Paris und die Medien: Warum Journalisten nicht so schnell sind wie die Wirklichkeit

Noch bevor das Ausmaß der Terrorserie von Paris klar wurde, entwickelte sich besonders bei Twitter eine ausufernde Diskussion darüber, warum vor allem die ARD nicht berichtete und stattdessen weiter das Fußball-Länderspiel zwischen Frankreich und Deutschland zeigte.

Der Nachrichtenkollege Udo Stiehl, der während der Ereignisse nicht im Dienst war, hat sich schon in der Nacht seine Gedanken über „eine unerfüllbare Anspruchshaltung“ gemacht. Er gesteht den Kritikern vor allem auf Twitter zu, dass ihr Wunsch nach Berichterstattung plausibel ist, aber nicht wie erwartet erfüllt werden kann.

Weil auch Journalisten nicht an sämtlichen Orten sofort anwesend sind, weil Nachrichten erst recherchiert und dann veröffentlicht werden und weil es nichts mit Journalismus zu tun hat, ob ein Fußballspiel vorzeitig abgepfiffen wird.

Ich kann Udos Beobachtungen nur unterstreichen, auch wenn ich einräumen muss, dass ich, bevor ich in den Dienst kam, ebenfalls über das Programm im Ersten irritiert war. Das lag allerdings nicht daran, dass während des Spiels nicht über die Anschlagsserie berichtet wurde; in jedem anderen Katastrophenfall wird auch zunächst recherchiert, fahren Journalisten an die Orte der Ereignisse, werden Satellitenleitungen gebucht und Moderatoren aktiviert. Der Zuschauer bekommt das aber in der Regel nicht mit, während der „Tatort“ läuft oder die Quizshow.

Das Bizarre war in diesem Fall, dass das Ereignis nebenan passierte und sogar im Stadion hörbar war. Daraus resultierte vermutlich die Vorstellung, die Kameramänner im Stadion könnten mal eben nach draußen laufen und dort Aufnahmen machen. Allerdings ist es weder technisch noch journalistisch so ohne Weiteres möglich, von einer Fußballübertragung auf die sogenannten Elektronische Berichterstattung (EB) umzuschalten. Auch Sportjournalisten sind zwar Journalisten, aber in der Regel weder Experten für Terror noch kennen sie sich an den Orten aus, von denen sie über Fußball berichten. Zumal man ihnen aus Sicherheitsgründen auch nicht zumuten kann, an die Tatorte von laufenden Terrorangriffen zu kommen.

Im Gegensatz zu Udo war ich in der Nacht im Dienst. Für die Online-Seite des Deutschlandfunks habe ich versucht, die Entwicklungen abzubilden. Ich will seine Anmerkungen ergänzen, was ich am Mittag auch schon bei Deutschlandradio Kultur getan habe. Udo fragt:

Was wollen Sie? Gerüchte, unbestätigtes Geschwätz und nicht verifizierte Bilder aus Internet-Streams?

Twitter erweckt den Eindruck, es könnten öffentlich schon viel mehr Details über die Ereignisse bekannt sein als klassische Medien (inklusive deren Online-Ableger) es berichten. Bei Twitter waren in der Tat Augenzeugenberichte zu finden und immer wieder Links zu Periscope-Videos, die gerade live irgendwo in Paris gedreht wurden. Ich habe kurz reingesehen; mehr als Blaulichter auf Straßen in der Nacht waren kaum zu sehen, dennoch gruselte es mich. Auch wenn es Aufgabe von Journalisten ist, zu berichten, so sind wir dennoch keine Plattform für Live-Bilder von Anschlagsorten, an denen sich womöglich noch Terroristen aufhalten. Derlei Bilder verstoßen in mehrfacher Hinsicht gegen journalistische Qualitätsstandards: Die Quelle (Kameramann, Ort, womöglich auch die Zeit) ist nicht verifizierbar, bei Live-Bildern können auch mögliche Opfer ins Bild geraten, die so nicht vor Öffentlichkeit geschützt werden können – nicht auszudenken, dass Terroristen live zu sehen sind, damit eine Plattform bekommen und den Kamermann gefährden. Man darf deswegen Journalisten nicht an Periscope-Videos messen.

Udo Stiehl schreibt weiter:

Welche Vorstellungen haben Sie von unseren Mitteln? An einem späten Freitag Abend sind alle Reaktionen spärlich besetzt, sind die meisten – auch freiberuflichen – Journalisten im Feierabend. Es gibt Alarmketten, um schnellstens Kollegen zu aktivieren, aber auch das braucht ein wenig Zeit. Und die meisten Journalisten müssen nicht einmal angerufen werden, um ihre Arbeit aufzunehmen.

Tatsächlich habe ich den Kollegen im Deutschlandfunk meine Unterstützung angeboten, als deutlich wurde, dass es sich um einen Katastrophenfall handelte. Neben den DLF-Nachrichten wurde auch auf deutschlandfunk.de und über Twitter berichtet, zwischen 0 und 2 Uhr hat der DLF eine zweistündige Sondersendung mit Berichten, Korrespondentengesprächen und Interviews ausgestrahlt. Aber auch das muss erst angeleiert werden. Wir können nicht jederzeit so viele Journalisten vorhalten, wie im Katastrophenfall eingesetzt werden müssen, das wäre finanziell nicht machbar.

Wir leben in einer rasanten Medienzeit, in der jedes mittelmäßige Mobiltelefon in der Lage ist, Bilder zu streamen und Fotos zu verbreiten. Jeder kann in sozialen Medien irgendwelche Dinge verbreiten ohne Quellenangabe, ohne Verifizierung. Und auf sämtlichen Kanälen können Spekulationen stattfinden, ohne dass es Fakten bedarf.

Einige Twitter-Nutzer haben paradoxe Ansprüche: Einerseits lesen sie schnipselweise subjektive Augenzeugenberichte und unbestätigte Gerüchte, hören von unvollständigen und erklärungsbedürftigen Informationen. Einige loben Twitter deshalb als das bessere Medium. Andererseits reicht ihnen das dann allerdings nicht, und sie erwarten von Redaktionen, ihnen daraus eine plausible Berichterstattung zu entwickeln. Zurecht. Allerdings muss man uns Journalisten auch die Zeit geben, die Informationen zu prüfen, einzuordnen und die Ereignisse zu erklären. Wie Udo Stiehl schreibt:

Ohne journalistische Überprüfung, ohne redaktionelle Bearbeitung und ohne intensive Recherche ist das alles nicht mehr als Voyeurismus.

Am Ende darf man nicht vergessen, dass Twitter ein Minderheitenmedium ist. Besonders am Abend schenken viele Menschen Nachrichtenmedien nur noch wenig Aufmerksamkeit. Diejenigen vorschnell und kleckerweise zu bedienen, die ohnehin die Timeline verfolgen, ist nicht unsere Aufgabe. Es geht darum, denjenigen einen Überblick und eine Einordnung zu geben, die diese brauchen. Und das braucht Zeit. Bei allem Verständnis für Ihr Interesse: Haben Sie auch Verständnis für unsere Arbeit.

Nachtrag, 15. November, 19.50 Uhr: Über das Thema habe ich auch im Medienmagazin “Breitband” bei Deutschlandradio Kultur (hier nachhören) und bei “Markt und Medien” im Deutschlandfunk (hier nachhören) gesprochen.