Die Kunst des guten Interviews (1): Als Brandt Nowottny auflaufen ließ

Wie das immer so ist bei längeren Sendungen: Man findet immer mehr brillantes Material als man am Ende unterbringen kann. Ich will daher in einer kleinen Serie noch auf ein paar sehens- und hörenswerte Interviews hinweisen, die ich entweder nur ausschnittsweise oder gar nicht in meinem Feature unterbringen konnte.

Fangen wir an mit dem legendären Interview, das WDR-Journalist Friedrich Nowottny 1972 mit dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt geführt hat. Es entstand kurz nach deutsch-französischen Konsultationen mit dem französischen Staatspräsidenten Georges Pompidou.

Nowottny stellte – jedenfalls in dem bekannten Ausschnitt – ausschließlich Fragen, die sich leicht mit Ja/Nein/Doch beantworten lassen. Das tat Brandt auch. Nowottny fasste aber an diesen Stellen überhaupt nicht nach.

Das Gespräch gilt deswegen als schlechtes, aber dafür sehr anschauliches Beispiel dafür, wie man Interviews nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich führen sollte: möglichst offene Fragen stellen und geschlossene nur, wenn man eine zugespitzte Antwort haben will und bereit ist, nachzufassen.

In einer WDR-Sendung erläuterte Nowottny Jahrzehnte später die Hintergründe zum Gespräch:

Nowottny erzählt darin, er habe das Interview für die Tagesschau unter schwierigen Umständen gemacht:

„Eine Minute und 30 Sekunden. Drei Fragen. Und da isser hingegangen, und Willy Brandt hatte das Gefühl, an einem bedeutenden staatspolitischen Ereignis teilgenommen zu haben, das war nämlich das Treffen mit Pompidou, die erste deutsch-französische Konsultation. Und sagte ihm das ((gemeint sind die 1:30 Min.)), und schon war er natürlich beleidigt.“

Die Friedrich-Ebert-Stiftung wies nach meinem Feature darauf hin, dass Nowottny durchaus mehr Fragen gestellt habe.

Dort hat Brandt teils auch länger geantwortet – aber das lag nicht an Nowottnys Fragen, sondern an Brandts Lust, zu antworten. Denn auch vorher und nachher hat Nowottny noch zwei weitere geschlossene Fragen gestellt, wie sich dem Protokoll entnehmen lässt:

„Ist es das tatsächlich?“

„Ist das richtig?“

Dann kommt noch eine Feststellung statt einer Frage – und erst am Ende stellt Nowottny eine offene Frage:

„…was hat Sie nicht befriedigt bei diesen Konsultationen?“

Der Kontext ist also verkürzt, aber der Eindruck, der durch die 30 Sekunden entsteht, nicht falsch.

„Lassen Sie uns den Quatsch beenden“ – Die Kunst des guten Interviews

Konfrontativ, informativ oder sterbenslangweilig – Interviews können vieles sein. Hier laufen die Befragten zur Höchstform auf oder lassen sich in die Ecke drängen. Doch wie geht der Interviewer vor? Wie bereitet man sich vor, wie hält man durch und was muss getan werden, damit am Ende alle etwas davon haben?

Ich habe mich für @mediasres im Deutschlandfunk in den vergangenen Wochen viel mit der Darstellungsform Interview beschäftigen dürfen und hatte das Glück, dass mir ZDF-Moderatorin Marietta Slomka, ORF-Moderator Armin Wolf und Deutschlandfunk-Kollegin Sandra Schulz erklärt haben, wie sie ihre Rolle verstehen, wie sie sich vorbereiten und wie sie mit ihren Interviewpartnern umgehen, um Zuschauern möglichst viel zu vermitteln.

Das ganze Feature läuft am Karfreitag ab 15.05 Uhr im Deutschlandfunk – gibt es natürlich hier auch jetzt schon online. Dort kann man auch viele Interviews nachlesen – empfehlenswerter ist es aber, sie sich selbst anzusehen oder anzuhören.

Ich empfehle zum Anfang schon mal einen kurzen Klassiker: Friedrich Nowottny interviewt Willy Brandt. 1972 redete der WDR-Fernsehjournalist und Moderator des „Berichts aus Bonn“ kurz mit dem damaligen Bundeskanzler – nach dessen Konsultationen mit dem französischen Staatspräsidenten Georges Pompidou.

Ein Lehrstück, wie man es nicht machen sollte: nur geschlossene Fragen, auf die Willy Brandt ganz einfach antworten konnte, ohne sich eine einzige kritische Frage anhören zu müssen. In einer WDR-Sendung hat Nowottny später angedeutet, warum das Gespräch so lief wie es lief:

Wie es besser geht, lässt sich im Feature nachhören.

Wie arbeiten Auslandsjournalisten in der Corona-Krise?

Viele Korrespondentinnen und Korrespondenten berichten derzeit nicht wie gewohnt aus dem Ausland – weil die Sender während der Coronakrise eine Abwägung treffen müssen zwischen der Pflicht zur Berichterstattung und der Sicherheit der Mitarbeiter. Wie kann Auslandsberichterstattung jetzt noch funktionieren?

Darüber habe ich in einer spannenden Runde geredet – mit

  • Thilo Kößler, USA-Korrespondentin des Deutschlandradios in Washington, im Moment aber im Homeoffice in Köln, weil er wegen familiärer Gründe ausreisen musste und nun wegen des Einreisestopps nicht zurück kann
  • Simone Schlindwein, Pauschalistin für die taz in der Region der Großen Seen in Afrika, unter anderem für Uganda, Ruanda und die Demokratische Republik Kongo, wegen Ausgangsbeschränkungen im Moment im Homeoffice in Kigali
  • Marc Dugge, ARD-Hörfunkkorrespondent in Madrid
  • Ulf Röller, ZDF-Korrespondent Ostasien in Peking

Ich habe unter anderem danach gefragt, wie in so einer Krise die Auslandsberichterstattung gesichert werden kann, wo es in vielen Ländern Ausgangsbeschränkungen gibt, die teilweise auch Journalistinnen und Journalisten betreffen, Berichterstattung also teilweise nicht möglich ist.

Eine meiner Fragen: Können gerade öffentlich-rechtliche Sender ihre Korrespondenten nicht abziehen, weil sie wegen des Rundfunkbeitrags einen besonderen Informationsauftrag haben? Darüber musste ZDF-Korrespondent Ulf Röller laut lachen – auch wenn das merkwürdig klinge, sagte er, es sei gerade die spannendste Zeit seines Journalistenlebens und er wolle gar nicht zurück.

Auch Thilo Kößler zieht es zurück in die USA; sobald es möglich wird, will er wieder zurück.

Eine interessante Runde von einer Kollegin und drei Kollegen, die für ihre Arbeit brennen und das Beste aus der Situation machen.

Kann man hier hören und noch ein paar Zusatzinfos dazu lesen, welche Medien ihre Berichterstattung teilweise einschränken mussten, weil die Korrespondent*innen nicht am Ort sein können.

Dokumentarfilmer: „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht uns“

Seit 40 Jahren kümmert sich die „Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm“ (AG Dok) um die Interessen der Dokumentarfilmer. Zwar gebe es heute eine vielfältige Szene, sagte Thomas Frickel, Vorstand des Berufsverbands, im Dlf. Doch seien auch neue Probleme hinzugekommen. Besonders in der Pflicht sieht er ARD und ZDF.

Mein Interview mit Thomas Frickel in @mediasres im Deutschlandfunk.

Warum Talkshows nicht der Bundestag sind

Mitte Dezember hat das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) eine Bilanz der vier größten politischen Talkshows des Jahres 2019 gezogen. Erst mal rein quantiativ, indem es ausgewertet hat, welche Politiker*innen in diesem Jahr zu Besuch waren und von welchen Parteien sie stammen.

Kann man machen.

Problematisch ist aber die Art und Weise, in der die Kolleg*innen das tun. Indem sie versuchen, einzuordnen, inwiefern die Einladungen legitim sind, legen sie einen fragwürdigen Maßstab an.

An mehreren Stellen im Text wird die Zahl der Einladungen in eine Talkshow verglichen mit dem Anteil der Sitze, den die Partei der eingeladenen Gäste im Bundestag haben. So heißt es etwa:

Der erste AfD-Politiker in der Statistik ist Alexander Gauland mit vier Auftritten. Gemessen an der Sitzverteilung im Bundestag ist die AfD in den Sendungen stark unterrepräsentiert.

Und:

Neben der AfD sind auch die Linkspartei und die Union leicht unterrepräsentiert.

Warum die Sitzverteilung im Bundestag relevant sein soll dafür, wen Journalisten in Talkshows eingeladen werden, lässt das RND offen. Würde man sich auf die Logik einlassen, hieße das, dass letztlich die Wähler darüber entscheiden, welche Parteien mit ihren Repräsentanten besonders häufig in Talkshows auftauchen. Es ist aber nicht die Aufgabe von Journalisten, in ihren Sendungen Bundestag nachzuspielen. Sie sollen vielmehr besonders in der Darstellungsform Talkshow eine Debatte über ein Thema führen und dazu Gäste einladen, die zum Thema etwas zu sagen haben. Dabei ergibt es keinen Sinn, jemanden einzuladen, der über ein Thema nichts sagen kann, nur weil er dran ist.

Es gibt kein Recht auf Sendezeit, kommentiert Talkshow-Beobachter Arno Frank zurecht im Deutschlandfunk. Und er schreibt:

Den Ort, an dem in aller Öffentlichkeit ausgewogen und ausdauernd debattiert wird, gibt es nämlich schon. Es ist der deutsche Bundestag.

Der Streit um die Vermögensschere

Geht sie nun immer weiter auseinander oder nicht: die Schere zwischen Arm und Reich? Die einen Fachleute sagen das seit Jahren, andere widersprechen postwendend. Wie geht man als Journalistin oder als Journalist damit um? Darüber habe ich mit Deutschlandfunk-Wirtschaftsredakteurin Sina Fröhndrich in @mediasres gesprochen.

Filme zwischen Fiktion und Wirklichkeit

„Der König von Köln“ heißt Josef Asch. Ein Bauunternehmer, der sich vom Polier hochgearbeitet hat und nach und nach einen großen Teil der Kölner Wirtschafts- und Politik-Elite in die Tasche steckt. In der Satire mauschelt Asch mit einem Kölner Bankier und bringt am Ende die Kölner Bürger um Millionensummen.

Vorbild des Fernsehfilms im Ersten, der noch in der Mediathek zu sehen ist, ist der Skandal um den Bau der KölnArena und des Kölner Stadthauses sowie die Pleite des damaligen Karstadt-Mutterkonzerns Arcandor.

Am Anfang des Films wird eingeblendet: „Die handelnden Figuren sind frei erfunden.“ Ich hab den Produzenten Michael Souvignier für @mediasres im Deutschlandfunk gefragt, wer ihm das abnehmen soll – schließlich geht Josef Asch ziemlich unverhohlen auf den Bauunternehmer Josef Esch zurück, der im Mittelpunkt des Kölner Immobilienskandals stand.

25 Jahre Deutschlandradio – beim Tag der offenen Tür in Köln

Das Deutschlandradio, für das ich arbeite, ist in diesem Jahr 25 Jahre alt geworden. Nicht die einzelnen Sender Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova, sondern die gemeinsame Mutter sozusagen, die Träger der drei Sender ist – eben das Deutschlandradio.

Zum Geburtstag gab es im Mai schon einen Tag der offenen Tür im Funkhaus in Berlin, in dem Deutschlandfunk Kultur entsteht. Am 22. September können sich Hörer*innen das Funkhaus in Köln anschauen, in dem Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Nova gemacht werden.

In der Einladung schreibt Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue:

Schauen Sie hinter die Kulissen des Kölner Funkhauses, blicken Sie ins Studio, lernen Sie die Gesichter zu bekannten Stimmen und die Köpfe hinter Ihren Lieblingssendungen kennen. Vor allem: Erzählen Sie und fragen Sie. Wir wollen mit Ihnen ins Gespräch kommen. Sie werden feststellen, so ein Funkhaus steckt voller engagierter Menschen. Und so wünsche ich Ihnen, dass Sie viel sehen, noch mehr hören und einen spannenden Tag im Funkhaus erleben.

Am Nachmittag präsentiert sich auch das Medienmagazin @mediasres, für das ich arbeite. Zwischen 13.30 und 15 Uhr arbeiten wir mit Hörern in einem Studio.

Wie das Überspitzen von Interviewaussagen Debatten verdirbt

Zuspitzungen sind seit jeher das Geschäft von Journalisten. Sie sind um Aufmerksamkeit für ihre Arbeit und ihr Medium bemüht – nicht zuletzt, seit das Verkaufen im Netz wichtiger geworden ist als in der Zeit, als man sich noch auf Abos ausruhen konnte.

Die Bedingungen des Netzes sorgen aber für eine ganz besondere Art der Zuspitzung. Denn es muss nicht nur die tägliche Zeitung verkauft werden, sondern jeder einzelne Artikel muss an den Mann und die Frau gebracht werden.

Aus mancher Zuspitzung wird aber auch mal eine Überspitzung. Da wird eine Aussage, ein Zitat nicht nur gedeutet, sondern etwas mehr daraus gemacht als ursprünglich gesagt wurde. In den letzten Wochen und Monaten haben Journalisten dafür mehrere Beispiele geliefert – und immer waren es Aussagen in Interviews. Die Konsequenz war in allen Fällen gleich: Nicht die eigentliche Aussage sorgt für Empörung und Protest, sondern die Überspitzung.

Kramp-Karrenbauer droht mit Parteiausschlussverfahren, ohne mit Parteiausschlussverfahren zu drohen

Jüngstes Beispiel: das Interview der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer für die Funke-Mediengruppe über den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen. Sie „drohe“ mit einem Parteiausschlussverfahren, hieß es in der Zusammenfassung, die die Funke-Redaktionen selbst geschrieben haben.

Diese „Drohung“ liest sich im Zusammenhang des Interviews  folgendermaßen:

Frage: Der entlassene Verfassungsschutzchef, CDU-Mitglied Maaßen, fällt mit rechtskonservativen Sprüchen auf. Denken Sie über einen Parteiausschluss nach?

Kramp-Karrenbauer: Als ehemalige Innenministerin bin ich froh, dass Herr Maaßen keine Verantwortung mehr für den deutschen Verfassungsschutz hat. Die CDU hält es aus, wenn unterschiedliche Meinungen geäußert werden. Aber: Die CDU ist auch eine Partei, die von einer gemeinsamen bürgerlich-konservativen Haltung getragen wird. Eine Politik unter dem Deckmantel der CDU zu machen, die den politischen Gegner vor allem in den eigenen Reihen sieht, wird dieser Haltung nicht gerecht. Es gibt aus gutem Grund hohe Hürden, jemanden aus einer Partei auszuschließen. Aber ich sehe bei Herrn Maaßen keine Haltung, die ihn mit der CDU noch wirklich verbindet.

Von Parteiausschluss unter Bezug auf Maaßen spricht Kramp-Karrenbauer nicht ausdrücklich; sie sagt eher allgemein, dass die Bedingungen dafür hoch seien, spricht sich aber nicht ausdrücklich dafür aus, Maaßen auszuschließen. Eine Drohung ist das nicht, vielleicht nicht mal eine Forderung.

Ist es also unzulässig, ihre Aussage in diese Richtung zu überspitzen? Genauso gut hätte man formulieren können, sie lege ihm einen Parteiaustritt nahe. Zwei mögliche Interpretationen ihrer Aussage – die Funke-Mediengruppe hat sich für erstere entschieden. Im Laufe des Tages dementierte zunächst CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, dass Kramp-Karrenbauer das so gemeint habe.

Später äußerte sich auch Kramp-Karrenbauer entsprechend.

Inzwischen hat auch die Funke-Mediengruppe die Formulierung zurückgenommen. Der Artikel lässt erkennen, dass es mindestens drei Fassungen gab. Dort heißt es in der Überschrift sachlicher als zuvor:

CDU-Chefin AKK: „Wir haben im Moment eine Schwächephase“

Die Webseite ist anders betitelt. Im Reiter des Browsers steht noch der Text:

AKK kritisiert Maaßen – Seine Haltung passe nicht mehr zur CDU

Nur in der URL ist die alte Fassung noch zu finden, demnach hieß es dort:

AKK droht Hans-Georg Maaßen mit CDU-Parteiausschluss

https://www.morgenpost.de/politik/article226803329/AKK-droht-Hans-Georg-Maassen-mit-CDU-Parteiausschluss.html

Von Drohung ist aber inzwischen keine Rede mehr.

Auch im Hamburger Abendblatt, das ebenfalls zur Funke-Mediengruppe gehört, ist die ursprüngliche Überschrift korrigiert worden, auch hier ist die URL aber noch dieselbe und verrät den ursprünglichen Titel des Artikels. Außerdem verweist die Artikelnummer darauf, dass es sich um den identischen Inhalt handeln dürfte.

Wie Bastian Brauns feststellt, seien alle Überschriften intransparent ausgetauscht worden.

Eine Kleinigkeit, könnte man meinen. Aber das Thema hat die politische Berichterstattung des Tages bestimmt – vor allem durch diesen Dreh, den auch die dpa genutzt und damit entscheidend zur Weiterverbreitung in anderen Medien beigetragen hat. Sie schrieb:

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer bringt im Fall des umstrittenen Ex-Verfassungsschutzchefs und CDU-Mitglieds Hans-Georg Maaßen ein Parteiausschlussverfahren ins Spiel. «Es gibt aus gutem Grund hohe Hürden, jemanden aus einer Partei auszuschließen. Aber ich sehe bei Herrn Maaßen keine Haltung, die ihn mit der CDU noch wirklich verbindet», sagte Kramp-Karrenbauer den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Samstag) auf die Frage, ob sie über einen Parteiausschluss Maaßens nachdenke.

(Ins Spiel gebracht hat sie das Thema auch nicht; sie hat auf eine Frage reagiert.)

Schließlich setzen viele Medien dpa-Meldungen mehr oder weniger unredigiert auf ihre eigenen Seiten – und heizen mit dieser Dutzendfachen Verbreitung dieser einen Interpretation die Debatte weiter an. Auch in Bezug auf einen anderen Tweet von Maaßen hatte sich das wieder gezeigt.

Linnemann redet von Grundschulverbot, ohne von Grundschulverbot zu reden

Ein ähnlicher Mechanismus hat auch bei einem Interview mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Carsten Linnemann gegriffen. Dieses Interview hatte die Rheinische Post geführt. Sie selbst war bei der redaktionellen Auswertung auch nicht gerade zurückhaltend, formulierte sie für die Überschrift der redaktionellen Auswertung (nicht des Interviews selbst) doch einen Satz, den Linnemann im Gespräch selbst gar nicht so gesagt hatte.

Erst später nahm die Redaktion die Anführungszeichen weg, so dass Linnemann nur noch sinngemäß, aber nicht wörtlich zitiert wurde.

Im Text hieß es dann mit Zu-, aber nicht unbedingt Überspitzung:

Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende, Carsten Linnemann, hat Konsequenzen für Erstklässler gefordert, die schlechte Deutschkenntnisse haben. „Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen“, sagte der CDU-Politiker unserer Redaktion. „Hier muss eine Vorschulpflicht greifen, notfalls muss seine Einschulung auch zurückgestellt werden. Das kostet Geld, aber fehlende Integration und unzureichende Bildung sind am Ende viel teurer.“

Erneut sorgte aber wieder die dpa für die eigentliche Verbreitung des Interviews – und mit ihrer Überspitzung für die besonders starke Wirkung. Eine dpa-Meldung und ein Tweet waren ursprünglich so betitelt:

CDU-Politiker: Grundschulverbot für Kinder, die kein Deutsch können

Dabei hatte Linnemann den Begriff „Grundschulverbot“ selbst nicht verwendet, wie dpa-Textchef Froben Homburger später in einem Thread einräumte.

Auch diese Äußerungen haben zu einer breiten Debatte geführt, die ohne die Zuspitzung womöglich nicht so gekommen wäre. Hinzu kam: Der Wortlaut des Interviews mit Linnemann war nur zu lesen, wenn man sich bei der RP registriert. Das ist zwar keine finanzielle, aber eine kleine organisatorische Hürde, die nicht jeder nehmen möchte, der kurz durchs Nachrichtengeschehen scrollt. Wenn ein Interview aber hinter einer harten Paywall steckt, kommt der interviewführenden Redaktion eine ganz besondere Verantwortung zu. Wenn nämlich nicht die komplette Öffentlichkeit Zugriff auf das Originalgespräch hat, sondern nur ein Teil, kann sich die Diskussion notwendigerweise nur auf das beziehen, was öffentlich zugänglich ist – und das ist in der Regel die Zusammenfassung der eigenen Redaktion und das, was andere Medien daraus machen.

Der Digitalberater Thomas Knüwer empfiehlt sogar, dass Politiker Interviews nur noch geben sollten, wenn diese nicht hinter einer Paywall landen. Auch so sei es für Leser schon unnötig aufwendig, sich das Originalzitat anzuschauen, wenn Medien nicht auf andere Medien verlinken – zumal, füge ich hinzu, Leser erst mal keinen Hinweis darauf haben, warum die Zusammenfassung falsch sein sollte.

Wir sehen: die neue Normalität der Medienwelt. Ein Interview wird hinter einer Bezahlwand versteckt, eine zugespitzte Meldung soll das Interesse fördern. Doch es ist die Zuspitzung, die sich verbreitet, nicht das Urstück.

Kühnert fordert Verstaatlichung von BMW, ohne Verstaatlichung von BMW zu fordern

Kommt Ihnen das bekannt vor? Kein Wunder, im Mai erging es dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert so. Plötzlich wurde überall getitelt, Kühnert fordere eine Verstaatlichung von BMW. Aber auch in diesem Fall hatte der Interviewte den Begriff nicht genutzt. Kühnert sprach stattdessen von einer Kollektivierung – und zwar auch nur auf Nachfrage der Interviewer. Zwischen Verstaatlichung und Kollektivierung besteht aber ein Unterschied. Samira El Ouassil hat hier ausführlich dargestellt, wie das passiert ist – und wie wenig danach. Was hängen blieb: Kühnert fordert Verstaatlichung von BMW.

Das Muster

Man könnte noch weitere Beispiele finden. Nicht immer sind es Medien, die zu solchen Überspitzungen neigen. Es sind auch politische Konkurrenten, die das tun. Diese haben aber ihr eigenes Interesse in der politischen Auseinandersetzung, das ich für legitimer halte als das von Journalisten, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlen sollten.

Das Muster bei solchen Überspitzungen ist immer dasselbe. Der Wortlaut des Interviews wird nicht defensiv genug ausgelegt. Die Differenzierung, die von den Interviewten vorgenommen wurde, ihre möglicherweise bewusste Wortwahl wird überdreht. Damit drehen die Journalisten den Interviewten vielleicht ein wenig zu stark im Mund herum.

Wann ist aber eine journalistische Zuspitzung zulässig und wann führt sie zu weit? Selbst unterstellt, dass die Politiker die Tragweite ihrer Äußerungen erst begriffen haben, als die Debatte ausgebrochen war, und versuchten, sie zurückzunehmen – gefallen waren die entscheidenden Begriffe Parteiausschlussverfahren, Grundschulverbot und Verstaatlichung in den jeweiligen Fällen nicht. Sie spielen für die Wirkung für die Debatte aber eine entscheidende Rolle.

Die Rolle der Politiker*innen

Natürlich sind sich Politiker*innen dessen bewusst, was sie sagen. Und bei Interviews für Zeitungen wird in Deutschland in der Regel eine Autorisierung vereinbart, das heißt, sie nehmen den Wortlaut des Gesprächs noch mal ab und verändern ihn ggf., falls sie sich falsch verstanden fühlen oder eine Formulierung im frei gesprochenen Wort nicht ganz saß. Das bedeutet vor allem, dass der Wortlaut in der gedruckten Fassung der Intention der Interviewten entspricht.

Der Politikberater Johannes Hillje beschreibt es in der Saarbrücker Zeitung so:

Es ist richtig, sie hat explizit kein Parteiausschlussverfahren gefordert, sie hat den Begriff aber quasi in einem Atemzug mit der Kritik an Hans-Georg Maaßen genannt. Daher muss sie davon ausgehen, dass auch eine Diskussion darüber geführt wird. Das Zusammenführen unterschiedlicher Themenkomplexe bedeutet ja schon den Start einer Debatte. Das hätte ihr und ihrem Team auffallen müssen bei der Autorisierung des Interviews.

Deswegen findet Hillje auch nicht, dass Journalisten eine besonders große Mitverantwortung dafür haben, dass Kramp-Karrenbauer so missverständlich rübergekommen ist.

Inzwischen können Politiker allerdings sogar damit rechnen, dass sie selbst nicht die Reizwörter aussprechen müssen, die sie möglicherweise meinen. Wenn Kramp-Karrenbauer ein Parteiausschlussverfahren ins Spiel bringen will, kann sie sich auf eine entsprechende Frage auch zurückhaltender (und etwas verschwurbelt) äußern; dennoch besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ihr unterstellt wird, was sie nicht eindeutig gesagt hat. Anschließend kann sie dann unter Verweis auf den Wortlaut dementieren. Auch Linnemann kann sich so herausreden.

Allerdings bleibt für mich auch fraglich, was sie durch das Herausreden gewonnen haben, denn die Aufregung über ihre Worte ist da – und das Dementi hilft ihnen in der politischen Debatte nicht unbedingt. Wenn sie darauf spekulieren, vom Wähler richtig verstanden zu werden, haben sie das nur dank der Medien tun können. Auch in dem Fall stehen Journalisten in der Verantwortung.

Die Folgen

Natürlich sind gerade private Medien darauf angewiesen, für ihre Produkte Aufmerksamkeit zu bekommen (öffentlich-rechtliche tun das auch). Diese darf aber nicht darauf beruhen, dass Äußerungen sinnentstellend wiedergegeben werden und damit zu inhaltsleeren Debatten führen. Der Öffentlichkeit nutzt es wenig, wenn über etwas diskutiert wird, das niemand gefordert hat – und auch die anschließende relativierende Berichterstattung über die Äußerungen könnte man sich dann sparen.

Pablo Jost, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik der Universität Mainz, hat schon Ende Juli aus Anlass eines anderen Falls dem Tagesspiegel gesagt:

Die skandalisierte Aufbereitung (vermeintlicher) Normverstöße bringt Aufmerksamkeit und Werbeeinahmen. Allerdings birgt der Fokus auf reißerische und polarisierende Themen die Gefahr, dass auch der gesellschaftliche Diskurs schärfer geführt wird. Auch geraten Themen in den Hintergrund, die weniger spektakulär aufbereitet werden können, aber dennoch von gesellschaftlicher Relevanz sind.

Irrelevante Debatten nutzen aber auch den Medien wenig, die sie ausgelöst haben. In erster Linie kann das dazu führen, dass die Interviewten sich genauer überlegen, unter welchen Bedingungen sie dem Medium noch ein Interview geben, wenn ihre Aussagen überspitzt wiedergegeben werden. In zweiter Linie stärkt es aber auch nicht gerade das Vertrauen der Nutzer in die Redaktionen. Mein Kollege Christoph Sterz hat es in der Medienkolumne in der WDR5-Sendung „Politikum“ so formuliert:

Wenn ich als Mediennutzer ständig Dinge höre oder lese, die wenig später korrigiert werden, dann kann ich doch auf Dauer nur das Vertrauen in die meisten Medien verlieren.

Und damit schaden die Medien in dritter Linie der öffentlichen Debatte.

Was nach solchen Fällen aber auch zwangsläufig folgt: eine Debatte darüber, ob die Politiker das wirklich so gesagt haben und die Kritik an Redaktionen, die für die Überspitzung gesorgt haben. Auch diese Zeit für unnötige Diskussionen und Meta-Debatten könnten wir uns sparen.

Ein Rücktritt ist nicht immer ein Rücktritt

Wann genau ist Heinz-Christian Strache eigentlich als österreichischer Vizekanzler zurückgetreten? Klar, das war am Samstag. Aber wann wurde sein Rücktritt wirksam?

Journalist*innen verheddern sich immer wieder, wenn es um Rücktritte geht. Denn nicht immer ist ein Rücktritt gleich vollzogen, wenn ihn jemand ankündigt. In der Realität gibt es da nämlich unterschiedliche Stufen, die ich mal so kategorisieren würde:

  • Politiker*in kündigt Rücktritt an, vollzieht ihn aber nicht sofort und nennt dafür auch kein Datum
  • Politiker*in kündigt Rücktritt mit Termin an
  • Politiker*in sagt, dass er/sie Rücktritt angeboten habe, dieser aber noch nicht angenommen wurde
  • Politiker*in tritt zurück

Journalisten scheren das allerdings oft über einen Kamm, auch am Samstag bei Strache. Denn er hatte am Mittag seinen Rücktritt nur angeboten.

Wörtlich sagte Strache:

Deshalb hab ich heute um 11 Uhr auch ein Gespräch mit Herrn Bundeskanzler Sebastian Kurz gehabt, wo ich meinen Rücktritt von der Funktion des Vizekanzlers der Republik Österreich angeboten habe und er diese Entscheidung annehmen wird.

Kurz wollte sich ursprünglich um 14 Uhr zu Wort melden, tat das aber stundenlang nicht. Erst um 19.45 Uhr trat er vor die Kameras und nahm den Rücktritt an. Bis dahin war dieser in der Schwebe.

Das hielt Medien aber nicht davon ab, schon am Mittag von Straches Rücktritt zu schreiben. Die Überschriften waren oft falsch, die Teaser aber zumindest meistens richtig.

 

Man mag das kleinlich finden, aber es spielt gerade in der Verlaufsberichterstattung etwa im Radio, Fernsehen oder online schon eine Rolle, wie gerade jeweils der Stand der Dinge ist. Zumal sich die Lage in Österreich am Wochenende auch eher langsam entwickelt hat. Hatte man schon für den Mittag erwartet, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz Straches Rücktritt annimmt, so geschah das tatsächlich erst am Abend.

Ähnlich am gestrigen Montag: Zwar hatte Kanzleramtsminister Gernot Blümel schon am Sonntag angekündigt, dass Kurz Innenminister Herbert Kickl entlassen würde und Kurz sich auch am Mittag geäußert hat, so geschah die eigentliche Entlassung tatsächlich erst am Abend. Und auch das ist genau genommen keine Entlassung, denn Kurz kann sie dem Bundespräsidenten nur vorschlagen.