie hier nachhören, ergänzt durch Video-Interviews mit Teilnehmern.
Über die Konferenz habe ich auch im Gespräch mit der WDR3-Sendung „Resonanzen“ berichtet:Ergänzend die Darstellung von Christoph Sterz für „Markt und Medien“ im Deutschlandfunk.
Paris und die Medien: Warum Journalisten nicht so schnell sind wie die Wirklichkeit
Noch bevor das Ausmaß der Terrorserie von Paris klar wurde, entwickelte sich besonders bei Twitter eine ausufernde Diskussion darüber, warum vor allem die ARD nicht berichtete und stattdessen weiter das Fußball-Länderspiel zwischen Frankreich und Deutschland zeigte.
Der Nachrichtenkollege Udo Stiehl, der während der Ereignisse nicht im Dienst war, hat sich schon in der Nacht seine Gedanken über „eine unerfüllbare Anspruchshaltung“ gemacht. Er gesteht den Kritikern vor allem auf Twitter zu, dass ihr Wunsch nach Berichterstattung plausibel ist, aber nicht wie erwartet erfüllt werden kann.
Weil auch Journalisten nicht an sämtlichen Orten sofort anwesend sind, weil Nachrichten erst recherchiert und dann veröffentlicht werden und weil es nichts mit Journalismus zu tun hat, ob ein Fußballspiel vorzeitig abgepfiffen wird.
Ich kann Udos Beobachtungen nur unterstreichen, auch wenn ich einräumen muss, dass ich, bevor ich in den Dienst kam, ebenfalls über das Programm im Ersten irritiert war. Das lag allerdings nicht daran, dass während des Spiels nicht über die Anschlagsserie berichtet wurde; in jedem anderen Katastrophenfall wird auch zunächst recherchiert, fahren Journalisten an die Orte der Ereignisse, werden Satellitenleitungen gebucht und Moderatoren aktiviert. Der Zuschauer bekommt das aber in der Regel nicht mit, während der „Tatort“ läuft oder die Quizshow.
Das Bizarre war in diesem Fall, dass das Ereignis nebenan passierte und sogar im Stadion hörbar war. Daraus resultierte vermutlich die Vorstellung, die Kameramänner im Stadion könnten mal eben nach draußen laufen und dort Aufnahmen machen. Allerdings ist es weder technisch noch journalistisch so ohne Weiteres möglich, von einer Fußballübertragung auf die sogenannten Elektronische Berichterstattung (EB) umzuschalten. Auch Sportjournalisten sind zwar Journalisten, aber in der Regel weder Experten für Terror noch kennen sie sich an den Orten aus, von denen sie über Fußball berichten. Zumal man ihnen aus Sicherheitsgründen auch nicht zumuten kann, an die Tatorte von laufenden Terrorangriffen zu kommen.
Im Gegensatz zu Udo war ich in der Nacht im Dienst. Für die Online-Seite des Deutschlandfunks habe ich versucht, die Entwicklungen abzubilden. Ich will seine Anmerkungen ergänzen, was ich am Mittag auch schon bei Deutschlandradio Kultur getan habe. Udo fragt:
Was wollen Sie? Gerüchte, unbestätigtes Geschwätz und nicht verifizierte Bilder aus Internet-Streams?
Twitter erweckt den Eindruck, es könnten öffentlich schon viel mehr Details über die Ereignisse bekannt sein als klassische Medien (inklusive deren Online-Ableger) es berichten. Bei Twitter waren in der Tat Augenzeugenberichte zu finden und immer wieder Links zu Periscope-Videos, die gerade live irgendwo in Paris gedreht wurden. Ich habe kurz reingesehen; mehr als Blaulichter auf Straßen in der Nacht waren kaum zu sehen, dennoch gruselte es mich. Auch wenn es Aufgabe von Journalisten ist, zu berichten, so sind wir dennoch keine Plattform für Live-Bilder von Anschlagsorten, an denen sich womöglich noch Terroristen aufhalten. Derlei Bilder verstoßen in mehrfacher Hinsicht gegen journalistische Qualitätsstandards: Die Quelle (Kameramann, Ort, womöglich auch die Zeit) ist nicht verifizierbar, bei Live-Bildern können auch mögliche Opfer ins Bild geraten, die so nicht vor Öffentlichkeit geschützt werden können – nicht auszudenken, dass Terroristen live zu sehen sind, damit eine Plattform bekommen und den Kamermann gefährden. Man darf deswegen Journalisten nicht an Periscope-Videos messen.
Udo Stiehl schreibt weiter:
Welche Vorstellungen haben Sie von unseren Mitteln? An einem späten Freitag Abend sind alle Reaktionen spärlich besetzt, sind die meisten – auch freiberuflichen – Journalisten im Feierabend. Es gibt Alarmketten, um schnellstens Kollegen zu aktivieren, aber auch das braucht ein wenig Zeit. Und die meisten Journalisten müssen nicht einmal angerufen werden, um ihre Arbeit aufzunehmen.
Tatsächlich habe ich den Kollegen im Deutschlandfunk meine Unterstützung angeboten, als deutlich wurde, dass es sich um einen Katastrophenfall handelte. Neben den DLF-Nachrichten wurde auch auf deutschlandfunk.de und über Twitter berichtet, zwischen 0 und 2 Uhr hat der DLF eine zweistündige Sondersendung mit Berichten, Korrespondentengesprächen und Interviews ausgestrahlt. Aber auch das muss erst angeleiert werden. Wir können nicht jederzeit so viele Journalisten vorhalten, wie im Katastrophenfall eingesetzt werden müssen, das wäre finanziell nicht machbar.
Wir leben in einer rasanten Medienzeit, in der jedes mittelmäßige Mobiltelefon in der Lage ist, Bilder zu streamen und Fotos zu verbreiten. Jeder kann in sozialen Medien irgendwelche Dinge verbreiten ohne Quellenangabe, ohne Verifizierung. Und auf sämtlichen Kanälen können Spekulationen stattfinden, ohne dass es Fakten bedarf.
Einige Twitter-Nutzer haben paradoxe Ansprüche: Einerseits lesen sie schnipselweise subjektive Augenzeugenberichte und unbestätigte Gerüchte, hören von unvollständigen und erklärungsbedürftigen Informationen. Einige loben Twitter deshalb als das bessere Medium. Andererseits reicht ihnen das dann allerdings nicht, und sie erwarten von Redaktionen, ihnen daraus eine plausible Berichterstattung zu entwickeln. Zurecht. Allerdings muss man uns Journalisten auch die Zeit geben, die Informationen zu prüfen, einzuordnen und die Ereignisse zu erklären. Wie Udo Stiehl schreibt:
Ohne journalistische Überprüfung, ohne redaktionelle Bearbeitung und ohne intensive Recherche ist das alles nicht mehr als Voyeurismus.
Am Ende darf man nicht vergessen, dass Twitter ein Minderheitenmedium ist. Besonders am Abend schenken viele Menschen Nachrichtenmedien nur noch wenig Aufmerksamkeit. Diejenigen vorschnell und kleckerweise zu bedienen, die ohnehin die Timeline verfolgen, ist nicht unsere Aufgabe. Es geht darum, denjenigen einen Überblick und eine Einordnung zu geben, die diese brauchen. Und das braucht Zeit. Bei allem Verständnis für Ihr Interesse: Haben Sie auch Verständnis für unsere Arbeit.
Nachtrag, 15. November, 19.50 Uhr: Über das Thema habe ich auch im Medienmagazin “Breitband” bei Deutschlandradio Kultur (hier nachhören) und bei “Markt und Medien” im Deutschlandfunk (hier nachhören) gesprochen.
„Das ist ja ein Katz- und Igel-Spiel langsam.“
Das ist ja ein Katz- und Igel-Spiel langsam.
(Der Vorsitzende des NSA-Untersuchungsausschusses im Bundestag, Patrick Sensburg (CDU), im Deutschlandfunk-Interview.)