„Lügenpresse“-Vorwurf: Denn sie wissen nicht, was sie tun

Ich muss mich noch mal mit dem Vorwurf der “Lügenpresse” beschäftigen. Weil er weiter stetig die Redaktionen erreicht, für die ich arbeite. Und weil er nicht weggehen wird, wenn wir Medienmacher darauf nur mit Abwehr oder Ignoranz ignorieren.

Für den Deutschlandfunk, für den ich unter anderem arbeite, hat Nachrichtenchef Marco Bertolaso aufgeschrieben, welche Vorwürfe uns dort begegnen, etwa dass das Programm wahlweise von der Bundesregierung, den Amerikanern, der EU oder „dem System“ gesteuert werde.

Der Kulminationspunkt dieser Vorwürfe ist bei einigen Menschen das Schlagwort von der „Lügenpresse“. Meine Reaktion ist ein tiefer Seufzer. Dann die Bitte um differenziertere Kritik, mit der wir etwas anfangen können. Auch die Bitte um gedanklich-rhetorische Abrüstung.

So sehr ich diesen Aufruf unterstütze, wird er doch vom harten Kern der Anhänger dieser These vermutlich nicht gehört werden. Das zeigen schon viele Kommentare zu diesem Artikel bei Facebook. Wer davon ausgeht, dass nichts von dem, was wir berichten, wahr ist, sieht keinerlei Veranlassung, differenziert zu kritisieren; vor allem sieht er in der Regel auch keine Veranlassung, Belege für eigene Behauptungen vorzulegen, argumentiert gerne mit dem Gefühl oder einer unbelegten Meinung wie „Die Mehrheit der Deutschen ist gegen Flüchtlinge“ oder knapper „Wir sind das Volk“.

Ob es nun 20 oder 44 Prozent „der Deutschen“ sind, die den „Lügenpresse”-Vorwurf teilen, wie zwei Umfragen in der vorigen Woche abweichend voneinander behaupten, lasse ich mal dahingestellt sein. Sicher ist, dass es zu viele sind, die davon ausgehen, dass jede von uns verbreitete Information im Kern bewusst falsch ist.

Und in gewisser Weise kann man es ihnen nicht verdenken. Denn sie wissen nicht, was sie tun.

Wir wissen nicht länger exklusiv

In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Situation von Journalisten extrem stark verändert. Beispiel Bundespolitik. Damals hatten Bürger kaum die Möglichkeit, eine Bundestagssitzung persönlich zu besuchen, sie wurden nicht zu Pressekonferenzen eingeladen, kamen nur umständlich in Kontakt mit Bundestagsabgeordneten, Vereinen, Verbänden, Gewerkschaften. Alle diese Quellen waren mehr oder weniger exklusiv Journalisten zugänglich, ihrer Einschätzung vertrauten viele Mediennutzer schon deswegen, weil sie es selbst nicht besser wussten. Nicht besser wissen konnten. Die Arbeit von Journalisten war nur schwierig zu überprüfen.

Das ist heute anders. Jeder Bürger hat die Möglichkeit, die öffentlichen Quellen von Journalisten selbst zu prüfen. Fernsehsender wie Phoenix und auch der Bundestag selbst (im Internet) übertragen alle Bundestagssitzungen in voller Länge (und machen sie dauerhaft abrufbar), Gesetzesvorlagen und Sitzungsprotokolle sind verfügbar. Jedes Ministerium, jede Fraktion stellt eigene Pressemitteilungen bereit, viele Abgeordnete sind per Mail und über soziale Medien erreichbar, der Regierungssprecher twittert, die Bundesregierung ist bei Facebook. Einen solch umfassenden Zugang zu Informationen hatten Bürger noch nie. Damit ist die Arbeit von Journalisten relativ leicht überprüfbar.

So weit, so gut. Das Aufkommen des Internets hat allerdings auch eine Kehrseite: Im Netz sind auch massenweise Texte zu finden, die keinerlei faktische Grundlage haben. Die Meinungen wiedergeben, als Tatsachen maskiert. Die Zusammenhänge falsch herstellen – bewusst oder mangels besseren Wissens – die entscheidende Informationen weglassen, die plausible und naheliegende Erklärungen für wenig wahrscheinlich erachten. Es sind nicht alles Verschwörungstheorien, aber sie sind auch dabei. Es sind Nicht-Informationen, teils gezielte Desinformationen.

Diese gab es auch früher schon, aber kaum die Möglichkeit, sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Journalisten waren in aller Regel in der Lage, damit umzugehen: die Informationen einzuschätzen, zu hinterfragen, zu prüfen, zu gewichten und zu veröffentlichen, auch wenn es dabei freilich eklatante Fehlgriffe gab, etwa die Hitler-Tagebücher, um nur einen zu nennen.

Für viele Bürger stehen diese zwei Arten von Quellen heute gleichberechtigt nebeneinander: Informationen und Nicht-Informationen. Wenn letztere in sich einigermaßen schlüssig sind, wenn sie eigene Meinungen stützen und ins Weltbild passen, sprechen Nutzer ihnen dieselbe Plausibilität zu wie den Quellen, die Journalisten als seriös erachten. Sie haben den Eindruck, sie könnten eine Situation genauso gut einschätzen wie ein Journalist, und zweifeln daran, wenn sie ihre Einschätzung nicht wiederfinden. Konsequenz: der Vorwurf „Lügenpresse“.

Was uns bleibt

Der entscheidende Unterschied zwischen Journalisten und Nicht-Journalisten liegt meiner Meinung nach für einen Großteil dessen, worüber wir tagtäglich berichten, nicht mehr im Zugang zu Informationen, sondern in der Fähigkeit, diese zu interpretieren und in Zusammenhang zu setzen. Denn „die Wahrheit“, wie sie als Ideal den Anhängern des „Lügenpresse“-Vorwurfs vorschwebt, existiert in dieser Absolutheit nicht. Sicherlich gibt es so etwas wie unwiderlegbare Fakten, etwa die Zahl von Todesopfern bei einem Flugzeugabsturz, aber auch Unwägbarkeiten, etwa die Ursache für den Absturz, die eben nicht immer eindeutig benannt werden kann. Auf der Suche nach „der Wahrheit“ zeigen sich Bürger dann Nicht-Informationen gegenüber aufgeschlossen, besonders denen gegenüber, die solche Wahrheiten eindeutig behaupten.

(Hoffentlich die meisten) Journalisten können aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung größere Zusammenhänge herstellen. Sie können Fakten gewichten, die Bedeutung von Akteuren und deren Einfluss in entscheidenden Gremien einschätzen, sie kennen gängige Missverständnisse in der öffentlichen Wahrnehmung, wissen um die (auch historische) Bedeutung von Sprache und Begriffen und können beides deshalb richtig verwenden. Dabei haben sie schon dadurch den meisten Lesern, Hörern und Zuschauern gegenüber einen Vorteil, weil sie sich meist hauptberuflich und kontinuierlich mit einem Thema beschäftigen. Ich weiß, das ist der Idealfall. Aber all das sollte sie jedenfalls in die Lage versetzen, Ereignisse möglichst wahrheitsgemäß darzustellen.

Was wir tun können

Wir sollten aber zusätzlich mehr und mehr versuchen, unsere Arbeit transparent zu machen. Welche Quellen liegen ihr zugrunde (eigentlich schon immer ein Standard), wie wurden sie gewichtet und warum, welchen Hintergrund haben Informationsgeber und Gesprächspartner? Auch: Was wissen wir nicht? Welche Fragen bleiben offen? Wie gehen wir weiter vor? Aber vor allem: Womit lagen wir falsch und warum? Auch der Dialog darüber mit unseren Lesern, Hörern und Zuschauern sollte öffentlich sein – mit der Bereitschaft, sich auf Argumente einzulassen, aber auch mit dem Recht, von den Nutzern Belege für ihre Argumente zu fordern. Nur so können wir dem zunehmenden Misstrauen begegnen.

MDR-Intendantin Karola Wille hat für ihr Haus bereits eine Transparenzoffensive ausgerufen, die in diese Richtung geht:

Glaubwürdiger Journalismus und Transparenz stehen zunehmend im Zusammenhang. Es gilt, die Vielfalt der Meinungen abzubilden, ausgewogen und umfassend die Dinge darzustellen, sorgfältig zu recherchieren, wahrheitsgemäß und sachkundig zu berichten und einzuordnen. Dabei kann Glaubwürdigkeit auch durch journalistische Transparenz gewonnen werden: dem transparenten Umgang mit Quellenangaben, mit Rechercheständen und auch mit Fehlern beispielsweise in der Berichterstattung. Das setzt kritische Selbstreflexion voraus und auch das Führen eines offenen Dialogs mit den Bürgern.

Viele Redaktionen glauben derzeit noch nicht, dass das ihre Aufgabe ist. Sie sehen es als Problem ihrer Leser, Hörer und Zuschauer, dass sie ihnen nicht mehr vertrauen. Tatsächlich kann man den Redaktionen im Großen und Ganzen nicht vorwerfen, dass sie an der Entwicklung der letzten zwanzig Jahre schuld sind. Das ändert jedoch in der Wahrnehmung der „Lügenpresse”-Rufer genau: gar nichts. Wollen wir Journalisten wieder Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, müssen wir erklären, was wir tun, wie wir es tun und warum. Dazu gehört auch, Fehler einzugestehen. Denn Journalisten machen Fehler. Wie alle Menschen. Aber unsere kommen raus, denn das Wesen unserer Arbeit ist es, dass sie öffentlich ist. Den harten Kern der Verschwörungstheoretiker werden wir nicht verändern. Aber wir können erreichen, dass sie immer mehr Schwierigkeiten bekommen, ihre Vorwürfe zu belegen und andere damit auf ihre Seite zu ziehen.

Offenlegung: Ich arbeite als freier Mitarbeiter unter anderem für die Nachrichten- und Onlineredaktion des Deutschlandfunks.

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