Ein Flüchtling als Täter? Journalisten müssen dem Subtext widerstehen

In Berlin ist ein Lastwagen in eine Menschenmenge gefahren. Viel mehr als das wissen wir eigentlich nicht. Zwar gehen sowohl Bundesinnenminister Thomas de Maizière als auch das Bundeskriminalamt von einem Anschlag aus. Allerdings wissen die Behörden viel zu wenig, um sich dabei ganz sicher sein zu können.

Sicherlich spricht vieles dafür, etwa der Modus Operandi, den wir aus Nizza kennen. Aber welche Motive den Fahrer, der offensichtlich auf der Flucht ist, angetrieben haben, bleibt offen. Bis dahin sollten wir vorsichtig sein, wie wir über den Fall reden.

Ich erinnere daran, dass nicht nur Journalisten, sondern auch Politiker und eine große Öffentlichkeit schon bei anderen Fällen daneben gelegen haben. Als im Regierungsviertel in Oslo eine Bombe explodierte, fiel der Verdacht schnell auf Islamisten. Es war aber ein Rechtsextremist. Als ein Flugzeug von Germanwings in den französischen Alpen abstürzte, ging man von einem Terroranschlag aus. Es war aber offensichtlich ein Selbstmörder.

Wer sagt, dass es nicht auch in Berlin andere Optionen gibt – überraschende, unerwartete Erkenntnisse?

Das macht die Ereignisse, die Tat nicht weniger schrecklich. Es ist aber wichtig für die Diskussion, die wir danach führen. Denn Konsequenzen können wir nur ziehen, wenn wir wissen, woraus eigentlich.

Wenn CSU-Chef Horst Seehofer eben wegen der Tat in Berlin eine andere Flüchtlings- und Einwanderungspolitik fordert, scheint er mehr über die Tat zu wissen als alle anderen. Wahrscheinlicher ist, dass er die Tat operationalisiert, um seine ohnehin bekannten Positionen erneut ins Gedächtnis zu rufen und durchzusetzen.

Trotz der Kritik daran hat der bayerische Innenminister Joachim Herrmann heute früh noch mal in dieselbe Kerbe geschlagen. Im Deutschlandfunk sagte er, unabhängig von dem Anschlag in Berlin gebe es ein erhöhtes Risiko von islamistischen Anschlägen. In Paris und Brüssel, aber auch bei den Anschlägen in Würzburg und Ansbach habe es sich jeweils um Personen gehandelt, „die im Rahmen des Flüchtlingsstroms nach Deutschland gekommen sind“, betonte Herrmann.

Ich fasse mal zusammen: In Berlin war es kein Flüchtling. Genau deswegen müssen wir die Flüchtlingspolitik ändern.

Journalisten müssen vorsichtig sein, wie sie mit solchen Äußerungen umgehen. Wenn wir sie ohne Einordnung weitergeben, setzen wir damit ein Narrativ in Kraft, das von der Realität nicht gedeckt ist. Wenn wir die AfD zitieren, Bundeskanzlerin Angela Merkel sei wegen ihrer Flüchtlingspolitik für die Tat verantwortlich, erzählen wir im Subtext, die Tat sei von einem Flüchtling begangen worden. Dabei lässt sich das weder mit Gewissheit sagen noch ausschließen. Es dient aber denjenigen, die diese Lesart durchsetzen wollen.

Journalisten können den Wettbewerb mit Social Media nicht gewinnen

Es erscheint paradox: Ausgerechnet bei dem mutmaßlichen Anschlag von Berlin, dem bisher größten in Deutschland in der aktuellen Terrorlage, bleibt die Diskussion in der Öffentlichkeit weitgehend ruhig. Verglichen mit den Anschlägen von Paris, Brüssel und Nizza hält sich die Aufgeregtheit in Grenzen. Dass „die Medien“ diesmal zu spät oder gar nicht reagiert hätten, habe ich als Vorwurf selten gelesen und gehört. Vielleicht, weil viele Redaktionen diesmal tatsächlich schnell auf Sendung und online waren – ganz gleich, was es zu berichten gab.

Genau das ist aber das Problem solch einer Berichterstattung, wie sich in diesem Fall wieder einmal daran gezeigt hat, dass sie sich zu stark auf eine Person konzentriert hat.

Hilfreich ist das nicht.

Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat die Berichterstattung im Deutschlandfunk analysiert. Er sagte, sie besitze eine offene Flanke – Ungewissheit verbunden mit Geschwindigkeitsrausch im digitalen Zeitalter sei eine fatale Kombination. Klassischer Journalismus stehe vor einem Dilemma. Das Publikum treibe ihn in den sozialen Medien, schneller und früher zu berichten – gleichzeitig gehöre es zum Markenkern von Journalismus, Fakten zu vermitteln. „Diesen Geschwindigkeitswettbewerb mit den sozialen Medien kann man gar nicht gewinnen“, sagte Pörksen.

Deswegen sollte man ihn am besten gar nicht erst beginnen. Getrieben dazu fühlen sich Journalisten aber nicht nur von Nutzern in sozialen Netzwerken, sondern auch von den Anbietern selbst.

Patrick Beuth schreibt bei Golem, in Gefahrenlagen wie denen in Berlin aktiviere etwa Facebook einen sogenannten Safety Check. Damit können Nutzer leicht und schnell bekanntgeben, dass sie sich nicht oder nicht mehr in Gefahr befinden.

Anfangs waren nur wenige Facebook-Mitarbeiter in der Lage, den Safety Check auszulösen. Mittlerweile tun das die Nutzer selbst. Stojanow sagt, sobald bestimmte Begriffe wie Feuer, Erdbeben oder auch Anschlag in einer Region so häufig von Facebook-Nutzern gepostet werden, dass sie einen Schwellenwert überschreiten und die entsprechende Nachricht auch von externen Dritten verbreitet wird, denen Facebook vertraut, löse die Funktion automatisch aus.

Damit konstruiert Facebook allerdings eine eigene Realität. So wurde der Safety Check zunächst „Der Anschlag von Berlin“ genannt, lange bevor die Polizei diesen Verdacht bestätigte. Später hieß es „Gewalttat“, dann „Der Vorfall am Weihnachtsmarkt in Berlin“. Safety Check ohne Faktencheck: Die Titel vergeben Facebook-Mitarbeiter und produzieren so Fake-News. Denn Nutzer gehen davon aus, zu den entsprechenden Schlagworten auch Informationen zu finden, was bei seriösen Medien in dieser Schnelligkeit nicht geht. So werfen sie ihnen vor, zu langsam zu sein.

Da hilft es auch nicht, wenn Journalisten mehr und mehr darauf setzen, nicht nur zu sagen, was sie wissen (was lange dauert), sondern auch, was sie nicht wissen (was recht schnell geht). Stefan Niggemeier hat bei Übermedien.de allerdings festgestellt, dass viele unter „Wissen“ jetzt nicht auflisten, was sie nicht wissen, sondern welche Gerüchte sie kennen – was so ziemlich das Gegenteil von Wissen sei. Allerdings sei es in so einer unübersichtlichen Situation wichtig, sich auf Fakten zurückzuziehen:

Hinter der Frage nach dem Umgang mit diesem Format steht ja eine sehr viel größere: In welchem Umfang Medien sich überhaupt auf Spekulationen einlassen sollen. Der Druck aus den digitalen Netzwerken, sofort das zu melden, was vermeintlich auf der Hand liegt, ist riesengroß. Die Lügenpresse-Rufer sahen schon in jeder korrekten Zurückhaltung, im Abwarten von Bestätigungen, einen Beweis, dass die etablierten Medien am liebsten die Wahrheit gar nicht melden wollten („die Wahrheit“, die sie selbst natürlich längst kannten).

Der freie Journalist Michael Hirschler hat bei Twitter gefordert:

Das finde ich problematisch. Denn dieser Wettbewerb läuft unter ungleichen Voraussetzungen. Oft haben sich Gerüchte schon auf ihren Weg durch die sozialen Netzwerke gemacht, während Journalisten immer noch nicht loslaufen können, weil sie erst Informationen recherchieren müssen. Und das braucht Zeit, wie man nicht müde werden kann zu betonen. Insofern ist Lisa Hegemann bei t3n zuzustimmen:

Die Medien sollten nur das berichten, was schon valide ist (…). Der Journalismus kann schnell sein, er muss dann aber auch richtig liegen. Er muss all das, was ungefiltert in unseren Feeds aufschlägt, einordnen und bewerten. Sonst unterscheidet er sich nicht von Facebook oder Twitter.

Den Wettbewerb mit sozialen Netzwerken können Redaktionen nicht gewinnen. Sie sollten sich gar nicht erst darauf einlassen.