Journalisten sollten nicht ständig wiederholen, was sie eigentlich anprangern wollen

Es hat etwas Widersprüchliches, wie sich manche öffentlich über Rassismus, Sexismus, Homophobie, Menschenfeindlichkeit allgemein aufregen, während sie sie gleichzeitig weiterverbreiten. Wenn die Empörung über die AfD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Alice Weidel, jetzt auch berechtigt ist und sie sich dagegen wehrt, so hat sie doch ihr Ziel erreicht. Denn das, was sie im Bundestag gesagt hat, wird in der Öffentlichkeit wieder und wieder erwähnt und damit immer weiter verbreitet.

Damit wiederholt sich, was mich schon bei der Berichterstattung über die rassistischen Äußerungen von AfD-Politiker André Poggenburg bei seiner Aschermittwochsrede gestört hat. Nicht nur bei der ersten Empörung und der Kritik daran wurden die ursprünglichen Äußerungen in einem Großteil der Fälle erneut zitiert. Sie erledigen damit genau das, das die AfD möchte:

Erstens werden die Äußerungen damit viel stärker verbreitet als die AfD das selbst auf ihren Kanälen könnte.

Zweitens weisen die AfD-Politiker auf angebliche Missverständnisse und falsche Auslegungen hin, wie jetzt auch wieder Alice Weidel, während sie selbst Falschinformationen über die Rüge verbreitet.

Drittens kann man sich gleich wieder über eine angebliche Einschränkung der Meinungsfreiheit beschweren.

Natürlich ist es wichtig, solche Äußerungen publik zu machen und sie zu zitieren, um sie zu skandalisieren. Aber müssen wir Journalisten das bei jeder weiteren Erwähnung des Falls tun? Reicht es nicht, wenn wir später paraphrasieren oder einordnen? Etwa so:

„Poggenburg hatte sich beim Politischen Aschermittwoch rassistisch geäußert.“

oder

„Weidel war für eine diskriminierende Äußerung von Bundestagspräsident Schäuble zur Ordnung gerufen worden.“

oder

„Bundestagspräsident Schäuble hatte Weidel wegen einer diskriminierenden Äußerung zur Ordnung gerufen.“

Andernfalls drängen wir jedem Nutzer die Äußerungen immer und immer wieder auf – über Tage hinweg – und bedienen das Narrativ der AfD.

Die taz hat das Problem übrigens zumindest für sich gelöst. Sie schreibt heute:

Was genau die AfD-Fraktionsvorsitzende an Hass und Vorurteilen von sich gegegen hat, entnehmen Sie bitte anderen Medien.

Weidel triggert erneut Journalisten

Eigentlich sollte die Masche von AfD-Politikern ja schon bekannt sein. Doch ich gebe zu, dass auch ich mich immer wieder triggern lasse von Äußerungen wie der von Alice Weidel.

Da fordert Weidel indirekt die Ausbürgerung Deniz Yücels, weil er ihr nicht deutsch genug ist, und bemüht mal wieder zwei seiner Texte, die angeblich deutschenfeindlich sind und Thilo Sarrazin beleidigen. Ich finde die Texte selbst nicht gelungen, aber sie sind Satire und vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt. Beides Dinge, die besonders die AfD für sich selbst in Anspruch nimmt, wie gerade wieder André Poggenburg, der die pauschale Beleidigung von Türken als Politsatire bezeichnet hat. Für Yücel wollen sie sie aber nicht gelten lassen.

Als Verteidiger des Grundgesetzes sollte Weidel eigentlich auch wissen, dass das Grundrecht auf Pressefreiheit jeder in Anspruch nehmen kann. Die AfD probiert es ja gerade selber mit ihrem angeblichen Newsroom. Yücel seinen Status als Journalist abzusprechen ist zudem genau das, was auch der türkische Präsident Erdogan macht.

Weidel weiß das natürlich. Aber sie triggert mit ihrer Stellungnahme die AfD-Mitglieder, ihre Wähler und Anhänger mit solchen Begriffen, die gerne gegen den Deutsch-Türken Deniz Yücel austeilen und Thilo Sarrazin gegen Kritik in Schutz nehmen, weil sie sich sicher sein kann, dass sie von den entsprechenden Leuten dafür Zuspruch erhält.

Wie sollten diejenigen damit umgehen, die dem nicht zustimmen? Sollten sie ihr Statement teilen und weiterverbreiten und damit laut drauf hinweisen: Schaut mal, die Weidel – pfui! Tragen sie damit nicht genau zu der Verbreitung bei, die sie sich wünscht? Schließlich kann man nicht davon ausgehen, dass diese Weiterverbreitung genau bei denen ankommt, die diese Haltung ebenfalls ablehnen. Es werden auch immer welche darunter sein, die ihr zustimmen – die das Statement aber nicht gesehen hätte, hätte sie nicht ein Gegner darauf hingewiesen. So geben ausgerechnet ihre Gegner Weidel mehr Öffentlichkeit.

Dieses Problem hat sich diese Woche auch bei den Äußerungen von André Poggenburg gezeigt. Ich habe mir die Rede nicht angesehen, ich habe keinen längeren Artikel darüber gelesen, ich kann aber sofort mindestens einen Begriff nennen, den er dort gesagt hat. Weil der nämlich immer und immer wieder in Artikeln, Beiträgen und Filmen erwähnt wird.

Aber selbst wenn er im Kontext der Empörung, des Dementis, der Abscheu, der Verurteilung daherkommt, wird er immer wieder genannt. Und zahlt damit auf Poggenburgs Absicht ein, seine Haltung weit zu verbreiten.

Ich weiß, dass man sich dem als Journalist kaum entziehen kann, weil ein Beitrag darüber, dass die AfD-Spitze Poggenburg für seine Äußerungen verurteilt hat, auch erwähnen muss, welches die Äußerungen eigentlich waren. Und dass Nutzer, wenn man diese Äußerungen nicht ausdrücklich nennt, erst recht wissen wollen, welches sie waren – und im Netz auch schnell fündig werden. Aber wir spielen damit das Spiel der AfD mit.

Das sieht auch der Politikwissenschaftler Robert Feustel so, der im Interview bei faz.net sagte:

Mit der Aufregung über die Aussagen wird das Thema plaziert – man spricht dann trotzdem, wie jetzt im Fall Poggenburg, über die „Kameltreiber“. Die Begriffe werden weitergetragen, bekommen eine große Reichweite, auch wenn viele, die sie aufgreifen, das tun, um Kritik zu üben. (…) Solche Skandalisierungen bewirken, dass alles, was davor gesagt wurde und nicht ganz so krass war, schnell zum normalen Ausdruck gehört. Indem die Grenzen ständig erweitert werden, werden andere Ausgrenzungen so ein stückweit normalisiert.

Und er plädiert dafür:

Es wäre sicher zielführender, nicht über jedes Stöckchen zu springen, das die AfD einem hinhält. Denn in dem Moment, wo ich eine bestimmte provokante, ausgrenzende Aussage wiederhole, kann ich mich zwar kritisch davon distanzieren, bediene aber trotzdem das Thema und setze es auf die Agenda.

Das ist kein neues Plädoyer. So was schreiben Journalisten auch gerne immer wieder mal, fallen dann aber doch erneut darauf herein, wenn die AfD die Grenzen ein weiteres mal stückweise verschiebt. Und wir helfen dabei.

P.S.: Ich weiß natürlich, dass auch ich Weidel vielleicht zu mehr Öffentlichkeit verhelfe. Aber das auf einer Meta-Ebene zu kritisieren geht nicht ohne.

Nachtrag (19.50 Uhr): Einige Journalisten teilen meine Auffassung. Unter einigen Tweets wird darüber diskutiert.

 

Anmerkung: In Vorbereitung auf die Datenschutzgrundverordnung habe ich Widgets, die sich ursprünglich im Text befanden, entfernt und sie teilweise durch Links ersetzt.

Journalisten erledigen Pressearbeit für AfD

„AfD will eigenen Newsroom starten“

berichtet der Focus am Freitag. Dort heißt es weiter:

Die Bundestagsfraktion der Alternative für Deutschland will ab April ihre Kommunikation im Wesentlichen über einen eigenen „Newsroom“ steuern.

Der Deutschlandfunk formuliert es so:

Die Bundestagsfraktion der Alternative für Deutschland will ab April ihre Kommunikation im Wesentlichen über ein eigenes Nachrichtenbüro steuern.

Die Welt schreibt:

AfD plant Pressearbeit mit Newsroom und Schichtbetrieb

Das klingt danach, als würde die AfD jetzt tatsächlich in Journalismus machen, zumal sie selbst das auch entsprechend ankündigt, wie die Welt weiter schreibt:

Die Arbeitsweise des Newsrooms werde der in journalistischen Redaktionen ähneln. (…) Laut Bericht sollen die Mitarbeiter im Schichtbetrieb rund um die Uhr tätig sein. Drei von ihnen würden sich auf Recherche spezialisieren und Themen ausfindig machen, die laut Weidel „unter den Teppich gekehrt werden, und sie journalistisch sauber für die Öffentlichkeit aufbereiten“.

Das ist natürlich irgendwie auch lustig. Denn die AfD war in ihrer Öffentlichkeits- und Pressearbeit bisher wenig an dem interessiert, was man als „journalistisch sauber“ bezeichnen könnte.

Interessant ist, dass viele Webseiten hier teilweise eins zu eins die Wortwahl der Partei übernehmen und sich damit ihrem Framing ausliefern. Denn mit Journalismus hat die Ausweitung der Pressearbeit der AfD natürlich nichts zu tun. Eine Partei ist gar nicht in der Lage, journalistisch sauber zu arbeiten, denn dann müsste sie einen neutraleren Standpunkt einnehmen und auch die eigene Partei kritisieren können. Damit ist aber nicht zu rechnen.

Der Kommunikationsberater Johannes Hillje hat das am Montag im Deutschlandfunk so formuliert:

Der Begriff wird hier völlig falsch, aber auch bewusst falsch verwendet von der AfD. Der Begriff kommt aus dem Journalismus, eigentlich aus dem amerikanischen Journalismus, hat aber natürlich Einzug mittlerweile in deutsche Medienorganisationsformen auch gefunden. Das sind Räume, wo die neuesten Meldungen verarbeitet und tagesaktuelle Nachrichten produziert werden. Aber was eine politische Partei wie die AfD macht, das ist Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und kein Journalismus. Und deshalb sollten wir der AfD auch nicht den Gefallen tun und diese Erweiterung ihrer PR-Arbeit mit dem journalistischen Etikett Newsroom versehen. Wir sollten diesen Begriff von der AfD schlichtweg nicht übernehmen.

Leider haben das viele Kollegen getan. Ironie der Geschichte, dass sie damit schon genau die Pressearbeit der AfD erledigen, die sie mit ihrem „Journalismus“ erledigt sehen will.

 

Anmerkung: In Vorbereitung auf die Datenschutzgrundverordnung habe ich Widgets, die sich ursprünglich im Text befanden, entfernt und sie teilweise durch Links ersetzt.

Die AfD klein machen

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hat eine Debatte angestoßen, die nach der Bundestagswahl zu erwarten war und die durchaus schon vor der Wahl geführt wurde: Welche Rolle spielen die Medien für den Erfolg der AfD?

Herrmann sagte in der „Berliner Runde“ (zitiert nach DLF):

Joachim Herrmann: Die Hälfte der Sendezeit beschäftigt sich schon wieder nur mit der AfD – die Hälfte der Sendezeit nur mit der AfD.

ZDF-Chefredakteur Peter Frey: Ich wollt grad nach was anderem fragen.

Herrmann: Es ist völlig… Ja, aber das ist ein völliger Unfug, und da kann ich Ihnen nur sagen – und darüber wird in den nächsten Wochen auch noch zu diskutieren sein – in welchem Ausmaß die beiden öffentlich-rechtlichen Sender in den letzten Wochen massiv dazu beigetragen haben, in der Tat nicht die AfD klein zu machen, sondern groß zu machen. In einer Art und Weise der Diskussion, die wirklich völlig fehl am Platze ist.

Neben der berechtigten Kritik von Herrmann ist dabei interessant, dass es ihm womöglich gar nicht darum geht, dass die Sender sich der AfD gegenüber mindestens neutral verhalten. Er findet offenbar sogar, dass die öffentlich-rechtlichen Sender, die er kritisiert, die Aufgabe haben, gegen die AfD zu arbeiten, wenn er sagt, dass die Sender nichts getan haben, um „die AfD klein zu machen“.

Und das ist dann doch ein fragwürdiges Medienverständnis und ein merkwürdiger Anstoß zu dieser Debatte.

Ein Flüchtling als Täter? Journalisten müssen dem Subtext widerstehen

In Berlin ist ein Lastwagen in eine Menschenmenge gefahren. Viel mehr als das wissen wir eigentlich nicht. Zwar gehen sowohl Bundesinnenminister Thomas de Maizière als auch das Bundeskriminalamt von einem Anschlag aus. Allerdings wissen die Behörden viel zu wenig, um sich dabei ganz sicher sein zu können.

Sicherlich spricht vieles dafür, etwa der Modus Operandi, den wir aus Nizza kennen. Aber welche Motive den Fahrer, der offensichtlich auf der Flucht ist, angetrieben haben, bleibt offen. Bis dahin sollten wir vorsichtig sein, wie wir über den Fall reden.

Ich erinnere daran, dass nicht nur Journalisten, sondern auch Politiker und eine große Öffentlichkeit schon bei anderen Fällen daneben gelegen haben. Als im Regierungsviertel in Oslo eine Bombe explodierte, fiel der Verdacht schnell auf Islamisten. Es war aber ein Rechtsextremist. Als ein Flugzeug von Germanwings in den französischen Alpen abstürzte, ging man von einem Terroranschlag aus. Es war aber offensichtlich ein Selbstmörder.

Wer sagt, dass es nicht auch in Berlin andere Optionen gibt – überraschende, unerwartete Erkenntnisse?

Das macht die Ereignisse, die Tat nicht weniger schrecklich. Es ist aber wichtig für die Diskussion, die wir danach führen. Denn Konsequenzen können wir nur ziehen, wenn wir wissen, woraus eigentlich.

Wenn CSU-Chef Horst Seehofer eben wegen der Tat in Berlin eine andere Flüchtlings- und Einwanderungspolitik fordert, scheint er mehr über die Tat zu wissen als alle anderen. Wahrscheinlicher ist, dass er die Tat operationalisiert, um seine ohnehin bekannten Positionen erneut ins Gedächtnis zu rufen und durchzusetzen.

Trotz der Kritik daran hat der bayerische Innenminister Joachim Herrmann heute früh noch mal in dieselbe Kerbe geschlagen. Im Deutschlandfunk sagte er, unabhängig von dem Anschlag in Berlin gebe es ein erhöhtes Risiko von islamistischen Anschlägen. In Paris und Brüssel, aber auch bei den Anschlägen in Würzburg und Ansbach habe es sich jeweils um Personen gehandelt, „die im Rahmen des Flüchtlingsstroms nach Deutschland gekommen sind“, betonte Herrmann.

Ich fasse mal zusammen: In Berlin war es kein Flüchtling. Genau deswegen müssen wir die Flüchtlingspolitik ändern.

Journalisten müssen vorsichtig sein, wie sie mit solchen Äußerungen umgehen. Wenn wir sie ohne Einordnung weitergeben, setzen wir damit ein Narrativ in Kraft, das von der Realität nicht gedeckt ist. Wenn wir die AfD zitieren, Bundeskanzlerin Angela Merkel sei wegen ihrer Flüchtlingspolitik für die Tat verantwortlich, erzählen wir im Subtext, die Tat sei von einem Flüchtling begangen worden. Dabei lässt sich das weder mit Gewissheit sagen noch ausschließen. Es dient aber denjenigen, die diese Lesart durchsetzen wollen.

Das Spiel mit der Terrorangst und warum wir die Gefahr überschätzen

Viele der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ sind offenbar von Angst angetrieben – zumindest viele derjenigen, die den Organisatoren folgen. Das ließ sich in den letzten zwei Jahren Äußerungen von Demonstranten entnehmen. Blenden wir einmal aus, dass die Motivation der Organisatoren nicht unbedingt ebenso auf Angst basiert, so sind bestimmte Ängste zumindest bei denen, die ihnen folgen, vorhanden. Ebenso bei den Wählern der AfD.

Dass die Rhetorik von Populisten dieses Schlages in starkem Maße auf Angst setzt, haben Tobias Döll und Anna Orth vorige Woche bei Panorama gezeigt. Sie beziehen sich dabei nicht nur auf vorhandene Ängste, sondern verstärken sie bewusst. Und machen sich dabei einen psychologischen Mechanismus zunutzen, dem sich Menschen nur schwer entziehen können. Sie docken ihre Angstszenarien an verfügbaren Fakten an. Und bedienen damit die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik, die der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann in seinem Standardwerk „Schnelles Denken, langsames Denken“ beschrieben hat. Heuristik beschreibt dabei die Kunst, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit dennoch zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen (Wikipedia).

Menschen greifen unbewusst dann auf diese Heuristik zurück, wenn sie zum Beispiel eine bestimmte Wahrscheinlichkeit abschätzen sollen. In der Diskussion über Ängste wäre das zum Beispiel die Frage, wie wahrscheinlich es ist, bei einem Terroranschlag zum Opfer zu werden. Was Menschen bei so einer Bewertung tun, sei einfach, so Kahnemann (S. 164):

Beispiele der jeweiligen Kategorien werden aus dem Gedächtnis abgerufen, und wenn der Abruf leicht und flüssig ist, wird die Kategorie als groß beurteilt.

Das heißt, es wird nicht die eigentliche Frage beantwortet, die möglicherweise in statistischen Werten angegeben werden könnte oder bei einem Blick auf die Toten durch Terrorismus in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten.

Infographic: Victims Of Terrorist Attacks In Western Europe | Statista
(You will find more statistics at Statista)

Diese Grafik zeigt etwa, dass in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten nur sehr wenige Menschen bei Terroranschlägen getötet wurden. Aber auch wenn man nicht in die Zukunft schauen kann (so waren die Toten des 11. September 2001 in New York, Washington und Pennsylvania auch nicht vorhersehbar), so lässt sich doch die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden, als eher gering bezeichnen.

Woran denken jedoch Menschen, wenn sie nach ihrer persönlichen Angst in dieser Hinsicht gefragt werden? Sie greifen auf die Verfügbarkeitsheuristik zurück und ersetzen damit eine Frage, die etwa auf der Grundlage solcher statistischer Daten beantworten werden könnte. Kahnemann schreibt (S. 165):

Sie wollen die Größe einer Kategorie oder die Häufigkeit eines Ereignisses abschätzen, aber Sie berichten darüber, wie leicht Ihnen Beispielfälle eingefallen sind.

Das führt dazu, dass etwa in Umfragen zur Terrorwahrscheinlichkeit direkt nach entsprechenden Anschlägen die Wahrscheinlichkeit als höher eingeschätzt wird als vorher, etwa in dieser hier der R+V-Versicherung.

Die Ängste der Deutschen - repräsentative Langzeitstudie (Grafik: R+V-Versicherung, https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen/presseinformation-aengste-der-deutschen-2016)
Die Ängste der Deutschen – repräsentative Langzeitstudie (Grafik: R+V-Versicherung, https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen/presseinformation-aengste-der-deutschen-2016)

(Ob die Mehrheit der etwa 2.400 Befragten tatsächlich befürchtet, selbst Opfer eines Terroranschlags zu werden, lässt sich hieraus übrigens nicht ablesen. In der Umfrage sollten sie auf einer Skala von 1 bis 7 angeben, wie sehr sie Angst davor haben, dass „terroristische Vereinigungen Anschläge verüben“.)

Kahnemann schreibt, es sei möglich, aber anstrengend, dieser großen Zahl potenzieller Verfügbarkeitsfehler zu widerstehen – etwa mit einer Frage wie (S. 166):

„Ist unsere Einschätzung, dass Diebstähle durch Teenager ein großes Problem sind, nur darauf zurückzuführen, dass es in letzter Zeit in unserem Viertel einige Fälle gegeben hat?“

Es sei sehr anstrengend, vor solchen Verzerrungen auf der Hut zu sein, so Kahnemann, aber die Chance sei manchmal die Mühe wert. Es könnte der aufgeregten Diskussion sicherlich helfen, aber das scheint nicht die Absicht derjenigen zu sein, die diese Ängste für ihre Zwecke ausnutzen. Vereinfachte Darstellungen wie diese hier zeigen dies sehr deutlich:

Dass die Gefahr von Terroranschlägen tatsächlich erhöht sein mag, spielt bei dieser Betrachtung nur eine geringe Rolle. Denn in jedem Fall ist die Angst im Vergleich zur tatsächlichen Gefahr sehr viel stärker gewachsen.

Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass es keine monokausale Erklärung gibt. Der Risikoforscher Ortwin Renn schreibt etwa bei zeit.de:

Es sind vor allem die Willkür und die Zufälligkeit der Anschläge, die Angst und Furcht verbreiten.

Aber er hält auch fest, dass das Risiko äußerst gering sei, in Europa wegen eines Amoklaufs oder Terroranschlags zu sterben. Diesen Aspekt betonend, kann man der ungezügelten Angstlust von Populisten etwas entgegenhalten.

#Muenchen und die Verantwortung jedes Einzelnen

Seitdem jeder, der mit Smartphone und Internetverbindung unterwegs ist, jederzeit öffentlich machen kann, was er sieht und erlebt, trägt er und sie auch die Verantwortung dafür. Es ist eine Verantwortung, wie sie lange Zeit lediglich Journalisten hatten, weil sie auch aus technischen Gründen das Monopol auf eine breite Öffentlichkeit hatten. Die Zeiten sind vorbei.

In der Nacht von Freitag auf Samstag habe ich leider nicht viel von dieser Verantwortung gesehen – und die Polizei München auch nicht.

Es ist erst 19.37 Uhr an jenem Abend, als die Pressestelle diesen Tweet absetzt. Etwa zwei Stunden vorher hat das begonnen, was die Polizei mittlerweile einen Amoklauf nennt, auch wenn es zwischenzeitlich nach einem Terrorangriff aussah. Dass dieser Tweet nötig war, hatte man schon die Stunden vorher sehen können. Immer wieder tauchten in meiner Timeline bei Twitter Fotos und Videos vom Tatort auf – und auch vom Polizeieinsatz. Getwittert wurden sie auch von Journalisten.

So veröffentlichte etwa Richard Gutjahr mehrmals im Laufe des Abends Bilder. Eins davon zeigte eine Gruppe von Polizisten, die offenbar vor einem Eingang des Olympia-Einkaufszentrums in München standen. Ein unverantwortliches Bild, hätte es dem Täter doch einen Hinweis geben können, wo die Polizei das Gebäude bereits gesichert hat, und seine Flucht begünstigen können.

Natürlich gibt es ein Interesse der Öffentlichkeit an Berichterstattung. Aber es gibt auch ein Interesse der Öffentlichkeit an Sicherheit – und die sollte vorgehen. Deswegen sollten wir Journalisten uns nicht in Polizeieinsätze einmischen. Das sollte spätestens seit der Geiselnahme von Gladbeck klar sein.

Dass Gutjahr später twitterte, die Bilder seien 30 Minuten zeitversetzt getwittert worden, macht meiner Meinung nach keinen großen Unterschied. Allerdings löschte er später reumütig die Fotos.

Ich halte ihm zugute, dass er innerhalb von wenigen Tagen gleich dreimal in außergewöhnlichen Situationen war, in der sofort journalistische Reflexe anspringen. Die kenne ich auch von mir, auch wenn ich nicht am Tatort bin und aufgrund meiner Jobs in Nachrichten- und Onlineredaktionen von Radiosendern immerhin noch die Möglichkeit für ein wenig mehr Reflexion habe, die am Tatort tatsächlich schwierig zu bekommen ist. Die technischen Möglichkeiten verleiten außerdem dazu, diese auch zu nutzen.

Man muss sich nicht in die sogenannte gute alte Zeit zurückwünschen, in der wir von solchen Einsätzen nicht live, sondern mit vielen Stunden Verzögerung erfahren haben, nicht mit der Ungewissheit, wie die Sache enden würde, sondern mit ihrem Ende. Aber abgesehen von Warnungen der Polizei, zu Hause zu bleiben, sich in Gebäude zu begeben und die Innenstadt zu meiden, sehe ich wenig Nutzen darin, ständig über jeden einzelnen Schritt des Einsatzes haarklein informiert zu werden.

Auch jeden anderen Augenzeugen, auch wenn er nicht Journalist ist, trifft allerdings eine große Verantwortung. Denn die Polizei München bezog sich auch auf die viele hundert anderen Smartphone-Nutzer rund um das Olympia-Einkaufszentrum, die immer wieder möglicherweise auch einsatzrelevante Informationen veröffentlichten. Auch sie tragen eine Verantwortung, sind sich dessen aber offenbar nicht bewusst. Und eine Verantwortung tragen auch diejenigen, die solche Informationen weiterverbreiten. Hinzu kamen falsche Beobachtungen etwa über angebliche Schüsse an anderen Stellen in der Stadt, bewusst veröffentlichte Fakes, die die Tat noch schlimmer erscheinen ließen und deren Ziel wohl ebenfalls das Verbreiten von Angst war, sowie das Schüren von Hass und Vorurteilen etwa durch AfD-Politiker, die noch vor dem Vorliegen von vorläufigen Erkenntnissen über Tat und Täter ihren politischen Nutzen ziehen wollten.

Ich habe mir vorige Woche schon Gedanken dazu gemacht, ob die Flut von Bildern der Öffentlichkeit alles in allem überhaupt noch nutzt. Denn nicht nur behindern sie möglicherweise einen Polizeieinsatz, sondern sie dienen im Falle von Terrorangriffen auch den Interessen der Terroristen, durch die Veröffentlichung Angst und Schrecken zu verbreiten. Daniel Fiene hat deshalb ganz recht, wenn er fordert:

In den letzten Monaten habe ich mich viel mit Periscope, Facebook Live und anderen Diensten beschäftigt. Es sind wunderbare Werkzeuge. In den letzten Tagen sind mir viele Szenarios bewusst geworden, in denen ich sie nicht im Einsatz sehen möchte. Das nehme ich zum Anlass, nicht nur über Live-Video, sondern auch um über normale Fotos und Videos zu reden. Mein Wunsch, an uns Social-Media-Intensivnutzer: Lasst uns in extremen Situationen zurück in den Textmodus wechseln.

Wir werden nicht verhindern können, dass Augenzeugen ihre Beobachtungen in Bildern weitergeben. Aber wir Journalisten können durchaus steuern, wie wir mit diesen Bildern umgehen.

Drei Beispiele für einen fairen journalistischen Umgang mit der AfD

Die AfD weiß, wie sie Schlagzeilen produzieren kann. Und wir Journalisten neigen dazu, ihnen zu folgen. Berichten oder ignorieren? Eine schwierige Abwägung. Einerseits kann man sie kaum ignorieren, weil sie auch außerhalb der journalistischen Berichterstattung auf sich aufmerksam machen; andererseits kann man auch nicht über jedes Stöckchen springen, das sie einem hinhalten. Gestern und heute habe ich drei Beispiele gehört, in denen ein guter Weg für den Umgang mit ihr gefunden wurde.

DLF-Redakteur Dirk Müller hat heute früh in den „Informationen am Morgen“ thematisiert, dass in der Redaktion gestern lange darüber gestritten worden sei, ob man die angebliche Äußerung von AfD-Vizechef Alexander Gauland über Fußballnationalspieler Jérôme Boateng überhaupt thematisieren solle. Am Ende habe man sich dafür entschieden, zu berichten und ein Interview zu führen. Herausgekommen ist ein hervorragender Weiterdreh des Themas. Der Gesprächspartner Wolfram Eilenberger, Philosoph und Chefredakteur des Philosophie-Magazins, hat die Diskussion nämlich ausgehend von dieser Äußerung auf einen anderen interessanten Punkt gelenkt: Er nannte die „integrative Kraft des Sports“, die immer beschworen werde, einen Mythos. Außerhalb des Fußballs seien nämlich in fast alle anderen Nationalmannschaften längst nicht so viele Migranten wie im Fußball. Eine gute Entscheidung, wie man ein solches Thema anfassen und weiterdrehen kann. Zumal Eilenberger im Interview darauf hinweist, dass die Art und Weise, in der die Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Gaulands Äußerung kolportiert haben, fragwürdig ist, und damit zugleich Journalismuskritik äußert, die die Diskussion darüber auch auf eine Metaebene hebt.

Auch Sabine Henkels Herangehensweise hat mich beeindruckt: Prägnant und ungewöhnlich mutig, wie WDR5 das Thema mit diesem Kommentar heute früh behandelt und damit auch klassische Formatvorgaben über Bord geworfen hat. Der Kommentar lief auch bei WDR2 – mit relativ umfassender Anmoderation. Natürlich ist das nicht die richtige Herangehensweise für jede Äußerung von AfD-Politikern, aber angesichts der schwierigen Faktenlage in diesem Fall finde ich es gerechtfertigt.

Schon gestern sendete der Deutschlandfunk das „Interview der Woche“ mit AfD-Chefin Frauke Petry. Der Leiter des Hauptstadtstudios, Stephan Detjen, hat dabei eine ganz einfache Taktik angewendet: Er war auf Inhalte aus, nicht darauf, Petry um jeden Preis zu entlarven.

So deckte Detjen zum Beispiel den Widerspruch auf, dass Petry einerseits Differenzierung einfordert, wenn es um die Beurteilung ihrer eigenen Partei geht, auf der anderen Seite aber jede Differenzierung vermissen lässt, wenn es um die Beurteilung des Zentralrats der Muslime geht.

Detjen: Man muss nochmal sagen: Also, eine Partei, die sich in ihr Programm schreibt, eine Religionsgemeinschaft, der in Deutschland knapp vier Millionen Menschen angehören, gehöre nicht hierher, die muss sich doch mit dem Vorwurf konfrontieren lassen, diese Gruppe pauschal ausgrenzen zu wollen. Und das hat es in der Bundesrepublik jedenfalls noch nicht gegeben.

Petry: Na, Herr Detjen, ich glaube, da trauen wir uns beiden doch ein bisschen mehr Differenzierungsmöglichkeiten zu. Wir grenzen niemanden aus, aber wir machen in unserem Programm ganz klar, dass der Islam in seinen wesentlichen Ausprägungen, wie sie nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit in allen muslimischen Ländern geprägt werden, große, große Diskrepanzen zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufweist.

Wer die Rechte der Frau nach wie vor nicht umsetzt, wer die Intoleranz gegenüber religiösen, ethnischen und sexuellen Minderheiten zum Programm hat, wer Polygamie befürwortet, den deutschen Staat dafür sogar in die Pflicht nimmt, der muss sich vorwerfen lassen, dass er zumindest über diese Probleme diskutiert. Und …

Detjen: Frau Petry …

Petry: Warten Sie ganz kurz.

Detjen: Ja.

Petry: … die Differenzierung, die der Zentralrat ja überhaupt nicht bereit ist zu tun, die wir aber sehr wohl getan haben, ist zu sagen, dass wir Muslime, die diese Probleme erkannt haben und die spirituelle Welt ihrer Religion dennoch leben möchten und hier integriert sind, dass wir die sehr wohl fördern und anerkennen.

Detjen: Frau Petry, nur die Differenzierung, dass bestimmte Ausprägungen des Islam problematisch sind und in Konflikt mit Grundwerten unserer Gesellschaft geraten, ist wahrlich keine Entdeckung der AfD. Sie schreiben in Ihr Programm: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, das ist genau der Verzicht auf die Differenzierung, die Sie jetzt einfordern.

An einer anderen Stelle fragt er danach, welche Konsequenzen die von AfD-Funktionären geforderte Direktwahl des Bundespräsidenten analog zu Österreich für das politische System haben würde.

Detjen: Ja. Frau Petry, deshalb würde ich gerne an der Stelle nachfragen. Österreich hat eine andere Stellung. Und die Frage, die ich Ihnen stellen möchte, ist, ob Sie die Stellung des Bundespräsidenten, das Verfassungsgefüge der Bundesrepublik damit verändern wollen? Was geschehen würde, wenn der Bundespräsident ein direktes Mandat der Bevölkerung hätte.

Petry: Na, erst einmal müsste man dafür die Aufgaben des Bundespräsidenten in Deutschland neu definieren. Das haben …

Detjen: Und das wollen Sie tun?

Petry: Na ja, das haben wir erst einmal nicht getan. Wir haben vor allen Dingen erst einmal darüber geredet …

Detjen: Aber Sie fordern ja eine Direktwahl. Das würde die Stellung verändern. Also lassen Sie mich einfach mal fragen: Wünschen Sie sich einen Bundespräsidenten, einen direkt gewählten Bundespräsidenten, der aktiver in die Politik eingreift und nicht nur repräsentatives Staatsoberhaupt ist?

Petry: Schauen Sie, ich finde es immer erstaunlich, wie man …

Detjen: Eine wichtige, eine wesentliche Frage.

Petry: Herr Detjen, ja, wie man in unsere Worte und unser Programm dann Dinge reininterpretiert, die da gar nicht drinstehen – so, wie die Linke das auch vor Kurzem getan hat. Die hat zwar gesagt, das steht zwar nicht drin, aber die meinen das trotzdem. Lassen wir uns doch … also nehmen wir doch …

Detjen: Nein, wenn man …

Petry: Aber Herr Detjen, nehmen wir doch das Programm, wie es ist. Und im Programm steht, dass …

Detjen: Auf das Programm komme ich gleich noch.

Petry: … dass wir möchten …

Detjen: Nur, Sie stellen eine Forderung auf, die da im Programm gar nicht drinsteht in der Tat: nämlich den Bundespräsidenten direkt zu wählen. Und das hat Konsequenzen. Und ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie die Konsequenzen bedacht haben.

Petry: Ja, Herr Detjen, noch einmal: Sie postulieren Konsequenzen, die wir in unserem Programm nicht gefordert haben.

Detjen: Ein direkt gewählter Bundespräsident hat eine andere Stellung, verändert die politische Landschaft, das Verfassungsgefüge der Bundesrepublik.

Petry: Ja, er hat vor allen Dingen …

Detjen: Sie fordern eine Direktwahl.

Petry: Ja, ein direkt gewählter Präsident, ein direkt gewählter Bundespräsident in Deutschland hätte vor allem tatsächlich mal das Mandat, das direkte Mandat der Bevölkerung. Gerade der Bundespräsident in Deutschland hat ja nun rein repräsentative Funktionen.

Detjen: Und das möchten Sie ändern?

Petry: Und deswegen bricht rund um die Wahl eines Bundespräsidenten in Deutschland immer wieder die Diskussion darüber auf, ob wir ihn überhaupt brauchen. Und in der Tat ist die Frage, ob wir einen Bundespräsidenten, der rein repräsentativ wirkt, tatsächlich in Deutschland benötigen. Aber diese Frage, Herr Detjen – und Sie machen das ganz geschickt und stellen mir die gleiche Frage immer wieder, diese Frage haben wir …

Detjen: Ganz genau.

Petry: … derzeit nicht aufgemacht. Und solange die Partei …

Detjen: Doch, Sie haben sie ja aufgemacht. Sie haben die Forderung der Direktwahl gestellt.

Petry: Na ja, also …

Interessant vor allem, wie Petry versucht, Detjens Nachfrage mit dem Hinweis darauf zu kontern, dass er versuche, etwas hineinzuinterpretieren, was nicht drinstecke – dabei hat er lediglich nach den Konsequenzen der AfD-Forderung gefragt.

Am Ende beantwortet Petry die Frage nicht und zeigt dadurch, dass sie keinerlei Konzept hat Es lohnt sich, sich das ganze Interview im Original anzuhören, weil es zeigt, wie man der AfD mit einer inhaltlichen Auseinandersetzung beikommen kann, ohne sie offensiv anzuprangern.

Auch wenn Detjen schildert, wie er sich erfolglos darum bemüht hat, das beschlossene Grundsatzprogramm zu bekommen, behauptet Petry erst, dass es schon lange abrufbar ist, bis sie schließlich einräumt, dass es erst am Vorabend fertiggestellt worden ist.

Detjen hat damit im besten Sinne das getan, was Stefan Niggemeier neulich vorgeschlagen hat:

Ich glaube, dass die AfD einen Anspruch darauf hat, dass ihre Ansichten verbreitet werden, und dass die Bevölkerung einen Anspruch darauf hat, diese Ansichten zu erfahren. Es ist dann selbstverständlich auch das Recht und die Aufgabe von Journalisten, diese Ansichten einzuordnen und kritisch zu hinterfragen, ihre Folgen zu beschreiben, Widersprüche aufzuzeigen, mögliche verborgene Ansichten zu enthüllen – wie bei jeder anderen Partei, aber bei einer neuen, sich noch findenden Partei ganz besonders.

Ich glaube, dass diese Strategie die richtige für den Umgang mit der AfD ist. Wenn Journalisten ihr die Chance geben, sich und ihr Programm darzustellen, ihr dabei aber kritisch begegnen und ihre Vorstellungen hinterfragen, erfüllen Journalisten ihre Aufgabe, haben Leser, Hörer und Zuschauer die Chance, tatsächlich einschätzen zu können, ob sie der AfD ihre Stimme anvertrauen wollen, und kann sich die AfD nicht mehr in die Opferrolle einer Partei begeben, der kein Gehör geschenkt wird.

Es wäre schön, mehr Berichte, Interviews und Kommentare wie die angeführte Beispiele zu hören.

Update, 19.00 Uhr: In einer früheren Version habe ich lediglich zwei Beispiele genannt: das Interview in den „Informationen am Morgen“ und den Kommentar bei WDR5. Hinzugefügt habe ich die längere Passage als Auseinandersetzung mit dem „Interview der Woche“ im Deutschlandfunk. Der ursprüngliche Titel dieses Beitrags lautete: „Drei Beispiele, wie man der AfD nicht (ganz) auf den Leim geht“.

Disclaimer: Ich arbeite als freier Mitarbeiter für Deutschlandfunk und WDR.

Die AfD will ARD und ZDF jetzt nicht mehr so sehr abschaffen wie noch neulich

Vorige Woche habe ich aus dem geleakten Entwurf für ein Parteiprogramm der „Alternative für Deutschland“ zitiert, in dem es um das Verhältnis der Partei zu den Medien und zur Pressefreiheit im Allgemeinen ging. Damals hatte die Parteispitze die Richtigkeit des Papiers bestätigt, allerdings betont, dass es ein Entwurf sei.

Mittlerweile liegt der „Leitantrag der Bundesprogrammkommission und des Bundesvorstandes“ vor, das heißt: Was dort drin steht, ist wirklich das, was die Parteispitze als offizielles Programm will. Die Forderungen sind im Gegensatz zum Entwurf abgeschwächt, aber im Kern noch dieselben. So lautet die Überschrift des Kapitels zu Medien jetzt nicht mehr

Vielfältige Medien statt gelenkter Meinung

sondern

Wider die politische Korrektheit: Reform des öffentlichen Rundfunks ist überfällig

Im ersten Absatz fordert die AfD-Spitze wie schon im geleakten Entwurf eine „vielfältige Medienlandschaft“ und dass Meinung und Information „klar erkennbar voneinander getrennt sein“ sollen. Katharina Nocun findet schon diese Unterscheidung schwierig.

Wer definiert, was „Information“ und was „Meinung“ ist? Und was passiert, wenn man dagegen verstößt? Wenn es als Staat möglich ist der Presse vorzuschreiben, unbequeme Berichterstattung als bloße „Meinung“ im Kontrast zu staatlich abgesegneter „Information“ abzustempelt, ist das ein Eingriff in die Pressefreiheit.

Weiter heißt es bei der AfD:

Tatsachen sollen als solche benannt und nicht aus politischen Gründen verschleiert werden. Die AfD fordert: Schluss mit „Politischer Korrektheit“. Was wahr ist, kann nicht „unkorrekt“ sein.

Es bleibt weiter offen, was genau sie den Rundfunkanstalten vorwirft: Was wird angeblich nicht benannt, was aus politischen Gründen verschleiert und von wem? Aus vagen Äußerungen in dieser Hinsicht und wegen des zumindest früher von Parteichefin Frauke Petry gern benutzten Begriffs „Pinocchio-Presse“, der lediglich den Pegida-Schlachtruf „Lügenpresse“ verniedlicht, liegt eine Antwort nahe. Aber auch die gibt die Partei so nicht selbst. Das hat System.

Der öffentlich‐rechtliche Rundfunk muss seinen Informations‐ und Bildungsauftrag parteipolitisch neutral und staatsfern erfüllen. Daher sind Programme, Finanzierung, Organisation und die Kontrolle durch Rundfunk‐ und Fernsehräte grundlegend zu reformieren sowie Entscheidungsprozesse transparent zu machen. Ein erster Schritt zur Reform kann es sein, die Staatsverträge zu kündigen, mit denen die Landesregierungen die Finanzen und die Kontrolle des Rundfunks regeln.

Wie genau so eine Reform aussehen soll, steht nicht im Leitantrag. Zudem ist lediglich von einem „ersten Schritt zur Reform“ die Rede. Wenn der darin besteht, die Staatsverträge zu kündigen, bedeutet das, dass den meisten Anstalten sofort die Existenz- und Arbeitsgrundlage genommen wird. Wie kann man darüber hinaus eine Reform fordern, ohne zu benennen, was im Argen liegt, was deswegen geändert werden soll und wie? Wie soll zudem ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk funktionieren, der nicht gesetzlich ermöglicht wird? Welche Entscheidungsprozesse sind nicht transparent, welche sollen es sein?

In dem Absatz finden sich außerdem mehrere Fehler: Längst nicht jede Anstalt wird auf der Grundlage eines Staatsvertrages betrieben. Der ist nur in Mehrländeranstalten wie zum Beispiel beim NDR nötig, den Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Niedersachsen gemeinsam betreiben. In Nordrhein-Westfalen etwa kann allein der Landtag über Regeln für den WDR bestimmen. Der Landtag. Nicht die Landesregierungen. Und die regeln Finanzen und Kontrolle des Rundfunks nur indirekt. Wieviel Geld die Anstalten bekommen, das empfiehlt die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, kurz KEF. Wie hoch der Rundfunkbeitrag schließlich ist, entscheiden auf dieser Grundlage eben nicht die Landesregierungen, sondern – genau: die Landtage. Dass die Besetzung der Rundfunkräte nicht in allen Fällen verfassungsgemäß ist, ist ohnehin schon per Urteil des Bundesverfassungsgerichts entschieden. Wer statt der benannten Gremien über Finanzierung und Kontrolle der Sender bestimmen soll, sagt die AfD nicht. Obwohl da durchaus Reformbedarf herrscht und neue Ideen willkommen sind.

Die Zahl der öffentlich‐rechtlichen Fernseh‐ und Rundfunkprogramme muss deutlich verringert werden, auch deswegen, um die Entwicklung einer leistungsfähigen privaten Medienlandschaft nicht durch unfaire Konkurrenz zu behindern.

Dass die AfD „für eine vielfältige Medienlandschaft“ eintritt, wie es im Leitantrag heißt, kollidierte im Entwurf noch mit der Forderung nach nur noch zwei Radio- und zwei Fernsehsendern. Der Leitantrag ist in dieser Hinsicht nicht mehr so konkret, sondern fordert nur noch eine deutliche Verringerung; ganz aufheben kann er die Widersprüchlichkeit jedoch nicht.

Einige Absurditäten fehlen zum Glück im Leitantrag: etwa die Forderung nach einer Abschaffung der Gebühreneinzugszentrale GEZ (die es in dieser Form ja schon nicht mehr gibt) und die nach einer Privatisierung der öffentlich-rechtlichen Anstalten ab 2018; stattdessen sollte die „staatliche Informationsversorgung“ durch einen steuerfinanzierten Sender besorgt werden.

Frappierend finde ich trotz allem weiterhin, wie unpräzise der Leitantrag in der Medienpolitik ist und wie sehr er von Fehlern strotzt. Auch dass AfD-Chefin Frauke Petry in Interviews und öffentlichen Statements immer und immer wieder von einem steuerfinanzierten Rundfunk spricht (was er nicht ist), zeugt von Unkenntnis. Oder aber von Absicht.

Mir kommt das mittlerweile wie ein System vor. Denn einige der Forderungen der AfD ergeben nur dann Sinn, wenn die Realität etwas zurechtgebogen wird. Wer unterstellt, die Sender seien steuerfinanziert, insinuiert, dann würde auch der Staat über Inhalte bestimmen – also müsse gehandelt werden. Wer behauptet, die Landesregierungen (und nicht die Landtage) würden die Sender kontrollieren, unterstellt, eine Elite von Regierungspolitikern würde die Sender steuern – also müsse gehandelt werden.

Wer auf diese Weise Tatsachen verdreht, um Zustimmung für seine Forderungen zu bekommen, ist nicht weit von dem entfernt, was Frauke Petry selbst wohl eine Pinocchiopartei nennen müsste.

Update (30. März, 17.30 Uhr): Oliver Das Gupta hat sich für die Süddeutsche Zeitung das gesamte Parteiprogramm angesehen. Er schreibt unter anderem, die AfD geißele die Presse in ihrem Programm „immer wieder“, etwa dass sie Kampagnen für bestimmte Lebensentwürfe betreibe.

Frauke Petry und die Pressefreiheit: Warum Journalisten nicht völlig neutral sein dürfen

In der vergangenen Woche ist ein bizarrer Streit öffentlich geworden: der zwischen der AfD-Chefin Frauke Petry und dem ZDF-Morgenmagazin. Petry war am Montagmorgen nicht beim ZDF aufgetaucht, obwohl sie zugesagt hatte. Auch am Dienstag kam sie nicht. Wieso, hat Michael Coors gut beschrieben.

Ich will auf eine Aussage von Frauke Petry eingehen, die sie als Vorwurf formuliert und gemeint hat. In einem Statement dazu, warum sie nicht gekommen ist, heißt es:

Solange vor allem öffentlich-rechtliche Fernsehsender ihren Auftrag, so neutral wie möglich das pluralistische Meinungsbild darzustellen, dadurch missverstehen, indem sie offensichtlichen Politaktivisten wie Dunja Hayali ein derartig breites öffentliches Forum bieten, ist mein persönliches Interesse, in diesem Rahmen über die aufstrebende Alternative für Deutschland zu berichten, deutlich reduziert.

Die Sache mit der „Politaktivistin“ Dunja Hayali, die eigentlich nur Moderatorin des ZDF-Morgenmagazins ist, präzisiert Petry dann noch:

Liegt es daran, dass die Unterstützerin der Vereine ‚Gesicht zeigen‘ und ‚Respekt! Kein Platz für Rassismus‘ Schwierigkeiten damit hat, ihre journalistische Arbeit in einem aus Steuergeldern finanzierten Sender von ihrer politischen Einstellung zu trennen? (…) Sie erscheint daher zunehmend mehr als politische Aktivistin denn als professionell arbeitende Journalistin.

Mal abgesehen von der Tatsache, dass die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender nicht aus Steuergeldern finanziert werden (Irrtum? Lüge?), irritiert mich die Haltung, die Petrys Aussage zugrunde liegt.

Ich interpretiere Petry so, dass das Eintreten gegen Rassismus nicht mit der Neutralitätspflicht eines Journalisten zu vereinbaren ist. Rassismus soll also als eine legitime Einstellung neben anderen angesehen werden. Führt man das fort, sind auch Haltungen wie Antisemitismus, Homophobie, Sexismus und Islamfeindlichkeit akzeptabel, kurz: alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Das Grundgesetz, auf dessen Grundlage die AfD Petry zufolge steht, verbietet aber genau dies in Artikel 3 Abs. 3:

Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Wenn Journalisten wie Dunja Hayali, um die es Petry geht, sich also gegen Rassismus aussprechen, handeln sie im Sinne des Grundgesetzes. Und diesem Grundgesetz gegenüber sollen Journalisten neutral sein?

Das können und dürfen sie nicht. Denn das Grundgesetz und die Demokratie sind Voraussetzung für unabhängigen Journalismus. Im Grundgesetz wird die Meinungs- und Pressefreiheit garantiert (Art. 5). Man sieht an vielen Diktaturen weltweit, wie selten die wirklich besteht (die Reporter ohne Grenzen haben ihre Einschätzung in einer Weltkarte dargestellt). Sich nicht für Werte des Grundgesetzes einzusetzen, hieße, auch diesen gegenüber neutral zu sein. Wie kann man aber einem Grundrecht gegenüber neutral sein, wenn es die eigene Arbeit garantiert?

Michael Coors formuliert es zugespitzt so:

Wenn Frau Petry ernsthaft das Engagement gegen Rassismus für eine Verletzung journalistischer Neutralität hält und lediglich für eine politische Einstellung neben anderen, zeigt sie, dass sie schlicht gewisse rechtliche und moralische Grundlagen unserer demokratischen Gesellschaftsordnung entweder nicht verstanden hat oder aber – noch schlimmer – diese aus politischer Überzeugung in Frage stellt.

Spinnen wir das mal fort: Wenn Journalisten auch demokratiefeindliche Meinungen gelten lassen sollen, sollen sie also seelenruhig dabei zusehen, wie eine Regierung ihre eigenen Rechte abschafft, so wie es die AfD in Baden-Württemberg laut Wahlprogramm teilweise vorhat und die AfD auf Bundesebene laut Entwurf (dessen Gültigkeit die AfD bestreitet, allerdings nicht den Entwurf an sich). Das kann nicht im Interesse der Demokratie sein.

Journalisten dürfen nicht nur für Grundwerte eintreten, sie müssen es sogar. Dass Dunja Hayali sich gegen Rassismus ausspricht, ist also nicht nur ihr Recht als Bürgerin, es ist sogar ihre Pflicht als Journalistin; wenn sie es nicht so öffentlich tut wie bei „Gesicht zeigen“ und „Respekt“, so müsste sie mindestens ihre professionelle Rolle so verstehen.

Wenn Journalisten nicht für die Werte des Grundgesetzes eintreten, schaffen sie erst sich selbst und auf Dauer auch die Demokratie in dieser Form ab.