Eigentlich hatte sich ein Großteil der Journalisten mal darauf geeinigt, wie über Suizide berichtet werden soll. Gegossen wurde das in Richtlinie 8.7 des Pressekodex:
Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.
Der Hauptgrund dafür liegt im sogenannten Werther-Effekt. Demzufolge gehen Wissenschaftler davon aus, dass nach ausführlicher Berichterstattung über einen Suizid Nachahmer angeregt werden. Zahlen belegen das – wie im Fall des Fußballtorwarts Robert Enke, der sich im November 2009 das Leben nahm.
Was aber tut man, wenn die „näheren Begleitumstände“ so gravierende Ausmaße angenommen haben wie am Freitag in München?
Als die ersten Meldungen über Schüsse am Olympia-Einkaufszentrum eingingen, war die Lage völlig unklar. Später am Abend ging die Münchener Polizei von einer „akuten Terrorlage“ aus. Bei einer Pressekonferenz am Samstag sprach Polizeipräsident Hubertus Andrä dann schließlich davon, dass es sich wahrscheinlich um einen Amoklauf gehandelt habe. Ein Kennzeichen vieler Amokläufe ist auch, dass die Täter Öffentlichkeit herstellen wollen; sie enden oft damit, dass sich der Täter selbst tötet und das auch von Anfang an vorhatte. Auch im Fall von München war das so.
Marlene Halser schreibt heute in der taz:
Auswertungen zeigen, dass fast die Hälfte aller Amokläufe innerhalb von zehn Tagen nach einer ausführlichen Berichterstattung über einen anderen Amoklauf geschehen. Ist dieser „Werther-Effekt“ mit Grund für die hohe Schlagzahl an Schreckensereignissen, die wir erleben? Möglich ist das auf jeden Fall.
Damit geraten zwei Interessen in Konflikt: Einerseits sollen Journalisten im Fall eines Selbstmords Zurückhaltung üben, andererseits war die Öffentlichkeit durch den Fall so massiv beeinträchtigt, dass ein berechtigtes Interesse an Information besteht. Folgt man ersterer Maxime, hätte man die Berichterstattung am Samstag sofort auf ein Minimum beschränken müssen, um keine Nachahmer anzuregen.
Dabei gilt das nicht nur für Amokläufer, sondern auch für Terroristen, wie der Politikwissenschaftler Matthias Hermann im Schweizer Tagesanzeiger vorige Woche schrieb:
Längst ist bekannt, dass immer umfänglicher bebilderte terroristische Taten und Amokläufe nur noch mehr Nachahmungstäter auf den Plan rufen. Dazu kommt, dass mit der Bilderflut jeder nächste Täter von seinen Vorgängern lernen kann, ohne selbst vor Ort gewesen zu sein.
Wenn es Amokläufern wie Terroristen um Öffentlichkeit geht – ist es dann nicht die Aufgabe von Journalisten im Dienste der Öffentlichkeit, ihnen diese Medienpräsenz vorzuenthalten? Nur, wenn die Täter wissen, dass sie mit ihrer Tat nichts erreichen, verzichten vielleicht einige von ihnen darauf. Dann könnte man Matern Boeselager folgen, der bei VICE schrieb, die Medien müssten ihre Berichterstattung über Anschläge wie den in Nizza auf ein Minimum zurückfahren und nach kurzer Zeit sofort aufhören zu berichten.
Es ist eine schwierige Abwägung, die zu treffen ist. Wie viele Taten müssen noch folgen, bis wir Journalisten den Zusammenhang so klar sehen, dass wir handeln?
Update, 08.40 Uhr: Hinweis auf Artikel in der taz eingefügt.
Weiterführend:
- Herfried Münkler: Die Falle ist gestellt – In Nizza und Würzburg ist eine neue Form des Terrors sichtbar geworden: Jeder kann Opfer werden. Und jeder Täter.
- Jochen Wegner: Die fünf Paradoxien der Livemedien und der Mythos des Oknos
- Thomas Stadler: München und die medialen Zerrbilder
Die intensive, aufwühlende mediale Präsenz bei solch einer Wahnsinnstat fördert und schult nicht nur Nachahmungstäter, sondern sind für viele das Ziel und der Zweck ihres Tuns. Einmal im Leben im absoluten Mittelpunkt stehen, und wenn es ex post ist. Zugleich ist es eine Form von Befriedigung (Rachegelüste) zu wissen, dass nun alle (bösen Mitmenschen) betroffen sind. Für die einen ist es der Schock der Beteiligten, die Trauer der Hinterbliebene für die anderen die Angst vor dem IS & Konsorten – jetzt konnte er es allen Zeigen! Die „Vorfreude“ darauf versüßen die letzten Lebensmonate. (Planungszeit = Vorfreude auf das große Ereignis). Der IS erntete Dinge, die er so gar nicht gesät hat – sie fallen im zu und er „bekennt“ sich zu „der Verantwortung“ mit Freude.
Je mehr, je aufregender die Berichterstattung, je genauer man die Betroffenheit der Umgebung erkennen kann, desto motivierender für die nächste Tat. Und die wird kommen.
Und Ballerspiele sind angeblich harmlos wie uns Experten immer wieder versichern. Solches Abschuss- und Reaktionstraining haben mit Amokläufen (die ja eigentlich keine Sinn – sie waren ja gut geplant) NICHTS zu tun. Wenn Ballerspiele kein Training für Schussattentaten sind, warum machen dann Piloten & Co Trainings in Simulatoren?
Was den ersten Aspekt Ihrer Antwort angeht, geht es mir genau darum. Zu viel Berichterstattung regt Nachahmer an, zu wenig wiederum lässt die Menschen im Unklaren, die von solchen Taten betroffen sind. Wir müssen einen Weg dazwischen finden, was jeweils im Einzelfall abzuwägen ist – und auch mit den Aspekten zu tun hat, über die anschließend berichtet wird. Also Glorifizierung des Täters, indem haarklein über seine Motivation und sein Leben berichtet wird – eher nicht. Analyse der Polizeitaktik und Überlegungen, wie so etwas verhindert werden kann – eher schon.
Die im Artikel ausgeführten Gedanken klingen für mich nachvollziehbar, sollten aber denke ich auch die Schwierigkeiten bei „selbstgemachtem Journalismus“, also ich meine damit vor allem die sich schnell verbreitenden Video- und Fotoschnipsel in sozialen Medien, die von Menschen von der Straße erstellt werden, einbeziehen.
Eine der Herausforderungen, die sich direkt aus der umfangreich und dezentral möglichen (Medien-)Partizipation mit all ihren positiven Effekten herausstellt. Kritische Bildung und Kommunikation ist da sicher ein Ansatz, aber der Wunsch vieler Menschen, schnell einen Überblick bekommen zu können und Sensationslust werden das sicher immer auch erschweren. Nur mal so kurze Gedanken eines Nicht-Journalistisch-Professionellen zum Thema.
Danke dafür, Hauke Morisse. Mir ging es im Artikel um die Profis; aber dass inzwischen jeder von überall informieren kann, finde ich in diesem Sinne auch problematisch. Einerseits gut, weil sich Journalisten dabei auch informieren können und ihre Berichterstattung verbessern; andererseits schlecht, weil dabei auch viele Fehlinformationen und absichtliche Fakes gestreut werden. Da wäre es tatsächlich wünschenswert, wenn die Menschen insgesamt mehr Medienkompetenz bekämen und sich bewusst sind, was sie durch die neuen Möglichkeiten auch für neue Verantwortung haben.