Affäre um „Zeit“-Mitherausgeber Joffe: „Das ist ein No-Go“

Ein „Zeit“-Mitherausgeber, der einen befreundeten Banker vor Recherchen der eigenen Redaktion warnt – diese Enthüllungen über Josef Joffe hatten für Kritik und Verwunderung gesorgt. Nun gibt es Konsequenzen. Was sagt der Fall über Machtverhältnisse und Interessenskonflikte im Journalismus aus?

Darüber habe ich im Deutschlandfunk mit Volker Lilienthal gesprochen, Inhaber der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für die Praxis des Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg.

Kongressveranstalter veröffentlichen Interview ohne Hinweis darauf, wie alt es ist

Der Virologe Christian Drosten wird heute mit einer Aussage zitiert, die aktuell klingt. Demnach hat er gesagt:

Wir müssen, um die Situation in den kommenden Monaten zu beherrschen, Dinge ändern. Die Pandemie wird jetzt erst richtig losgehen. Auch bei uns.

Das sorgte heute verständlicherweise für einige Schlagzeilen, die Drosten daraufhin richtigstellen musste. Denn seine Aussage sei schon ein paar Wochen alt, wie er unter anderem dem ZDF sagte. Über Details berichtet unter anderem Zeit online:

Das Gespräch wurde am Mittwoch im Vorfeld der im Oktober anstehenden Gesundheitskonferenz World Health Summit in Berlin veröffentlicht. Nach Angaben des World Health Summit vom Donnerstag war das Gespräch am 13. August geführt worden. Der Erscheinungstermin sei mit allen Beteiligten abgestimmt gewesen.

Dennoch ist so eine späte Veröffentlichung natürlich problematisch, wenn es um derartige Aussagen und ihre mediale Verwertung geht. Zwar sagte Drosten im ZDF, er habe das Interview „mit einem sehr weiten Zeitrahmen gespannt“ geführt, wenn man

aus einer Perspektive mitten im Sommer sagt, es wird noch mal kommen. Also hier geht es jetzt nicht darum zu warnen vor der nächsten Woche oder so etwas, sondern es geht um eine weltweite Perspektive. Und weltweit geht es jetzt richtig los.

Wer aber ein Interview führt in einer Situation wie dieser Pandemie, in der sich die Erkenntnisse so schnell ändern, und es erst sechs Wochen später veröffentlicht, der sorgt natürlich für derartige Missverständnisse wie sie heute aufgetreten sind – so dass derjenige, dessen Aussagen im Interview eigentlich für sich sprechen sollten, diese noch mal zurechtrücken muss.

Gerade in so einer Lage kann man Interviewpartnern natürlich nicht auferlegen, dass sie sich so äußern sollen, als würden sie in sechs Wochen sprechen. Problematisch ist es aber durchaus, dass der World Health Summit, der in seiner Pressemitteilung nicht deutlich macht, wer das Interview namentlich geführt hat, so ein Gespräch so lange zurückhält. Und bei der Veröffentlichung gestern auch keinen Hinweis darauf gibt, wie alt dieses Gespräch schon ist.

Dass das Interview heute noch mal viel Presse erhalten hat, mag auch darauf zurückzuführen sein. Denn wahrscheinlich viel weniger Medien wäre es eine Meldung wert gewesen, wie Drosten vor sechs Wochen die mittlerweile hinter uns liegende Zukunft sah – jedenfalls wäre die Meldung abhängig vom Ergebnis womöglich weniger prominent platziert worden.

Corona-Krise zwingt Medien zu mehr Transparenz

Lange hatten sich Medien gescheut, ihre eigene Arbeit transparent zu machen. Die Corona-Krise zwingt sie jetzt dazu, weil sie die Arbeitsbedingungen verändert, was auch Auswirkungen auf die Berichterstattung hat und in Radio und Fernsehen auch aufs Programm.

Im Deutschlandfunk hat Redakteur Mario Dobovisek schon vor Beginn der Ausgangsbeschränkungen erzählt, wie sich das Haus vorbereitet – in Kurzfassung bei @mediasres (Audiothek), in Langfassung im Podcast „Der Tag“ (Audiothek). Seit Montag sendet der Deutschlandfunk ein leicht verändertes Programm, um Ressourcen für bevorstehende Zeiten zu schonen.

Dass Journalist*innen mittlerweile anders arbeiten, lässt sich ja auch kaum noch verheimlichen. Immer öfter werden Interviews nicht persönlich geführt, sondern über Messenger und Video-Chats im Netz. Im Radio hört man das an anderer O-Ton-Qualität, im Fernsehen an schlechten Bildern bzw. daran, dass gleich eingeblendet wird, dass die O-Ton-Geber nur zugeschaltet sind, etwa indem auch der Bildschirm zu sehen ist, auf dem die Gesprächspartner sind.

Im NDR-Medienmagazin „Zapp“ macht Autorin Caroline Schmidt transparent, wie sie über einen „Spiegel“-Redakteur im Homeoffice zu berichten versucht, ohne dass sie selbst ins Haus darf.

Zapp berichtet in den kommenden Wochen über die Arbeitsbedingungen von Journalist*innen in der Corona-Krise. In der zweiten Folge darf Schmidt auch nicht ins ARD-Hauptstadtstudio, was sie ebenfalls transparent macht.

Dass Medienmagazine das machen, ist natürlich nicht neu. Aber auch andere Redaktionen tun das jetzt verstärkt – und informieren auch in eigenen Artikeln über ihre neuen Arbeitsbedingungen.

So schreibt ARD-Fernsehkorrespondentin Tamara Anthony über ihr Leben in der Quarantäne in Peking:

Arbeiten von unterschiedlichen Orten ist das geringste Problem. Wir machen Konferenzen per Video-Schalte und haben “remote” – ich in Quarantäne, Katrin im Schnitt – zwei Tagesschauen aus Agenturmaterial produziert. So zum Beispiel unseren Bericht aus Anlass des Abebbens der Krise und über den Versuch der chinesischen Regierung, Zweifel zu säen über den Ursprungsort des Virus.

Die „Süddeutsche Zeitung“ erlebt redaktionelle „Veränderungen im Zeitraffer“:

Eine Redaktion ist ein lebendiger Organismus. Die SZ-Redaktion, so würden Wohlmeinende vielleicht sagen, ist ein besonders lebendiger. Das Leben dieses Organismus musste sich nun sehr schnell neu sortieren, so schnell wie noch nie in der 75-jährigen Geschichte dieser Zeitung. Die Vorbereitungen darauf begannen vor Wochen, als die ersten Meldungen über abgesperrte Gebiete in Italien die Runde machten. Notfallpläne wurden geschrieben, zusätzliche Notebooks mit Lieferwagen aus Lagern in das Verlagsgebäude gebracht. Die IT-Abteilung stockte die Zugänge zu den gesicherten Leitungen und die Bandbreite auf.

Der „Stern“ gibt Einblicke, wo seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerade zu Hause arbeiten, weist aber auch auf ein Privileg von Journalist*innen hin:

Natürlich haben wir trotz allem Glück. Im Gegensatz zu vielen anderen Berufsgruppen lässt sich die Arbeit einer Redaktion leicht – und Dank einer Meisterleistung der technischen Abteilungen auch recht problemlos – ins Homeoffice verlagern.

„Die Zeit“ berichtet, wie groß der Bedarf an journalistischer Arbeit ist, während diese gleichzeitig schwieriger wird, was auch Auswirkungen aufs Schreiben hat:

Auch deshalb hat sich unsere meinungsfreudige Onlineredaktion in diesen Zeiten etwas Zurückhaltung verordnet und sucht weniger nach originellen Standpunkten als nach Erkenntnis und Evidenz. Alle Beiträge unseres Wissen-Ressorts etwa sind trotz des erheblich höheren Zeitdrucks, wie sonst auch, durch zahlreiche Gespräche mit den führenden Experten, durch wissenschaftliche Quellen (die wir stets nennen) und mehrfache interne Prüfungen abgesichert.

Die Tageszeitung „taz“ beklagt, dass persönliche Gespräche schwer zu ersetzen seien:

Wie geht das ohne persönliches Gespräch? Nur am Telefon? Schon jetzt arbeiten wir mit einer Teamsoftware, durch die man in virtuellen Räumen chatten kann, dort haben wir vergangene Woche der Raum „Corona-Themen“ eröffnet. Doch das persönliche Gespräch ist nicht so leicht zu ersetzen wie Händeschütteln. Corona bedeutet, dass wir uns einschränken, aber zugleich alternativ denken müssen.

Das ist eine positive Entwicklung. Inwiefern sie von Nutzerinnen und Nutzern honoriert wird, ist natürlich schlecht zu sagen. Der Mainzer Journalismusprofessor Tanjev Schultz findet allerdings – unabhängig von der aktuellen Entwicklung – dass Transparenz ein Grund dafür sein, das Medienvertrauen zu stärken. Im Interview mit dem Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres (Audiolink) sagte er mir am 26. Februar, als er seine neue Studie zum Medienvertrauen vorstellte:

Ich habe den Eindruck und wir in unserer Forschungsgruppe, dass es damit zusammenhängt, dass die Medien sehr viel mehr jetzt auch über sich selber diskutieren, auch Dinge transparent machen. Und dass auch diese Angriffe seit den vergangenen drei, vier, fünf Jahren, die es gegen Medien gibt, gegen das öffentlich-rechtliche Fernsehen oder überhaupt gegen die Presse, dass das die Leute dazu eigentlich fast zwingt, Stellung zu beziehen. Was früher eher so latent im Kopf war, da hat man nicht unbedingt drüber nachgedacht so sehr, das ist jetzt doch sehr bewusst geworden. Und die Menschen müssen sich irgendwie dazu verhalten, und sie erleben ja auch, dass permanent irgendwelche Gerüchte und Falschnachrichten auch über Social-Media-Kanäle reinkommen, und vielen Menschen dadurch auch wiederum klar wird: Ach, es ist vielleicht doch nicht so ganz verkehrt, seriöse Journalisten zu haben.

Es wäre eine gute Entwicklung, würden Medien nicht nur in der Corona-Krise an ihrer neuen Transparenz festhalten, sondern auch danach. Das Vertrauen in Medien kann das nur stärken.

 

Nachtrag (29. März 2020, 14.15 Uhr): Auch der Bayerische Rundfunk legt offen, wie seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten – im Studio und zu Hause.

Nachtrag (4. April 2020, 13.00 Uhr): Wie es der Südwestrundfunk macht, erkärt er hier. Danke an Kollegin Sandra Müller für den Hinweis.

Auch die Freie Presse Chemnitz informiert seit knapp zwei Wochen immer wieder in Youtube-Interviews mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen über ihre Arbeit.

Wie das Überspitzen von Interviewaussagen Debatten verdirbt

Zuspitzungen sind seit jeher das Geschäft von Journalisten. Sie sind um Aufmerksamkeit für ihre Arbeit und ihr Medium bemüht – nicht zuletzt, seit das Verkaufen im Netz wichtiger geworden ist als in der Zeit, als man sich noch auf Abos ausruhen konnte.

Die Bedingungen des Netzes sorgen aber für eine ganz besondere Art der Zuspitzung. Denn es muss nicht nur die tägliche Zeitung verkauft werden, sondern jeder einzelne Artikel muss an den Mann und die Frau gebracht werden.

Aus mancher Zuspitzung wird aber auch mal eine Überspitzung. Da wird eine Aussage, ein Zitat nicht nur gedeutet, sondern etwas mehr daraus gemacht als ursprünglich gesagt wurde. In den letzten Wochen und Monaten haben Journalisten dafür mehrere Beispiele geliefert – und immer waren es Aussagen in Interviews. Die Konsequenz war in allen Fällen gleich: Nicht die eigentliche Aussage sorgt für Empörung und Protest, sondern die Überspitzung.

Kramp-Karrenbauer droht mit Parteiausschlussverfahren, ohne mit Parteiausschlussverfahren zu drohen

Jüngstes Beispiel: das Interview der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer für die Funke-Mediengruppe über den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen. Sie „drohe“ mit einem Parteiausschlussverfahren, hieß es in der Zusammenfassung, die die Funke-Redaktionen selbst geschrieben haben.

Diese „Drohung“ liest sich im Zusammenhang des Interviews  folgendermaßen:

Frage: Der entlassene Verfassungsschutzchef, CDU-Mitglied Maaßen, fällt mit rechtskonservativen Sprüchen auf. Denken Sie über einen Parteiausschluss nach?

Kramp-Karrenbauer: Als ehemalige Innenministerin bin ich froh, dass Herr Maaßen keine Verantwortung mehr für den deutschen Verfassungsschutz hat. Die CDU hält es aus, wenn unterschiedliche Meinungen geäußert werden. Aber: Die CDU ist auch eine Partei, die von einer gemeinsamen bürgerlich-konservativen Haltung getragen wird. Eine Politik unter dem Deckmantel der CDU zu machen, die den politischen Gegner vor allem in den eigenen Reihen sieht, wird dieser Haltung nicht gerecht. Es gibt aus gutem Grund hohe Hürden, jemanden aus einer Partei auszuschließen. Aber ich sehe bei Herrn Maaßen keine Haltung, die ihn mit der CDU noch wirklich verbindet.

Von Parteiausschluss unter Bezug auf Maaßen spricht Kramp-Karrenbauer nicht ausdrücklich; sie sagt eher allgemein, dass die Bedingungen dafür hoch seien, spricht sich aber nicht ausdrücklich dafür aus, Maaßen auszuschließen. Eine Drohung ist das nicht, vielleicht nicht mal eine Forderung.

Ist es also unzulässig, ihre Aussage in diese Richtung zu überspitzen? Genauso gut hätte man formulieren können, sie lege ihm einen Parteiaustritt nahe. Zwei mögliche Interpretationen ihrer Aussage – die Funke-Mediengruppe hat sich für erstere entschieden. Im Laufe des Tages dementierte zunächst CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, dass Kramp-Karrenbauer das so gemeint habe.

Später äußerte sich auch Kramp-Karrenbauer entsprechend.

Inzwischen hat auch die Funke-Mediengruppe die Formulierung zurückgenommen. Der Artikel lässt erkennen, dass es mindestens drei Fassungen gab. Dort heißt es in der Überschrift sachlicher als zuvor:

CDU-Chefin AKK: „Wir haben im Moment eine Schwächephase“

Die Webseite ist anders betitelt. Im Reiter des Browsers steht noch der Text:

AKK kritisiert Maaßen – Seine Haltung passe nicht mehr zur CDU

Nur in der URL ist die alte Fassung noch zu finden, demnach hieß es dort:

AKK droht Hans-Georg Maaßen mit CDU-Parteiausschluss

https://www.morgenpost.de/politik/article226803329/AKK-droht-Hans-Georg-Maassen-mit-CDU-Parteiausschluss.html

Von Drohung ist aber inzwischen keine Rede mehr.

Auch im Hamburger Abendblatt, das ebenfalls zur Funke-Mediengruppe gehört, ist die ursprüngliche Überschrift korrigiert worden, auch hier ist die URL aber noch dieselbe und verrät den ursprünglichen Titel des Artikels. Außerdem verweist die Artikelnummer darauf, dass es sich um den identischen Inhalt handeln dürfte.

Wie Bastian Brauns feststellt, seien alle Überschriften intransparent ausgetauscht worden.

Eine Kleinigkeit, könnte man meinen. Aber das Thema hat die politische Berichterstattung des Tages bestimmt – vor allem durch diesen Dreh, den auch die dpa genutzt und damit entscheidend zur Weiterverbreitung in anderen Medien beigetragen hat. Sie schrieb:

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer bringt im Fall des umstrittenen Ex-Verfassungsschutzchefs und CDU-Mitglieds Hans-Georg Maaßen ein Parteiausschlussverfahren ins Spiel. «Es gibt aus gutem Grund hohe Hürden, jemanden aus einer Partei auszuschließen. Aber ich sehe bei Herrn Maaßen keine Haltung, die ihn mit der CDU noch wirklich verbindet», sagte Kramp-Karrenbauer den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Samstag) auf die Frage, ob sie über einen Parteiausschluss Maaßens nachdenke.

(Ins Spiel gebracht hat sie das Thema auch nicht; sie hat auf eine Frage reagiert.)

Schließlich setzen viele Medien dpa-Meldungen mehr oder weniger unredigiert auf ihre eigenen Seiten – und heizen mit dieser Dutzendfachen Verbreitung dieser einen Interpretation die Debatte weiter an. Auch in Bezug auf einen anderen Tweet von Maaßen hatte sich das wieder gezeigt.

Linnemann redet von Grundschulverbot, ohne von Grundschulverbot zu reden

Ein ähnlicher Mechanismus hat auch bei einem Interview mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Carsten Linnemann gegriffen. Dieses Interview hatte die Rheinische Post geführt. Sie selbst war bei der redaktionellen Auswertung auch nicht gerade zurückhaltend, formulierte sie für die Überschrift der redaktionellen Auswertung (nicht des Interviews selbst) doch einen Satz, den Linnemann im Gespräch selbst gar nicht so gesagt hatte.

Erst später nahm die Redaktion die Anführungszeichen weg, so dass Linnemann nur noch sinngemäß, aber nicht wörtlich zitiert wurde.

Im Text hieß es dann mit Zu-, aber nicht unbedingt Überspitzung:

Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende, Carsten Linnemann, hat Konsequenzen für Erstklässler gefordert, die schlechte Deutschkenntnisse haben. „Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen“, sagte der CDU-Politiker unserer Redaktion. „Hier muss eine Vorschulpflicht greifen, notfalls muss seine Einschulung auch zurückgestellt werden. Das kostet Geld, aber fehlende Integration und unzureichende Bildung sind am Ende viel teurer.“

Erneut sorgte aber wieder die dpa für die eigentliche Verbreitung des Interviews – und mit ihrer Überspitzung für die besonders starke Wirkung. Eine dpa-Meldung und ein Tweet waren ursprünglich so betitelt:

CDU-Politiker: Grundschulverbot für Kinder, die kein Deutsch können

Dabei hatte Linnemann den Begriff „Grundschulverbot“ selbst nicht verwendet, wie dpa-Textchef Froben Homburger später in einem Thread einräumte.

Auch diese Äußerungen haben zu einer breiten Debatte geführt, die ohne die Zuspitzung womöglich nicht so gekommen wäre. Hinzu kam: Der Wortlaut des Interviews mit Linnemann war nur zu lesen, wenn man sich bei der RP registriert. Das ist zwar keine finanzielle, aber eine kleine organisatorische Hürde, die nicht jeder nehmen möchte, der kurz durchs Nachrichtengeschehen scrollt. Wenn ein Interview aber hinter einer harten Paywall steckt, kommt der interviewführenden Redaktion eine ganz besondere Verantwortung zu. Wenn nämlich nicht die komplette Öffentlichkeit Zugriff auf das Originalgespräch hat, sondern nur ein Teil, kann sich die Diskussion notwendigerweise nur auf das beziehen, was öffentlich zugänglich ist – und das ist in der Regel die Zusammenfassung der eigenen Redaktion und das, was andere Medien daraus machen.

Der Digitalberater Thomas Knüwer empfiehlt sogar, dass Politiker Interviews nur noch geben sollten, wenn diese nicht hinter einer Paywall landen. Auch so sei es für Leser schon unnötig aufwendig, sich das Originalzitat anzuschauen, wenn Medien nicht auf andere Medien verlinken – zumal, füge ich hinzu, Leser erst mal keinen Hinweis darauf haben, warum die Zusammenfassung falsch sein sollte.

Wir sehen: die neue Normalität der Medienwelt. Ein Interview wird hinter einer Bezahlwand versteckt, eine zugespitzte Meldung soll das Interesse fördern. Doch es ist die Zuspitzung, die sich verbreitet, nicht das Urstück.

Kühnert fordert Verstaatlichung von BMW, ohne Verstaatlichung von BMW zu fordern

Kommt Ihnen das bekannt vor? Kein Wunder, im Mai erging es dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert so. Plötzlich wurde überall getitelt, Kühnert fordere eine Verstaatlichung von BMW. Aber auch in diesem Fall hatte der Interviewte den Begriff nicht genutzt. Kühnert sprach stattdessen von einer Kollektivierung – und zwar auch nur auf Nachfrage der Interviewer. Zwischen Verstaatlichung und Kollektivierung besteht aber ein Unterschied. Samira El Ouassil hat hier ausführlich dargestellt, wie das passiert ist – und wie wenig danach. Was hängen blieb: Kühnert fordert Verstaatlichung von BMW.

Das Muster

Man könnte noch weitere Beispiele finden. Nicht immer sind es Medien, die zu solchen Überspitzungen neigen. Es sind auch politische Konkurrenten, die das tun. Diese haben aber ihr eigenes Interesse in der politischen Auseinandersetzung, das ich für legitimer halte als das von Journalisten, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlen sollten.

Das Muster bei solchen Überspitzungen ist immer dasselbe. Der Wortlaut des Interviews wird nicht defensiv genug ausgelegt. Die Differenzierung, die von den Interviewten vorgenommen wurde, ihre möglicherweise bewusste Wortwahl wird überdreht. Damit drehen die Journalisten den Interviewten vielleicht ein wenig zu stark im Mund herum.

Wann ist aber eine journalistische Zuspitzung zulässig und wann führt sie zu weit? Selbst unterstellt, dass die Politiker die Tragweite ihrer Äußerungen erst begriffen haben, als die Debatte ausgebrochen war, und versuchten, sie zurückzunehmen – gefallen waren die entscheidenden Begriffe Parteiausschlussverfahren, Grundschulverbot und Verstaatlichung in den jeweiligen Fällen nicht. Sie spielen für die Wirkung für die Debatte aber eine entscheidende Rolle.

Die Rolle der Politiker*innen

Natürlich sind sich Politiker*innen dessen bewusst, was sie sagen. Und bei Interviews für Zeitungen wird in Deutschland in der Regel eine Autorisierung vereinbart, das heißt, sie nehmen den Wortlaut des Gesprächs noch mal ab und verändern ihn ggf., falls sie sich falsch verstanden fühlen oder eine Formulierung im frei gesprochenen Wort nicht ganz saß. Das bedeutet vor allem, dass der Wortlaut in der gedruckten Fassung der Intention der Interviewten entspricht.

Der Politikberater Johannes Hillje beschreibt es in der Saarbrücker Zeitung so:

Es ist richtig, sie hat explizit kein Parteiausschlussverfahren gefordert, sie hat den Begriff aber quasi in einem Atemzug mit der Kritik an Hans-Georg Maaßen genannt. Daher muss sie davon ausgehen, dass auch eine Diskussion darüber geführt wird. Das Zusammenführen unterschiedlicher Themenkomplexe bedeutet ja schon den Start einer Debatte. Das hätte ihr und ihrem Team auffallen müssen bei der Autorisierung des Interviews.

Deswegen findet Hillje auch nicht, dass Journalisten eine besonders große Mitverantwortung dafür haben, dass Kramp-Karrenbauer so missverständlich rübergekommen ist.

Inzwischen können Politiker allerdings sogar damit rechnen, dass sie selbst nicht die Reizwörter aussprechen müssen, die sie möglicherweise meinen. Wenn Kramp-Karrenbauer ein Parteiausschlussverfahren ins Spiel bringen will, kann sie sich auf eine entsprechende Frage auch zurückhaltender (und etwas verschwurbelt) äußern; dennoch besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ihr unterstellt wird, was sie nicht eindeutig gesagt hat. Anschließend kann sie dann unter Verweis auf den Wortlaut dementieren. Auch Linnemann kann sich so herausreden.

Allerdings bleibt für mich auch fraglich, was sie durch das Herausreden gewonnen haben, denn die Aufregung über ihre Worte ist da – und das Dementi hilft ihnen in der politischen Debatte nicht unbedingt. Wenn sie darauf spekulieren, vom Wähler richtig verstanden zu werden, haben sie das nur dank der Medien tun können. Auch in dem Fall stehen Journalisten in der Verantwortung.

Die Folgen

Natürlich sind gerade private Medien darauf angewiesen, für ihre Produkte Aufmerksamkeit zu bekommen (öffentlich-rechtliche tun das auch). Diese darf aber nicht darauf beruhen, dass Äußerungen sinnentstellend wiedergegeben werden und damit zu inhaltsleeren Debatten führen. Der Öffentlichkeit nutzt es wenig, wenn über etwas diskutiert wird, das niemand gefordert hat – und auch die anschließende relativierende Berichterstattung über die Äußerungen könnte man sich dann sparen.

Pablo Jost, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik der Universität Mainz, hat schon Ende Juli aus Anlass eines anderen Falls dem Tagesspiegel gesagt:

Die skandalisierte Aufbereitung (vermeintlicher) Normverstöße bringt Aufmerksamkeit und Werbeeinahmen. Allerdings birgt der Fokus auf reißerische und polarisierende Themen die Gefahr, dass auch der gesellschaftliche Diskurs schärfer geführt wird. Auch geraten Themen in den Hintergrund, die weniger spektakulär aufbereitet werden können, aber dennoch von gesellschaftlicher Relevanz sind.

Irrelevante Debatten nutzen aber auch den Medien wenig, die sie ausgelöst haben. In erster Linie kann das dazu führen, dass die Interviewten sich genauer überlegen, unter welchen Bedingungen sie dem Medium noch ein Interview geben, wenn ihre Aussagen überspitzt wiedergegeben werden. In zweiter Linie stärkt es aber auch nicht gerade das Vertrauen der Nutzer in die Redaktionen. Mein Kollege Christoph Sterz hat es in der Medienkolumne in der WDR5-Sendung „Politikum“ so formuliert:

Wenn ich als Mediennutzer ständig Dinge höre oder lese, die wenig später korrigiert werden, dann kann ich doch auf Dauer nur das Vertrauen in die meisten Medien verlieren.

Und damit schaden die Medien in dritter Linie der öffentlichen Debatte.

Was nach solchen Fällen aber auch zwangsläufig folgt: eine Debatte darüber, ob die Politiker das wirklich so gesagt haben und die Kritik an Redaktionen, die für die Überspitzung gesorgt haben. Auch diese Zeit für unnötige Diskussionen und Meta-Debatten könnten wir uns sparen.

Die Meinungsforscher von Insa und ihre Verbindungen zur AfD

Das Umfrageinstitut Insa präsentiert sich als überparteilich. Aber wie unabhängig kann es sein, wenn Insa und Insa-Chef Hermann Binkert der AfD Geld spenden? Darüber berichten Kai Biermann, Astrid Geisler, Andreas Loos und Sascha Venohr für Zeit online. Lesenswertes Stück darüber, dass Meinungsforschung nicht unpolitisch ist, sondern Rückwirkungen auf die Politik hat, nicht nur für den politischen Prozess, sondern auch durch seine Akteure.

Wie schaffe ich mir ein Publikum?

Der Kampf um Aufmerksamkeit im Netz wird immer schwieriger. Ihr Publikum finden Medien nicht mehr nur auf ihrer eigenen Webseite, sondern auch auf anderen Plattformen wie etwa sozialen Netzwerken. Doch alle machen es nötig, die Nutzer dort anders anzusprechen – weil die Nutzer überall anders sind. Darum kümmert sich in immer mehr Medienhäusern die Abteilung für Audience Development. Für „Breitband“ in Deutschlandfunk Kultur habe ich mal versucht zu erklären, was das eigentlich ist und was die so machen. Das Audio dazu gibt es hier, mehr zur Sendung hier. Meine Interviewpartner waren unter anderem Torsten Beeck von Spiegel Online und Björn Wagner von Zeit Online.

Journalisten auf der schiefen Bahn – eine kleine Presseschau

Der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG hat kein grünes Licht für eine Vertragsverlängerung für Bahnchef Grube gegeben. Das hat in vielen Redaktionen die Weichen gestellt: Vorsicht an der Bahnsteigkante und Bahn frei für einen ganzen Zug an Floskeln.

Spiegel online

(Screenshot: spiegel.de)
(Screenshot: spiegel.de)

Tagesschau um 20 Uhr

„Nun also Bahn frei für die Nachfolgersuche…“

„Die SPD betonte heute, sie wolle auf jeden Fall mitentscheiden, wer künftig die Weichen bei der Bahn stellt.“

Süddeutsche.de

„Am Donnerstagmorgen vergangener Woche liegt Rüdiger Grubes Leben Leben noch voll im Plan.“

„Draußen geht gerade die Sonne auf, drinnen ist Grube nur schwer zu bremsen.“

FAZ.net

(Screenshot: faz.net)
(Screenshot: faz.net)

(Die FAZ reagierte im Übrigens mit dem Artikel „Wie das Netz auf Rücktritt von Bahnchef Rüdiger Grube reagiert“ und spricht von einem „gefundenen Fressen“. Da kannte der Autor aber seine eigenen Kollegen nicht.)

ZEIT online

(Screenshot: zeit.de)
(Screenshot: zeit.de)

Berliner Morgenpost

(Screenshot: morgenpost.de)
(Screenshot: morgenpost.de)

Deutschlandfunk, Kommentar

(Screenshot: deutschlandfunk.de)
(Screenshot: deutschlandfunk.de)

„Auch an der Spitze des Unternehmens Deutsche Bahn gibt es keine reservierten Vertragsverlängerungen und keine ungestörten Betriebsabläufe beim Übergang von einem Chef zum anderen.“

„Hatte er den Bahn-Konzern nach der Ära Hartmut Mehdorn doch wieder auf die Spur gesetzt…“

„…die Verantwortung für die Weichenstellungen der Zukunft“

„Streiterei um die Konzernführung braucht die Bahn aber nicht, sondern einen entschlossenen Lokführer an der Spitze.“

Tagesspiegel

„Grube musste die S-Bahn wieder aufs Gleis stellen…“

Wirtschaftswoche

(Screenshot: wiwo.de)
(Screenshot: wiwo.de)

Handelsblatt

(Screenshot: handelsblatt.com)
(Screenshot: handelsblatt.com)

Von der Eilmeldung zur Voreiligmeldung

Manchmal hat man den Eindruck, eine Eilmeldung zu wichtigen, absehbaren Ereignissen müsse fast noch vor deren Stattfinden versendet werden. Kein Wunder, dass es dann zu Fehlern wie diesem kommt:

 

Dazu trägt vermutlich auch eine gewisse Hektik in Reaktionen bei. Wer nur einen kleinen Satz von Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung verpasst hat, kann ihn sogleich völlig missverstehen.

Der Spiegel hat sich für den Irrtum entschuldigt:

Mit einem anderen Aspekt zum Thema Eilmeldung, ihrer Entwertung durch zu viele davon, habe ich mich neulich schon beschäftigt.

„Wo kann man noch diskutieren? Wo ist man noch bereit zur Debatte?“

Wie können wir in Zukunft im Netz noch debattieren, wenn viele Diskussionen von Reichsbürgern, Trollen, Hatern, ewig Unzufrieden, Whataboutism-Nutzern und anderen zerschossen werden? Gibt es Ideen, diese Leute wieder für ernsthafte inhaltliche Diskussionen zu gewinnen oder – wenn nicht – sie zumindest von bestimmten Diskussionen fernzuhalten?

Auf der Republica und der Media Convention in Berlin ist Anfang Mai viel darüber diskutiert worden. Dabei wurden auch Perspektiven aufgezeigt für eine bessere Debattenkultur im Netz. Denn ein Netz ganz ohne Debatten – das geht nicht, findet Carline Mohr, die bis April das Social-Media-Team bei bild.de geleitet hat und ab Juni bei Spiegel online arbeitet.

Drei Punkte, denen in Berlin viele Social-Media-Redakteure zugestimmt haben.

1. Klar Kante zeigen

Klar Kante zeigen heißt: Beleidigungen, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Aufruf zu Gewalttaten und andere strafbare Inhalte konsequent ausblenden und gegebenenfalls auch juristisch verfolgen. Keine neue Idee, aber immer noch notwendig. Denn es gibt Nutzer, die sind auf anderem Wege nicht mehr für eine Debatte zurückzugewinnen, findet auch Carline Mohr.

Auch Jörg Heidrich, Justitiar beim Onlineportal Heise in Hannover, entdeckt in den Foren von heise.de immer wieder Einträge von Nutzern, die den Rahmen dessen überschreiten, was noch als erlaubte Meinung durchgehen kann. Diese Beiträge würden schnell gelöscht.

Volksverhetzung, Aufruf zu strafbaren Handlungen, Beleidigungen sollte man auch weiter nicht hinnehmen, sagt Heidrich.

2. Mit den Lesern sprechen

Viele Nutzer vertreten allerdings durchaus Meinungen, die zwar noch von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, aber die Diskussion vergiften können. Ihre Beteiligung beschränkt sich darauf, auf ihrer Meinung zu beharren, ohne sie argumentativ zu stützen. Ich habe dazu hier schon mal geschrieben:

…oft vermisse ich schon die Bereitschaft, überhaupt nur über die Meinung zu diskutieren. (…) Meistens (…) fehlt den Nutzern die kognitive Fähigkeit, sich über ein Thema auseinanderzusetzen. Selten wird ein sachliches Argument genannt, oft mit modernen Whataboutisms abgelenkt, wird mit Gefühlen, Klischees und Vorurteilen argumentiert, die sich niemand durch Fakten widerlegen lassen möchte.

Heike Gallery, bei ZEIT online zuständig für Social Media, sagte auf der Media Convention in Berlin, man müsse sich mit den Lesern und Nutzern austauschen. ZEIT online versuche, einen öffentlichen Raum herzustellen mit der Community, in dem Austausch möglichst sei, sachlich und konstruktiv.

Im Eröffnungspanel hat Frank Richter, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen, diese Gesprächsbereitschaft noch weiter gefasst. Zum Thema „Gesellschaft – it´s broken, let´s fix it!“ sagte er, vielen Menschen, die sich bei AfD und Pegida darüber beklagen würden, dass ihre Stimme nicht wichtig sei, würden sich wertgeschätzt fühlen, wenn sie endlich einmal öffentlich sagen könnten, was sie meinen, und dafür Zustimmung fänden (im Video ab Min. 8´24).

3. Die eigene Community stärken

Entsprechend versuchen seit einiger Zeit ZEIT online und sueddeutsche.de, ihre Community zu stärken.

Bei der Süddeutschen Zeitung können seit anderthalb Jahren nur noch ausgewählte Beiträge online kommentiert werden. Daniel Wüllner, Teamleiter Social Media und Leserdialog, findet das für eine gezielte und konstruktive Diskussion außerordentlich praktisch, denn gerade zu den am meisten diskutierten Themen eines Tages gebe es oft mehrere Beiträge – zum Beispiel ein aktuelles Stück, einen Hintergrund, Reaktionen und einen Kommentar. Würde man dort jeweils separat diskutieren, gäbe es gleich mehrere Diskussionsstränge zum selben Thema. Stattdessen bündelt sueddeutsche.de diese Beiträge zu einem einzigen Diskussionsstrang. Zieht sich ein Thema über mehrere Tage hin, könnten an jedem Tag verschiedene Aspekte diskutiert werden.

Heike Gallery von ZEIT online empfindet die Verengung der Themen, über die man bei sueddeutsche.de diskutieren kann, als nicht zeitgemäß. Es handle sich um das klassische Gatekeeper-Modell, weil Journalisten bestimmten, worum es gehen soll. Nutzer würden sich dann lieber andere Seiten suchen, um über die Themen zu diskutieren, die sie wichtig fänden, etwa bei Facebook. Gallery will die Leser aber lieber bei zeit.de halten, um die Hoheit über die Inhalte zu behalten und sich wie im Fall von Facebook nicht von einem US-Unternehmen abhängig zu machen.

Die ZEIT stärkt ihre Community, indem sie aus Kommentaren ihrer Nutzer kleine Boxen bastelt, die sie zum Beispiel per Twitter verbreitet.

Vorteil dieser Communitys: Jeder Kommentar wird gelesen, bevor er veröffentlicht wird.

4. Sich helfen lassen

Bei Facebook geht das nicht: Die Kommentarfunktion kann nicht abgeschaltet werden, und jeder Post geht direkt online. Je nach Medium, je nach Thema, je nach Mobilisierung der Nutzer ist es für die Redaktionen unmöglich, alle Kommentare zu lesen. Da wäre eine technische Hilfe wünschenswert, die Redakteuren kritische Kommentare zur Begutachtung vorlegt.

Ein Forschungsprojekt an der Universität Münster will da weiterhelfen. Der Wirtschaftsinformatiker Sebastian Köffer entwickelt einen Algorithmus, der Kommentare mit Hatespeech und Propaganda herausfiltern soll. Das ist gar nicht so leicht, denn Sprache ist längst nicht eindeutig, so dass ein Algorithmus direkt versteht, wie brisant ein Kommentar ist.

Schwierig wird es vor allem dadurch, dass Mehrdeutigkeit, Wortschöpfungen, Sarkasmus und Verneinungen schwer zu erkennen seien, sagt Köffer.

In solchen Fällen können auch Metadaten helfen. Die zeigen zum Beispiel, ob Profile gerade erst angelegt und Texte hineinkopiert wurden – und das bei vielen Profilen kurz nacheinander, was auf den Einsatz bezahlter Kommentatoren hindeutet.

Bis das Instrumentarium einsetzbar ist, kann es aber noch einige Zeit dauern. Und Köffer sagt, dass es nicht unbedingt auf allen Plattformen einsetzbar ist. Facebook zum Beispiel hat massenhaft Daten und Metadaten, um sich selbst ein solches Instrumentarium zu schaffen und anzuwenden. Was da passiert, wisse man aber nicht, so Köffer.

5. Mit Journalismuskritik umgehen

Eine besondere Herausforderung bei der Umgang mit Kommentaren stellt sich dann, wenn sich die Kritik von Nutzern gegen die eigene Arbeit richtet, man also in eigener Sache argumentieren muss. Journalisten geraten dann leicht in Erklärungsnot, weil Nutzer oft Dinge bemängeln, die entweder

  • nicht in der Verantwortung der Journalisten liegen (also wenn sie die Meinung maßgeblicher Protagonisten wiedergeben, die von Nutzern als unerwünscht angesehen werden – wenn also der Überbringer der Nachricht dafür geschlagen wird)
  • oder immanenter Bestandteil journalistischer Arbeit sind (schnelle Erstberichterstattung zunächst ohne Einordnung und Reaktionen)
  • oder vage Vorwürfe erheben (tendenzielle Berichterstattung zugunsten bestimmter Gruppen, ohne das zu belegen)

Es gibt freilich auch berechtigte Kritik. Die New York Times hat sich dafür vier Jahre lang eine Ombudsfrau geleistet. Margret Sullivan hat Fragen von Nutzern aufgegriffen, die Stichhaltigkeit der Anfragen und Vorwürfe geprüft und Redakteure weitergeleitet, die zur Antwort verpflichtet waren. Auch SZ-Redakteur Daniel Wüllner kann sich ein solches Amt vorstellen. Er sieht aber auch gewisse Probleme, dafür jemanden Vertrauenswürdigen zu finden, der sich sowohl bei Nutzern als auch bei den Journalistenkollegen unbeliebt macht.

An dieser Stelle gilt es noch weiter nachzudenken. Das wird unter anderem beim 2. Kölner Forum für Journalismuskritik am 10. Juni versucht.

„Es ist wichtig, mit den Lesern zu sprechen“

Ein Schwerpunkt der diesjährigen Republica und der Media Convention in Berlin war der Umgang mit Hass im Netz. Das wird seit dem vorigen Jahr breit diskutiert, nachdem die Anzahl der Hasskommentare vor allem gegen die vielen ankommenden Flüchtlinge enorm zugenommen hatte. In Berlin wurden Perspektiven aufgezeigt für eine bessere Debattenkultur im Netz. Welche das sind, darüber habe ich für das Medienmagazin des Deutschlandfunks, „Markt und Medien“, berichtet.

Mit Stimmen von

  • Carline Mohr, bis April Social-Media-Leiterin bei bild.de
  • Jörg Heidrich, Justiziar beim Onlineportal heise.de
  • Daniel Wüllner, Teamleiter Social Media und Leserdialog bei sueddeutsche.de
  • Sebastian Köffer, Wirtschaftsinformatiker von der Universität Münster