Vertuschung – der perfide Vorwurf, der immer funktioniert

Dass sich viele Menschen von Politik, Polizei und Medien getäuscht und bevormundet fühlen, hat sich vor allem nach den Übergriffen in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof gezeigt. Weil die Berichterstattung schleppend anlief, stand schnell der Vorwurf im Raum, die Vorfälle hätten vertuscht werden sollen. Die Polizei hat zumindest die mögliche Herkunft der Täter einige Zeit lang nicht angegeben.

Auch im Fall eines 13-jährigen Mädchens in Berlin, das laut ersten Gerüchten von mehreren Männern vergewaltigt worden sein soll, wurden die Vorwürfe der Vertuschung erhoben. Auch befeuert vom russischen Staatsfernsehen. Die Polizei sprach zwar lange von möglichen Straftaten, sah aber keine Hinweise für die behaupteten Taten und hielt sich ansonsten aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes bedeckt.

+++ Information zum Vermisstenfall einer 13-Jährigen +++In den letzten Tagen ist uns aufgefallen, dass das Interesse…

Posted by Polizei Berlin on Montag, 18. Januar 2016

Mittlerweile hat die Polizei nach eigenen Angaben ermittelt, dass das Mädchen nicht einmal freiwillig Sex gehabt hat. Die Vorwürfe, die nach dem russischen Staatsfernsehen auch der russische Außenminister Sergej Lawrow geäußert hat, stimmen offenbar nicht. Lawrow hatte seinen Ausführungen hinzugefügt, Informationen seien verschwiegen worden.

Abgesehen von der Ermittlungslage ist der Vorwurf perfide. Denn Menschen, die ihn erheben, glauben in der Regel einerseits, dass alle Fakten ermittelbar und recherchierbar sind. Andererseits erwarten sie auch, dass diese Fakten unmittelbar veröffentlicht werden können – ohne Rücksicht etwa auf das Opfer, dessen Interessen sie zu vertreten behaupten, das sie aber scheinbar nur instrumentalisieren wollen.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen kommentierte diese Phänomen des „Sofortismus“ im Interview mit dem Tagesspiegel anlässlich der Ereignisse von Köln so:

Ich glaube, dass die beschämenden, furchtbaren Attacken auf Frauen in Köln und in anderen Städten den blitzschnellen Deutungszwang unserer Tage identifizierbar gemacht haben, den kommentierenden Sofortismus. Damit meine ich – im Angesicht oft unsicherer, aber sofort verfügbarer Informationen – die Ad-hoc-Interpretation mit maximalem Wahrheitsfuror.

„Sofortismus“ heißt: Die Menschen suchen sich scheinbare Informationen, um Erklärungen zu bekommen; Fakten sind das aber nicht. In genau diese Lücke stoßen Populisten, die sich vor allem in sozialen Netzwerken zu Wort melden und von Unterdrückung von Informationen sprechen. Mit maximalem Erfolg, denn:

Der Vorwurf einer Vertuschung ist nicht zu widerlegen.

Er ist perfekt für seine Urheber. Und er funktioniert fast immer. Meiner Meinung nach oft nach folgendem Muster:

1. Die Ankläger behaupten, es gebe Fakten, die der Öffentlichkeit absichtlich verschwiegen werden.

Angenommen wird, dass diese (im Zweifel: alle) Fakten bekannt sind und bewusst zurückgehalten werden. Dass Polizei, Politikern und Journalisten nicht alle Fakten vorliegen könnten, wird grundsätzlich verworfen: Was existiert, ist auch bekannt.

2. Die Ankläger glauben, diese Fakten zu kennen.

Sie stellen keine Fragen, sondern fordern eine Bestätigung dessen, was sie annehmen. Im Fall der Übergriffe in Köln wurde gefordert, die nach Zeugenangaben nordafrikanische oder arabische Herkunft der Täter zu nennen. Ein Fakt bleibt das bis zur Ermittlung und rechtskräftigen Verurteilung der Täter nicht. Gleiches gilt für den Aufenthaltsstatus der Täter.

3. Die Ankläger akzeptieren nur die Bestätigung der eigenen Annahmen.

Wenn sich Gerüchte durch polizeiliche Ermittlungen oder journalistische Recherchen als falsch herausstellen, fühlen sich die Ankläger erst recht darin bestätigt, dass etwas vertuscht wird.

4. Es gibt nie genug Wahrheiten.

Selbst wenn die eigenen Annahmen bestätigt wurden, reicht das oft nicht. Denn es kann ja immer noch Informationen geben, die vertuscht werden. Weil man nicht beweisen kann, dass es etwas nicht gibt, bleiben die Vorwürfe bestehen.

5. Der Fokus des Vorwurfs verschiebt sich.

Selbst wenn alle Fakten offenliegen und als wahr anerkannt werden, lässt sich im Zweifel immer noch das Tempo der Aufklärung kritisieren. Dann heißt es, es sei nicht schnell genug berichtet oder ermittelt worden. Das zeigt sich auch im Fall des 13-jährigen Mädchens aus Berlin. Russlands Außenminister verlangte, früh über die Ermittlungen informiert zu werden. Offen bleibt, wann. Jeden Zeitpunkt, an dem Lawrow tatsächlich hätte informiert werden können, kann er im Nachhinein als „zu spät“ bezeichnen und noch frühere Information fordern.

Der Vorwurf der Vertuschung ist somit ein perfides Mittel, um sich im politischen Meinungskampf unangreifbar zu machen und um nicht aus der Offensive in die Defensive zu geraten.

Aber steckt dahinter nicht eher der Wunsch, in unsicheren Zeiten sofortige Gewissheit zu erlangen, wie es Pörksen im Interview mit dem Berliner Tagesspiegel beschrieb?

Hier offenbart sich ein Dilemma, dem man gar nicht entkommen kann: Ungewissheit und Unsicherheit sind in der digitalen Gesellschaft der informationstechnisch produzierte Dauerzustand – und gleichzeitig eben doch kognitiv unaushaltbar. Das macht die Haltegriffe eingeschliffener Denkweisen so attraktiv.

Und die Denkweisen werden meiner Wahrnehmung nach oft von eigenen Vorurteilen und Gerüchten genährt. Weil wir auf der Suche nach Erklärungsmustern gar nicht anders können als auf das zurückzugreifen, was wir unmittelbar verfügbar haben. Ich nehme mich da nicht aus.

Fraglich ist, wie Journalisten damit umgehen sollten. Verweigert man sich einer weitergehenden Aufklärung, weil der Fall nach journalistischen Maßstäben aufgeklärt ist, bleibt der Vertuschungsvorwurf bestehen. Genausowenig kann man aber jeder neuen Anklage nachgehen, auch wenn Journalisten möglicherweise in Zeiten wie diesen vermehrt Gerüchten hinterherrecherchieren müssen, nur um sie zu widerlegen.

Was bleibt uns außer der Gegenrede?

Wer von Vertuschung spricht, den sollte man fragen: Was soll vorgeblich vertuscht werden? Woher weißt du, was vertuscht wird, wenn es doch nicht bekannt sein kann? Welche Informationen fehlen dir? Gibt es belastbare Belege für deine Version? Wenn ja, welche? Wenn nein, warum änderst du deine Meinung nicht?

Wenn an dem Fall wirklich nichts dran ist, überzeugen wir den Ankläger im besten Fall davon. Dazu muss er aber eine Fähigkeit zeigen, die es im Netz immer seltener zu geben scheint: die Fähigkeit, seine Meinung zu ändern.